Wie das über’s Land kam

Wie konnte aus allgemeiner Verunsicherung politische Macht entstehen?

Die Frage, die man sich jetzt allerorts stellt, ratlos hier und hinterlistig da, hat wenigstens im politischen Lied vergangener Zeit eine klare Antwort: „Frag den Mittelstand. Frag den Mittelstand“.

Im Ernst: Seit geraumer Zeit herrscht Übereinstimmung, dass Pegida und AfD ihren Zulauf nicht so sehr von der Seite der „Verlierer“ und der „Opfer“ des immer noch brutaler werdenden Wettbewerbs um Arbeit und Leben, als vielmehr von einer „verunsicherten Mittelschicht“ erhält. Allgemein gesprochen von Leuten, denen es real noch ziemlich gut geht, für sich genommen und natürlich noch mehr im internationalen Vergleich, denen es unser Staat auch nicht allzu schwer macht, sich mit den Verhältnissen einzurichten, Sozialabbau hin und Nullzinsen auf der Bank her, und die obendrein von den Problemen, die sie so lauthals formulieren, in aller Regel am wenigsten betroffen sind. Gleichzeitig aber scheinen sich Soziologen und Journalisten ein ziemlich genaues Bild von dieser offenbar ideologisch ziemlich anfälligen Schicht zu machen.

Er steht förmlich vor uns, der verunsicherte Mittelständler, der gerade von einer Kreuzfahrt nach Hause kommt, den Rasen gemäht und den Fernsehapparat eingeschaltet hat, und dann zu dem Ergebnis kommt, dass alle ihm was wegnehmen wollen. Die Banken, der Staat, die Merkel, die da in Brüssel, die Sozialschmarotzer, die Hartz IV-Betrüger und vor allem natürlich: die Flüchtlinge. Dann macht der verunsicherte Mittelständler sein Bier auf und sein Wahlkreuz bei der AfD. Was hat er geschafft? Gleich drei Sachen auf einmal: Er, der Halbgewinner, hat sich als Opfer inszeniert. Er fühlt sich als Mittelschichtler verdrängt und erfindet sich als Volk und Nation neu. Er übt auf das „Establishment“ einen enormen Druck aus: Man soll gefälligst seine Sorgen und Ängste ernst nehmen (was pflichtschuldigst in der nächsten Talk Show von allen Parteien erledigt wird), man soll gefälligst ihm nicht nehmen sondern geben, mehr vom Kuchen will er haben. Er verlangt, dass ihm vorgeführt wird, dass der Staat die anderen schlechter behandelt als ihn selbst. Wer sich zur Mittelschicht zählen will, der muss das genießen, dass man die da unten, in den Jobcentern und auf den Wohnungsämtern, so drastisch mies behandelt. Anderswo würde man so was vielleicht sogar Erpressung nennen: Wenn die Demokratie uns Mittelschichtlern unsere Privilegien nehmen will, dann werden wir aber sowas von populistisch Krawall machen. Und plötzlich fühlt er sich wieder unter sich, der Mittelschichtler, der gerade drauf und dran war, nicht mehr zu wissen, was das eigentlich ist: die Mitte. Wo doch alle in die Mitte wollen. Aus seiner Verunsicherung ist „Identität“ geworden, aus seiner Kränkung eine neue politische Macht. Und dann wird eben das alte Lied (siehe oben) wieder gesungen, oder?

Dies alles nur um zu erklären: Der frustrierte Mittelschichtler ist genau so ein Klischee wie der deutsche Arbeitslose, der nicht zum Angeln, sondern zu den Nazis geht. Und genau so ist an dem Klischee auch was dran. Denn vielleicht fängt das ja alles schon damit an, dass eben eine Mittelschicht, die Mitte des Volkes oder der Gesellschaft, die Mitte des Einkommens und die Mitte von Bildung und Verblödung, zum eigentlichen Adressaten der demokratischen Politik gemacht wurde. Die Mittelschicht wurde in den Rang des historischen und für eine Zeit auch des posthistorischen Subjekts erhoben. Soziale Marktwirtschaft hieß einfach: Politik für die Mittelschicht. Und das kleine Versprechen war: Wer sich anstrengt, kann von unten in die Mittelschicht kommen, und Unternehmer, Politiker und Bankiers sind eigentlich auch nur Mittelschichtler mit viel Geld. Das große Versprechen aber war: Der Mittelschicht wird es nie schlechter, immer nur besser gehen. Und sie wird nicht nur ökonomisch sondern auch ideell belohnt, sie darf Geschmack, Empfindung, Mythos vorgeben – oder wenigstens sollen das die Medien tun, die direkt oder indirekt „Mittelschicht“ adressieren. Kurz gesagt: Mittelschicht wurde nicht nur zum ökonomischen Ideal des Wohlfühlkapitalismus, sondern auch kulturell und medial erzeugt.

