Wahl und Demokratie

Die »größte Demokratie der Welt« stürzt sich, ohne viel Aufsehen zu erregen, in eine weltweite Treibjagd auf einen ihrer Angestellten, Edward Snowden, der auf die schlechte Idee gekommen ist, ihr Programm der umfassenden Kommunikationsüberwachung zu enthüllen. Faktisch sind die meisten unserer schönen westlichen Demokratien hemmungslose Polizeiregime geworden, während die meisten Polizeiregime dieser Zeit stolz die Fahne der »Demokratie« hissen. Niemand hat allzu sehr Anstoß daran genommen, dass ein Regierungschef wie Papandreou fristlos entlassen wurde, weil er auf die fürwahr horrende Idee gekommen ist, den Wählern die Politik seines Landes, d. h. die Politik der Troika zur Abstimmung vorzulegen. In Europa ist es übrigens mittlerweile gang und gäbe, Wahlen auszusetzen, solange man einen unkontrollierbaren Ausgang erwartet; oder die Bürger noch einmal wählen zu lassen, wenn das Abstimmungsergebnis nicht den Erwartungen der Europäischen Kommission entspricht. Die Demokraten der »freien Welt«, die sich vor zwanzig  Jahren aufplusterten, müssen sich die Haare raufen. Ist bekannt, dass Google, als ruchbar wurde, dass sich die Firma am Spionageprogramm Prism beteiligt, so weit ging, Henry Kissinger einzuladen, um ihren Angestellten zu versichern, dass es keinen anderen Weg gebe und unsere
»Freiheit« diesen Preis erfordere? Es ist ja doch kurios, sich vorzustellen, wie der Mann, der im Lateinamerika der 1970er Jahre für alle faschistischen Staatsstreiche verantwortlich war, vor so coolen, »unschuldigen«, »unpolitischen« Angestellten wie denen im Firmensitz von Google in Silicon Valley über Demokratie räsoniert.

Man erinnert sich an Rousseaus Satz im Gesellschaftsvertrag: »Wenn es ein Volk aus Göttern gäbe, so würde es sich demokratisch regieren; für Menschen aber schickt eine so vollkommene Regierungsform sich nicht.« Oder jenen zynischeren von Rivarol: »Es gibt zwei Wahrheiten, die sich in dieser Welt niemals trennen lassen: Die erste Wahrheit ist, dass die Souveränität beim Volke liegt, und die zweite Wahrheit ist, dass das Volk die Souveränität niemals ausübt.« Edward Bernays, Begründer der Public Relations, begann das erste Kapitel seines Buchs Propaganda mit dem Titel »Die Ordnung des Chaos« wie folgt: »Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wichtiger Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Organisationen, die im Verborgenen arbeiten, lenken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie sind die eigentlichen Regierungen in unserem Land.« Das war 1928. Was man im Grunde meint, wenn man von Demokratie spricht, ist die Identität zwischen Regierenden und Regierten, durch welche Mittel auch immer diese Identität erreicht wird. Daher die grassierende Heuchelei und Hysterie, die unsere Breitengrade heimsucht. In der demokratischen
Staatsform regiert man, ohne allzu sehr diesen Anschein zu erwecken; die Herren schmücken sich mit den Attributen von Sklaven und die Sklaven glauben, Herren zu sein. Die einen üben die Macht im Namen der glücklichen Massen aus und sind zu permanenter Heuchelei gezwungen; die anderen geraten in Hysterie bei dem Glauben, über reale »Kaufkraft«, »Rechte« und eine »Meinung« zu verfügen, auf der das ganze Jahr über herumgetrampelt wird. Und weil die Heuchelei die bürgerliche Tugend schlechthin ist, haftet der Demokratie immer etwas hoffnungslos Bürgerliches an. In diesem Punkt lässt sich das Gefühl des Volkes nicht täuschen.

