Die hyperreale Welt des Castings

Nur eine kann das ganz große Los ziehen, nur einer ist prominent, und haben selbst mathematisch alle gleiche Aussicht, so ist sie doch für jeden einzelnen so minimal, dass er sich am besten gleich abschreibt und sich am Glück des anderen freut, der er ebenso gut selbst sein könnte und dennoch niemals selber wird. Adorno/Horkheimer

Offensichtlich verteilt die Unterhaltungsmaschine selbst die Plätze, sie sind zunächst leer, können also von Psychologen, Jury, Coachs etc. besetzt werden, um beim Kandidaten die Beichte zu erwarten, Bestrafung oder Belohnung einzusetzen, alles eine Form der therapeutischen Pflege bzw. der Sorge, um ihn im nächsten Moment villeicht schon aus dem Game gekegelt zu werden. Adorno/Horkheimer schreiben: “Die seltene Fähigkeit, minutiös den Verpflichtungen des Idioms der Natürlichkeit nachzukommen, wird zum Maß der Könnerschaft.” Wie in den Reality-Shows drängt man auch im Casting auf sogenannte Echtheit der Gesten, der Emotion sowie auf echte Darsteller von echten Problemen, die mittels der produzierten Entgleisung /Intimisierung im Medium hergestellt werden, was auch heißt, dass Authentifizierungseffekte wie das total gekünstelte Weinen eben nicht so ohne weiteres funktionieren müssen. Es handelt sich um ein mediales Gefüge, bei dem die Matrix der Komplexitätsreduzierung als radikale Vereinfachung/Standardisierung fungiert, obgleich das wiederum nur durch die Inszenierung des Dramas, des Skandals funktioniert, der multipliziert und beworben werden muss. Damit wird eine soziales Gefüge markiert, auf das sich der Zuschauer einlassen muss oder er steigt aus. Aber was und welcher Prozess wird markiert?

Die Affektpolitik der Castingshow, welche Angst und Begehren in Beziehung setzt, besteht weniger darin, auf die Lust, sondern auf den hyperrealen Körper zu rekurrieren, indem dieser einer Rund-um-die-Uhr Kontrolle unterzogen wird. Diese Inszenierung, die von der Produktion des Zeichen-Körpers nicht zu trennen ist, ist eine Strategie der Mikrophysik der Macht. Die Kandidatinnen werden permanent zur  Beurteilung ihres  Körpers aufgefordert oder gereizt, während sie diesen der Beurteilung durch die anderen Kandidatinnen freigeben. Das hat ausgsprochen sportive wie pathologische Züge, die sich gegenseitig hochschaukeln, sodass eine Kandidatin irgendwann durchaus als sexualisierte, freaky Puppe der Entblößung, Auhentifizierung und Obszönität erscheinen kann. Offenbarung und Kontrolle treten in ein Bedingungsverhältnis, das eine Affektpolitik jenseits der Schamlosigkeit situiert. Der Körper ist ein Medium im Medium, das seine Zeichen-Elemente, Sex, Horror und Information zu einem Gefüge formiert. Individualisierung ist Teil einer kybernetischen Mediatisierung, wobei die modelorientierte Körperpolitik, von der Toleranz des Nasenpiercings bis zum Arschgeweih, die Kontrolle der Körperöffnungen und der Bemalung des Körpers virtualisiert und zugleich authentifiziert. Gleichzeitig tendiert vor allem die pornografisierte Kandidatin dazu, als Zombie im medialen Raum zu insistieren, hat sie einmal eine bestimmte Schwelle überschritten – – -, und von nun an ist sie gezwungen, die pornografische Performance immer wieder neu zu justieren oder zu variieren, eine Art Artistik, die als Drahtseilakt noch viel zu euphemisierend umschrieben ist. Vor allem die weibliche Sexperformance verlangt in behavioristischer Manier das permanente Hinschauen, obgleich dieser kollektive Blick vollkommen obszön ist. Der entblößte Körper soll zudem Effizienz demonstrieren, wenn er sich der öffentlichen Performance preisgibt, eine variable Norm, die einzuhalten immerwegs ihre eigenen Erschütterungen mitbearbeiten muss. Diese Performance muss als aufopfernde bzw. technologisierte Arbeit am Ich dargestellt werden, ohne jeweils die trashigen, schweißtreibenden und masochistischen Elemente zu vernachlässigen, aber selbst diese müssen ins mediale Gefüge integriert und dort zugleich differenziert werden. Medien produzieren eben nicht nur Konsens (Integral), sondern Divergenz, wobei sich derjenige im Kampf um Positionen, Zeichen, Sprache (als immanente Handlung) dennoch als authentisch empfinden darf, dessen Erzählung und Bild irgendwie ankommen, wobei allerdings scharf umrissene soziale Plätze und Strategien immer weniger zu erkennen sind. Bulimie und Anorexa nervosa verhalten sich zuéinander wie Hysterie und Langeweile; es wird sich mit Unterhaltung vollgefressen und dann gekotzt, um wieder zur Selbstoptimierung bereit zu sein, die dazu dient, sich wieder mit Unterhaltung vollzufressen. Bis ins Feinste tritt die Problematik der Credit Points, Programme der Evaluierung und Optimierung ihr sanftes Regime an, wuchern bis in die Büros und die Unternehmenssituation hinein – – -,  Macht wird fluidal, sie wird „gasförmig“, wie Deleuze sagt, sie organisiert sich in Netzwerken, in denen jeder Knotenpunkt potentiell die Information des Gesamtsystems enthält, sie wird mikrologisch oder gar nanotechnisch, sie gerät „inter-aktiv“, indem sie ein unausgesetztes Spiel von Aktion und Reaktion in Gang setzt, in dem die Akteure die Lücken und Poren der Kontrolle durch Techniken der Selbstkontrolle stopfen.