Der Haken an einer Mittelschicht ist, dass sie sich irgendwie definieren muss. Wenn ich zur Mitte gehören will, dann muss es eine Grenze nach unten und eine Grenze nach oben geben. Mein Staat und meine Gesellschaft sind so gut, als dass sie meinen Abstieg nach unten verhindern. Allerdings soll eben gerade nicht jeder andere in meine Mittelschicht kommen können, sonst wäre es ja keine Mitte mehr. Und nach oben will ich gar nicht weiter gelangen, denn da wird es kalt und gefährlich. Die Mittelschicht im Nachkriegsdeutschland machte einen großen inoffiziellen Deal: Wir begnügen uns mit einem schönen, aber am Ende auch bescheidenen Anteil am Reichtum im Austausch gegen (soziale, ökonomische, kulturelle) Sicherheit. Die Reichen in der populären Kultur der Mittelschichtsrepublik BRD wurden nie glücklich, wirklich nicht.

Mittelschicht also heißt: Einen mehr oder weniger gesicherten Platz innezuhaben, der genau abgegrenzt ist nach unten und nach oben, im eigenen Rahmen aber durchaus vielfältig. Das Ideal eines friedlichen, prosperierenden, ewig produzierenden und konsumierenden Staates ist erreicht, wenn die politische, die kulturelle und die ökonomische Definition von Mittelschicht eine Balance gefunden haben. Niemals zuvor, und wir ahnen es, niemals nachher – nach dem Siegeszug des Neoliberalismus, um genau zu sein – ging es dieser Mittelschicht so gut, niemals konnte sie sogar sicher sein, dass es auch noch immer besser gehen würde. Und damit steuerte die Mittelschicht dem „Wohlfühlkapitalismus“ zwei nur scheinbar konträre, lebenswichtige Energien bei: Stabilität und Dynamik. Die Mittelschicht sorgte als Produzent und beinahe noch mehr als Konsument für Wachstum, und sie sorgte in Form von ausgewogenen Verhältnissen zwischen dem Konservativen, dem Liberalen und dem Sozialdemokratischen für demokratische Stabilität. Der Mittelschicht gehörten die Schwimmbäder, die Museen, die Schulen, die Öffentlichkeit. Und der Mittelschicht gehörte die Zukunft. Bis …

Es kamen die ersten Krisen. Die Abgrenzung nach unten wurde problematisch, Sicherheit war nicht mehr selbstverständlich zu haben, die Abgrenzung nach oben war nicht mehr erwünscht, der selbstoptimierte Mittelschichtler hätte freie Bahn zur Karriere, auch wenn die aus der Sicherheits- und Wohlfühlzone seiner Eltern und seines Milieus hinaus führte; der erfolgreiche Mensch im Neoliberalismus gehört keiner Schicht an, sondern ist das ökonomische Subjekt seiner Karriere! Der Deal war geplatzt. Die Mittelschicht wurde keineswegs ökonomisch abgeschafft, wohl aber politisch und kulturell. Die Schwimmbäder, Museen und Fernsehprogramme, die der Mittelschicht die eigene Welt bedeutet hatten, verschwanden, an ihre Stelle traten Erlebniswasserparks, Blockbuster-Ausstellungen und Reality Soaps. Und alle Politik war nur Gebrabbel von einer Mitte, in die alle wollen, sogar die Nazis, und die Sozis sowieso. Und die es immer weniger gab.