Ob man nun Demokrat vom Format eines Obamas oder grimmiger Anhänger von Arbeiterräten ist und wie auch immer man sich die »Regierung des Volkes durch sich selbst« vorstellt: Was die Frage der Demokratie immer verschleiert, ist die Frage der Regierung. Ihr Postulat und Ungedachtes ist immer: Es braucht eine Regierung. Regieren ist eine ganz bestimmte Form der Machtausübung. Regieren bedeutet nicht, einem Körper Disziplin aufzuzwingen oder das Gesetz in einem Gebiet durchzusetzen, auch wenn man die Zuwiderhandelnden dann foltern muss wie im Ancien Régime. Ein König herrscht. Ein General kommandiert. Ein Richter richtet. Regieren ist etwas anderes. Es bedeutet, die Verhaltensweisen einer Bevölkerung, einer Vielheit zu lenken, über die man wachen muss wie ein Schäfer über seine Herde, um das Potenzial zu maximieren und der Freiheit eine Richtung zu geben. Es bedeutet also, ihre Wünsche, ihr Funktionieren und Denken, ihre Gewohnheiten, Befürchtungen, Veranlagungen und ihr Umfeld zu berücksichtigen und zu formen. Es bedeutet, feinfühlig auf die Emotionen der Bevölkerung, ihre mysteriösen Schwankungen achtend, eine Fülle an – diskursiven, polizeilichen, materiellen – Taktiken zu entfalten; es bedeutet, sein Handeln in ständiger Sensibilität für die jeweilige affektive und politische Stimmungslage so abzustimmen, dass Unruhen und Aufruhr verhindert werden. Auf das Umfeld einwirken und kontinuierlich seine Variablen zu verändern, auf die einen einwirken, um die Verhaltensweise der anderen zu beeinflussen, die Herrschaft über die Herde zu behalten. Alles in allem bedeutet es, auf nahezu allen Ebenen, auf denen sich die menschliche Existenz abspielt, einen Krieg zu führen, der jedoch nie so genannt wird und als solcher nicht in Erscheinung tritt. Einen subtilen, psychologischen, indirekten Krieg um Einfluss.

Was sich im Westen seit dem 17. Jahrhundert unaufhaltsam entfaltet, ist nicht die Staatsmacht, sondern, vermittels der Errichtung von Nationalstaaten und heute durch deren Ruin, die Regierung als spezifische Herrschaftsform. Wenn man heute bedenkenlos den alten, starren Überbau der Nationalstaaten zusammenbrechen lässt, dann gerade deshalb, weil er dieser vielzitierten glatten, plastischen, informellen, taoistischen »Gouvernanz« Platz machen muss, die sich allenthalben durchsetzt, vom Selbstmanagement über Beziehungen und Städte bis in die Unternehmen. Wir
Revolutionäre können uns des Gefühls nicht erwehren, dass wir, eine nach der anderen, jede Schlacht verlieren, weil sie auf einer Ebene geführt werden, zu der wir noch immer keinen Zugang gefunden haben, weil wir unsere Kräfte um bereits verlorene Standpunkte bündeln, weil die Angriffe dort geführt werden, wo wir uns nicht verteidigen. Das rührt weitgehend daher, dass wir uns die Macht noch in der Gestalt des Staates, des Gesetzes, der Disziplin, der Souveränität vorstellen, wo sie doch unaufhaltsam als Regierung weiter voranschreitet. Wir suchen die Macht im
festen Zustand, wo sie doch schon lange in einen flüssigen, wenn nicht gasförmigen Zustand übergegangen ist. Aus Verzweiflung beginnen wir alles verdächtig zu finden, was noch eine präzise Form hat – Gewohnheiten, Anhänglichkeiten, Verankerung, Können oder Logik –, während sich die Macht eher in der unablässigen Auflösung jeder Form äußert.

