Wishful Thinking

Intelligenz ist eine moralische Kategorie. Die Trennung von Gefühl und Verstand, die es möglich macht, den Dummkopf frei und selig zu sprechen, hypostasiert die historisch zustandegekommene Aufspaltung des Menschen nach Funktionen. Im Lob der Einfalt schwingt die Sorge darum mit, daß nur ja das Getrennte nicht zueinander finde und das Unwesen stürze. »Hast du Verstand und ein Herz«, lautet ein Distichon Hölderlins, »so zeige nur eines von beiden, / Beides verdammen sie dir, zeigest du beides zugleich.« Die Schmähung des beschränkten Verstandes im Vergleich mit der unendlichen, aber als unendliche dem endlichen Subjekt stets zugleich unerforschlichen Vernunft, von der die Philosophie widerhallt, klingt trotz ihres kritischen Rechts an die Weise: »Üb immer Treu und Redlichkeit« an. Wenn Hegel dem Verstand seine Dummheit demonstriert, so bringt er dabei nicht bloß die isolierte Reflexionsbestimmung, den Positivismus jeden Namens, auf ihr Maß an Unwahrheit, sondern wird zum Mitschuldigen am Denkverbot, beschneidet die negative Arbeit des Begriffs, welche die Methode selbst zu leisten beansprucht, und beschwört auf der höchsten Höhe der Spekulation den protestantischen Pfarrer, der seiner Herde empfiehlt, es zu bleiben, anstatt auf ihr schwaches Licht sich zu verlassen. Vielmehr wäre es an der Philosophie, im Gegensatz von Gefühl und Verstand deren Einheit aufzusuchen: eben die moralische. Intelligenz, als Kraft des Urteils, widersetzt sich in dessen Vollzug dem je Vorgegebenen, indem sie es zugleich ausdrückt. Das Vermögen des gegen die Triebregung sich abdichtenden Urteilens gerade wird ihr gerecht durch ein Moment des Gegendrucks gegen den gesellschaftlichen. Urteilskraft mißt sich an der Festigkeit des Ichs. Damit aber auch an jener Dynamik der Triebe, welche von der Arbeitsteilung der Seele dem Gefühl überantwortet wird. Instinkt, der Wille standzuhalten, ist ein Sinnesimplikat der Logik. Indem in ihr das urteilende Subjekt an sich vergißt, unbestechlich sich zeigt, erficht es seine Siege. Wie dagegen im engsten Umkreis Menschen dort verdummen, wo ihr Interesse anfängt, und dann ihr Ressentiment gegen das kehren, was sie nicht verstehen wollen, weil sie es allzu gut verstehen könnten, so ist noch die planetarische Dummheit, welche die gegenwärtige Welt daran verhindert, den Aberwitz ihrer eigenen Einrichtung zu sehen, das Produkt des unsublimierten, unaufgehobenen Interesses der Herrschenden. Kurzfristig und doch unaufhaltsam verhärtet es sich zum anonymen Schema des geschichtlichen Ablaufs. Dem entspricht die Dummheit und Verstocktheit des Einzelnen; Unfähigkeit, die Macht von Vorurteil und Betrieb bewußt zu vereinen. Sie findet mit dem moralisch Defekten, dem Mangel an Autonomie und Verantwortung regelmäßig sich zusammen, während so viel zutrifft am Sokratischen Rationalismus, daß man einen ernsthaft klugen Menschen, dessen Gedanken auf Gegenstände gerichtet sind und nicht formalistisch in sich kreisen, kaum je als Bösen sich vorstellen kann. Denn die Motivation des Bösen, blinde Befangenheit in der Zufälligkeit des Eigenen, tendiert dazu, im Medium des Gedankens zu zergehen. Schelers Satz, alle Erkenntnis sei in Liebe fundiert, war Lüge, weil er unmittelbar die Liebe zum Angeschauten verlangte. Aber er würde zur Wahrheit, wenn Liebe zur Auflösung allen Scheins von Unmittelbarkeit drängte und damit freilich unversöhnlich würde mit dem Gegenstand der Erkenntnis. Gegen die Abspaltung des Gedankens hilft nicht die Synthese der einander entfremdeten psychischen Ressorts, nicht die therapeutische Versetzung der ratio mit irrationalen Fermenten, sondern die Selbstbesinnung auf das Element des Wunsches, das antithetisch Denken als Denken konstituiert. Erst wenn jenes Element rein, ohne heteronomen Rest in die Objektivität des Gedankens aufgelöst wird, treibt es zur Utopie.

Aus: Minima Moralia

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