DIE RELIGION UND LE GRAND JEU

Die Kritik Epikurs hat es nicht vermocht, in der Menschheit die immer wiederauflebende Religion auszutilgen. Die gegenwärtige materialistische Kritik hat der des Epikur kaum etwas hinzugefügt. Es ist eine dringliche Aufgabe, sie durch eine ganz und gar radikale Kritik zu vervollständigen. Hier sind ihre Grundsätze:

Am Ursprung jeder Religion gab es einen Zweifel, eine Verneinung eines Glaubens oder eines feststehenden Dogmas, d.h. es gab ein reales Denken (Jesus gegen die jüdische Theokratie, Cakya Mouni gegen den Brahmanismus, Mohammed gegen die Idolatrie usw.).

In jeder Gesellschaft, in der der Mensch den Menschen ausbeutet, ist der Zweifler ein gefährlicher Revolutionär. Die größte Geschicklichkeit der herrschenden Klasse besteht darin, sich der Worte des Zweiflers zu bemächtigen und daraus das Material eines neuen Glaubens, eines neuen Dogmas zu machen. Je weitreichender und heftiger der ursprüngliche Zweifler war, umso unterdrückender wird die Religion.

So lange es eine Klasse von Ausbeutern gibt, so lange wird jedes wirkliche Denken Gefahr laufen, ein Dogma zu werden, ein Instrument der Unterdrückung. Jede andere Kritik der Religion ist nur eine Hälfte von Kritik und behindert nicht im Geringsten das Wiederaufleben einer Religion.

Der Zweifler Jesus wurde durch die Kirche in unseren Ländern zum menschlichen Bilde der widerwärtigsten Form von Verblödung und von Knechtschaft, weil er nicht die materielle Waffe der Revolution zur Verfügung hatte. Wenn er so gewesen wäre, wie ihn die Evangelisten vorstellen, würde er verantwortlich am Christentum sein, weil er nicht geschwiegen hat; anscheinend gelang es im Orient mehr als einem großen Denker der Antike dank seines Esoterismus, nicht zu einem Gründer von Religionen zu werden.

Die Zeiten sind andere. Heute kann ein lebendiges Denken seinen Weg gehen in den Körpern von Millionen Aufständischer und es kann, ohne sich in einem Esoterismus zu verbergen, auf diese Weise vemeiden, sich zur Theologie zu mumifizieren.

Einzig eine Kritik der Religionen, die die Berührungspunkte herstellt zwischen dem ursprünglichen Zweifel des revolutionären Ketzers und der körperlichen und geistigen Knebelung, die daraus für die Menschen entsteht, einzig diese Kritik fordert die Notwendigkeit der Revolution für jeden, der frei denken will, d.h. der denken will, ohne den dogmatischen Tod zu riskieren.

René Daumal

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