Das produktive und projektorientierte Ich, das sein Ego im Fundamental-Casting so herrlich auf der Bühne zu präsentieren weiß, auch wenn sich die obsessive Erforschung desselben als die Suche nach einem Gespenst entpuppt, vielleicht nach einem virtuellen Ich, das dem anpassungsfähigen Subjekt seltsamerweise deckungsgleich ist, diese Narration des Egos versteckt sich heutzutage doch meist zwischen Blogs, Speed-Chaträumen und privatem Pay-TV.

Reality-TV funktioniert durch Personalisierung der Intimität, benutzt dafür halbwegs konsistente oder kompetente Akteure, die ihre affektive Authentizität verhandeln, indem sie Intimstes bis zum Kamerablick ins eigene Schlafzimmer ausstellen, wobei sie eingerastert in standardisierte Gefüge und Matrizes bleiben oder in diese einschwingen, und diese Schwingungen inharieren Konfliktsituationen bis zur polygamen Erfüllung bzw. zur Erlösung, ein therapeutisches Gadget, das manchmal des Skandals bedarf, der den Fluss des medialen Geschehens perforiert, bevor er für dieses oder jenes Format zusammenbricht bzw. durch Kopie und Multiplikation aufgesogen wird. Ganz zu schweigen von der gefrässigen Maschine bzw. dem Supraverteiler Internet, ein netzförmiger Apparat, der auf Permanenz gestellt, kostenlose Kopien sendet und sie endlos durch das Netz fließen läßt. Jedes Datenbit, jede Information, die auf dem Computer produziert wird, wird nämlich irgendwo kopiert, ist also im Netz unauslöschbar, wobei sich gerade Banken, Konzerne & Staat auf die Vervielfältigung von Daten, Informationen und Ideen stützen und stürzen, auch das Auslaufprogramm Fernsehen, wobei man sich alleridngs immer  eindringlicher fragen muss, was passiert, wenn endgültig alle Produkte kostenlos vervielfältigt werden können. Integralrechnung ist eine kontinuierliche, analoge Bewegung in diskrete, digitale Schnitte aufgebrochen. Verschwinden vollzieht sich kontinuierlich in einem Zeitintervall, das gegen Null konvergiert, aber nie null wird, es ist ein Prozess, man kann immer eine Zeitlupe einbauen, die den momentanen Zeitpunkt in einen Zeitraum ausdehnt/verlangsamt, um ein Fading, ein Unwahrnehmbar-Werden zu produzieren; unser Wahrnehmungsapparat ist viel zu grob, wir nehmen bewusst nur durch schneiden, d.h. unterscheiden wahr, jede Maschine ist ein System, das die Ströme schneidet. Es gibt ein paar Revolutionaries unter den Werbefachleuten, die für ein Unwahrnehmbar-Werden plädieren bzw. für ein Anonym-Werden.