Die Wahlen haben nichts speziell Demokratisches an sich: Könige wurden lange Zeit gewählt, und nur wenige Autokraten lassen es sich entgehen, von Zeit zu Zeit eine Volksabstimmung zu veranstalten. Wenn Wahlen demokratisch sind, dann nicht, weil sie es möglich machen, eine Beteiligung der Menschen an der Regierung zu gewährleisten, sondern vielmehr, weil sie eine gewisse Zustimmung zu dieser ermöglichen, weil sie die Illusion nähren, sie ein wenig gewählt zu haben. »So ist die Demokratie das Wesen aller Staatsverfassung«, schrieb Marx. Er täuschte sich. Die Demokratie ist das Wesen aller Regierungsformen. Die Identität von Regierendem und Regiertem ist das äußerste Limit, an dem die Herde kollektiver Hirte wird und der Hirte in seiner Herde aufgeht, wo die Freiheit mit Gehorsam zusammenfällt und die Bevölkerung mit dem Souverän. Das gegenseitige Aufgehen von Regierendem und Regiertem ist Regierung im Reinzustand, die keinerlei Form noch Grenze mehr kennt. Nicht zufällig beginnt man nun, über die Liquid Democracy (Flüssige Demokratie) zu theoretisieren. Denn jede feste Form bildet ein Hindernis für die Ausübung der reinen Regierung. In der großen Bewegung allgemeiner Verflüssigung gibt es kein Widerlager, es gibt nur Abschnitte auf einer Asymptote. Je flüssiger, desto regierbarer; und je regierbarer, desto demokratischer. Der metropolitane Single ist natürlich demokratischer als ein verheiratetes Paar, das wiederum demokratischer ist als der Familienclan, der wiederum demokratischer ist als der Mafiastadtteil.

Wer die Rechtsformen für eine definitive Errungenschaft der Demokratie hielt und nicht für eine transitorische Form, die allmählich überwunden wird, sieht sich getäuscht. Mittlerweile stellen sie ein formelles Hindernis für die Beseitigung der »feindlichen Kämpfer« gegen die Demokratie wie für die unentwegte Umstrukturierung der Wirtschaft dar. Vom Italien der 1970er Jahre bis zu Obamas Dirty Wars ist Terrorismusbekämpfung nicht ein bedauerlicher Verstoß gegen unsere schönen demokratischen Prinzipien, eine unbedeutende Ausnahme davon, sondern der stetige konstituierende Akt zeitgenössischer Demokratien. Die Vereinigten Staaten erstellen eine Liste mit 680 000 Namen von »Terroristen« weltweit und unterhalten ein Korps von 25 000 Personen, die JSOC, die in völliger Intransparenz damit beauftragt sind, irgendwen irgendwann irgendwo auf der Erdoberfläche zu töten. Mit ihrer Flotte an Drohnen, die es mit der exakten Identität derer, die sie zerfetzen, nicht allzu genau nehmen, haben die außergerichtlichen Tötungen die außergerichtlichen Verfahren nach Art von Guantanamo abgelöst. Wer sich darüber entrüstet, versteht schlicht nicht, was demokratisch regieren bedeutet, sondern ist in der letzten Phase steckengeblieben, als der moderne Staat noch die Sprache des Gesetzes sprach.

In Brasilien werden im Namen der Terrorbekämpfung junge Menschen verhaftet, deren Vergehen darin besteht, dass sie eine Demonstration gegen die Fußball-WM organisieren wollten. In Italien werden vier Genossen als »Terroristen« verhaftet, mit der Begründung, ein Angriff auf eine Baustelle des Hochgeschwindigkeitszugs TAV, bei dem ein Kompressor abgebrannt wurde und zu dem sich die Bewegung als Ganzes bekannt hat, habe dem »Image« des Landes schweren Schaden zugefügt. Diese Beispiele genügen, das Ereignis ist universell: Allmählich wird alles, was sich den Machenschaften der Regierungen widersetzt, als »terroristisch« behandelt. Ein liberaler Geist könnte darüber besorgt sein, dass die Regierungen ihre demokratische Legitimität langsam untergraben. Doch weit gefehlt: Sie gestalten sie damit nur um. Zumindest wenn die Operation gelingt, wenn sie die Gemüter sorgfältig genug erkundet und das Terrain der Empfindlichkeiten bereitet haben. Denn wenn Ben Ali und Mubarak die Massen auf den Straßen als Terroristenbanden beschimpfen und das nicht greift, wendet sich der Versuch der Umgestaltung gegen sie selbst; ihr Scheitern entzieht ihnen den Boden der Legitimität; so strampeln sie im Leeren, und alle können es sehen; ihr Sturz steht unmittelbar bevor. Die Operation entpuppt sich erst im Moment ihres Scheiterns als das, was sie ist.

 

Aus: An unsere Freunde

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