Die Mittelschicht hatte ihre Schuldigkeit getan (einschließlich der Schuldigkeit gewisser durchaus heftiger Modernisierungen, was, nur zum Beispiel, Sexualität, Familie, Freizeit und Dresscode anbelangt), die Mittelschicht konnte gehen. Das Kapital jedenfalls wollte woanders hin. Und die Politik folgt bekanntlich dem Kapital. Es gab also im Grunde nur zwei Möglichkeiten, nämlich entweder das Konzept Mittelschicht einfach aufzugeben zugunsten einer durchlässigen marktförmigen Gesellschaft, in der sich jede und jeder seinen Platz erkämpfen muss, abgesehen natürlich von denen, die schon immer unten waren und dort auch bleiben müssen, und abgesehen von denen, die schon immer oben waren und jetzt natürlich noch viel obener. Aber das Konzept Mittelschicht aufzugeben, das, wie bemerkt, ja ohnehin kein moralisch gutes sein konnte, weil es immer „die anderen“ braucht, die nicht dazu gehören, die ausgegrenzt und ungehört bleiben sollen, bedeutet ja auch, Ansprüche aufzugeben, nach außen die Ansprüche nach der gewohnten staatlichen Privilegierung und Sicherung (riskieren wir übrigens für einen Augenblick, uns die DDR eben nicht als einen Staat der Arbeiter und Bauern, sondern einen Staat des gleichschalteten Mittelstandes vorzustellen), nach innen die Ansprüche an die Verlässlichkeit von Familie, Vorsorge und bescheidenem Eigentum. Die zweite Möglichkeit war das genaue Gegenteil: Die ökonomische Mittelschicht, die sich politisch und kulturell entwertet sah (natürlich waren die Verlockungen der neoliberalen Welt groß genug, nach Kräften selber an dieser Entwertung mit zu arbeiten) musste eine neue Identität finden, nachdem der Pakt mit der „ausgewogenen“ oder einfach selbstverständlichen Demokratie aufgekündigt war. Die ökonomisch und kulturell verlorene Mittelschicht musst sich sozusagen „künstlich“ noch einmal identifizieren. Die Mittelschicht, also der Zusammenhang jener Menschen, die sich selber so definiert, als abgegrenzt nach oben wie nach unten, erfand sich für einen wachsenden Teil der historischen Konkursmasse daher als „deutsches Volk“ neu. Und die Mainstream-Politiker, gewöhnt, die Mittelschicht wenigstens rhetorisch zu bedienen, sie liefert schließlich immer noch die Legitimation für das ganze, kommen auch dieser neuen Variante entgegen, die einen mehr, die anderen weniger. Was aber, wenn der Teil der Mittelschicht, die um der eigenen Privilegien und der eigenen „Identität“ willen, Pegida und AfD bildete, seinerseits längst mit dem Konzept der liberalen Demokratie gebrochen hätte? Nicht aus Verblendung, nicht aus ideologischer Indoktrination, nicht aus Angst, sondern aus sehr deutlichen materiellen Interessen heraus: Wenn die Demokratie dieser (der geschrumpften, der radikalisierten, der militanten) Mittelschicht nicht dienen will, dann will diese Mittelschicht auch nicht mehr dieser Demokratie dienen. Die einen machen das sehr laut, lustvoll Hass auf Sündenböcke leitend und die eigene Bewegung verstärkend, durch den Genuss der leichten Triumphe, die anderen aber unsichtbar, privatistisch, verbittert oder vergnügt „entpolitisiert“ oder korrupt.

Übrigens begreifen wir vielleicht hier auch die Schlüsselfunktion des Merkel-Satzes „Wir schaffen das!“. Wer ihn akzeptierte fühlt sich nicht nur verpflichtet, sonder vor allem in seiner Opferrolle gekränkt. Der Satz ist nicht bloß moralischer Appell – er könnte, hätte ihn eine Mehrheit angenommen, sogar zum gesellschaftsbildenden Programm werden – sondern eine unbewusste (?) Kampfansage an die Kultur der Gekränktheit der militanten, rechten deutschen Mittelschichtsrekonstruktion. Das „Wir“ des Angela Merkel-Satzes darf nicht mehr existieren, weil es die Grundlage der ideologischen Mitte negiert; die Grenze.

Das alles ist natürlich nur eine Geschichte, eine Karikatur vielleicht. Die wahren Verhältnisse sind wieder mal viel, viel komplizierter, und sie werden es noch desto mehr, je genauer man sie ansieht. Und es ist keine Entschuldigung, nicht einmal eine „Erklärung“, dass ein Mensch, der seinen Mittelschicht-Platz gefährdet sieht, sich das Recht anmaßt, andere, schwächere zum Objekt von Hass und Gewalt zu nehmen. Und trotzdem werden wir um die Frage nicht herumkommen: Was wird, wenn der politische-soziale-kulturelle Pakt der Mittelschicht mit der kapitalistischen, liberalen Demokratie aufgekündigt wird, der uns ein halbes Jahrhundert die Illusion einer Insel der Glückseligen verschaffte?

taken from Getidan

 

Foto: Bernhard Weber

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