Coaching und Casting bedingen sich gegenseitig: Nur dem Gecasteten wird Beratung und therapeutische Hilfe geboten, und umgekehrt bedürfen die Coachs der sog. Auswerwählten. Beide werden zu Instrukteuren bzw. Darstellern von Lösungsstrategien, deren Probleme weitestgehend im Dunklen bleiben. Ein spezifisches Gefüge wird installiert, das weder Abbild einer realen Situation, noch rein im Imaginären oder Symbolischen funktioniert, sondern Aussagegefüge und Handlungsgefüge hervorbringt und zusammensetzt, eine Assemblage, die so beweglich ist, dass Überraschungen und Fehler möglich erscheinen,  indem das Schauspielerische, das Menschelnde und Signalhafte eingeübt bzw. aus- und dargestellt wird, allerdings immer im Bezug zur Regel oder Norm, die das Zeichen der Perfektion inhäriert, die es zu erreichen gilt.

Was heißt es denn eigentlich, im Sinne von desire, die Sterne vom Himmel zu holen, was heißt es, die Begierde als den Mangel an einem Objekt (das, man nicht besitzt) oder als den Exzess zu begreifen, als die treibende Kraft, die uns zu den Dingen führt, die Triebkraft, die produktive Kraft, die uns antreibt und die wir keineswegs beherrschen. Kräfte, die zu uns gehören und über uns hinausgehen, ein unbewusster Mechanismus, der nie zu einem Ziel gelangt, aber immer durch das Gesellschaftliche kartografiert und reguliert wird, und bis zu welchem Punkt soll man zu weit gehen, Spinoza mit Cocteau? Und was heißt es, in den Castingmaschinen zu funktionieren, die nicht nur zur Veröffentlichung der Intimität als Performance aufrufen, sondern auch das Öffentliche privatisieren, indem sie Enturbanisierung insofern betreiben, als man im elektronischen Dorf zugleich calvinistisch gesellig, d.h kontrolliert agieren soll, und, zugleich dem Pornografischen huldign soll, als Kult? Während sich für den Zuschauer die größtmögliche Teilhabe, bei größermöglicher Interaktivität ergibt, ist der Kandidat immer auf dem Weg, erklimmt die irsinnigsten Berge oder überwindet die irrsinnigsten Hindernisse, eröffnet sich sozusagen einem (medialen) Raum, während draußen das Spektakel selbst zum Medium der Intimisierung wird. Der öffentliche Raum des Clubs beispielsweise ist ein Binnenraum. Die Affekt- und Erregungsräume sind also geschlossen und offen. Sie funktionieren als Archive und zugleich als virtuelle Räume, d.h. sie sind mit Potenzen gefüllt, welche die Erregungen potenzieren, verdichten, passifizieren und zugleich langweilig machen können, und darin funktionieren die Kandidaten als Karikatur der Persönlichkeit, und werden als solche zumeist auch wahrgenommen, oder zuminest als Darstellung oder Perfomance des erlahmten Persönlichen, und zwar in einem Studio, das durch Aufnahmen kodifiziert und klassifiziert wird. Man lebt in einer Zwischenwelt, weder im Medium noch in der Wirklichkeit,  man ist wesentlich untot. Als solches überführt der Kandidat den Star in den Prominenten, denn war jener noch die Verkörperung des Ideals  der Verschmelzung von Privatheit und Öffentlichkeit, mit all seinen Kanten und Ecken, so gewinnt der Prominente seine Vertrautheit und Fremdheit zugleich dadurch, dass er sich quasi authentisch als derjenige darstellt, der mit Sex, Geld und Macht genau dasjenige macht, was wir auch machen würden, hätten wir nur etwas mehr davon. Als Quasi-Individuum ist er jenes Element, dass die Techniken der Selbstkontrolle auszustellen vermag, weil bei ihm Arbeit und Freizeit so hysterisch schön ineinanderschwingen, insofern durch Medien und Geld vermittelt; d.h. Selbstdisziplinierung ist auch immer Kontrolle in und durch die medialen Netzwerke,  die im Irrsinn der Bilder und deren Beschleunigungen funktioniert, wenn Kontrolle denn nicht als Illusion und Ware produziert wird, womit sie zugleich einen Status von Willkürlichkeit und Konformität erreicht, den Märkte und der Staat setzen. Das Quasi-Individuum ist ein Konglomerat aus den verschrobendsten Persönlichkeitsmerkmalen und Elementen jenseits der Persönlichkeit, d.h. Modulationen, die sowohl auf Signale/Impulse reagieren und diese produzieren als auch Semiotiken, Zeichen und das Medizinische in bezug auf das Seelische & Körperliche bewirtschaften und von diesen bewirtschaftet werden. Kontrollmaschinen produzieren Wahrnehmung, Affekt, Sprache und Handlung  zuallererst, insofern diese Produktion begehrt wird, und begehrt werden kann sie nur über das Funktionieren von Selbstkontrolle, endlosem Mitreden und Konsens. Verliebt ins Gelingen meint einen Selbstbezug, der seine Emotion auszudrücken in der Lage ist, als Selbstausdruck via Kommunikation, als gegenseitige Teilhabe, und das funktioniert heute hyper-medial. Codierte, gezerrte und verspiegelte Emotion spielen im Spiel der Entblößung und Kränkung, das duch vielfältige Kanäle funktioniert, d.h. zirkuliert, darin bezeichnet bzw. gesagt wird, um Aufmerksamkeit und Wirkungen zu erzeugen. Emotionen müssen kontrolliert werden, die kontrollierte Emotion und der Vorgang der Kontrolle ist Produktionsmittel des Kapitals einerseits, und muss für den Staat lesbar sein.

In den Feuilletons der großen Tageszeitungen ist es mittlerweile zur Standardfloskel geworden, Casting-Shows in Axiomatik, Praktiken und Funktionsmechanismen, hinsichtlich der Zyklizität und Interdependenzen von Medien, Markt und Geld mit der Finanzkapitalblase zu vergleichen, wobei bestimmte Journalisten stets betonen, dass der Fernsehzuschauer mit einem einzigen Telefonanruf ähnlich wie die Bezugsperson eines Konsumentenkredits oder wie ein Kleinanleger am Börsentableau handeln könne, wobei aber das Risiko des Fernsehzuschauers, sieht man einmal von den (exorbitanten) Telefongebühren oder dem Zeitraub ab, der einem so die letzten Lichtnadeln des Lebens vermasselt, deutlich geringer als das eines Kreditnehmers sei, und dafür aber auch die Rendite gleich null sei, und insofern bliebe das Casting-Dispositiv, das die Wunschproduktion der Konsumenten in Hinsicht auf Zerstreuung steuere, wobei deren Illusionen im Gefüge der Sichtbarkeiten permanent moduliert und auf den Kassenmagnaten Superstar konzentriert würden, der wiederum beabsichtige, diese Illusionen in möglichst kurzer Zeit in Geld zu verwandeln, dieses illusionistische Procedere bliebe also für den Zuschauer ohne jede nachhaltige politökonomische Folgewirkung, und nichts als pure Hoffungslosigkeit bliebe am Ende beim Zuschauer zurück oder der bittere psychische Beigeschmack, dass man durch die interaktive Beteiligung an der Spekulationsblase Casting diese nur noch weiter in die Höhe getrieben hätte. Allerdings sei das Ganze noch wesentlich komplizierter, denn eine gewisse gratification müsse dem Publikum zugestanden werden, das egal, ob es nun Zeit habe oder nicht, den Genuss der Casting-Show zwar mit Zeitraub bezahle, wobei keinerlei Akkumulation von Zeit möglich sei, aber es werde ja nicht nur mit hinreissend süßen Gadgets belohnt, sondern ihm werde das Bewusstsein vermittelt, dass schon alles okay, und vor allem das Publikum selbst okay sei, in dieser komischen Welt und dem glücklichen Bewusstsein davon.

Foto: Sylvia John

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