Das Narrativ vom Technofeudalismus

Geert Lovink spricht in seinem Review des Voraufakis-Buches “Techno Feudalism” von aktuellen Positionen zum gegenwärtigen Kapitalismus, die rückwärtsgewandte Metaphern verwenden, anstatt nach vorne zu schauen. Der Kerngedanke dabei ist die Art und Weise, wie die mittelalterliche Herr-Knecht-Dynamik auf die gegenwärtige Ökonomie übertragen wird. Lovink zeigt ein gewisses Verständnis für diese Positionen, die heute von Voraufakis, Cedric Durand, Jodi Dean und anderen vertreten werden, weil sie u.a. auf den Verlust von zukunftsträchtigen Narrativen reagieren würden. In gewisser Weise ist die Rede vom Technofeudalismus aber nur die Kehrseite eines grundlegend technoinfizierten Posthumanismus, wie er u.a. von Kurzweil vertreten wird, der eine leuchtende Zukunft des Kapitalismus vorhersagt. Bezüglich der ersteren Positionen gilt es zu bedenken, dass die Rückkehr zu alten Metaphern damit begründet wird, dass zukünftige Utopien verschwunden seien. Aber es ist gerade das Kapital, das die Zukunft kapitalisiert und diversifiziert. Es gibt einfach zu viele Zukünfte und nicht zu wenige. Gegen die Rede vom Technofeudalismus lässt sich einwenden, dass wir einem schwindelerregenden kinetischen Hyper- bzw. Superkapitalismus beiwohnen, wobei die gegenwärtige Ökonomie weitgehend mit dem Begriff des Kapitals zusammenfällt. Mit Marx spricht Baudrillard von einer zunehmend schwerelosen Ökonomie, ohne dass aber die Materialität verschwindet. Auch die Rede von der Ersetzung des Mehrwerts bzw. Surplus durch die Rente, wie Varoufakis und Co dies tun, ist nicht neu. Italienische Post-Operaisten vertreten diese Position hinsichtlich der Analyse des digitalen Kapitalismus schon seit 30 Jahren. In meinem kommenden Buch “Capitalism in the Age of Catastrophe” mache ich einige Bemerkungen zur Theorie des Technofeudalismus, die ich hier gekürzt in deutsch wiedergebe.

Oft ist von einer Art Techno-Feudalismus die Rede, dessen Akteure Renten beziehen. Was der digitalen Wirtschaft ihren neo- und technofeudalen Charakter verleiht, ist die Tatsache, dass es ihr wie den Feudalherren gelingt, sich riesige Teile der globalen Mehrwertmasse anzueignen, ohne jemals direkt an der Ausbeutung der Arbeitskraft oder am Produktionsprozess beteiligt zu sein. Der französische Wirtschaftswissenschaftler Durand stützt sich ebenfalls auf Zuboffs Arbeit, um die versteckte Herrschaft der Produzenten von Big Data aufzuzeigen, und argumentiert, dass das Geheimnis des Erfolgs von Google in seiner Fähigkeit liegt, eine Vielzahl von Datensätzen zu extrahieren, zusammenzustellen und daraus Profit zu schlagen. Aufgrund von Netzwerkeffekten und beeindruckenden Skaleneffekten genießt Google ein effektives Monopol: Das Unternehmen wird von neuen Datensätzen mehr profitieren als ein Start-up-Unternehmen, was den Wettbewerb erheblich erschwert.

Der Grundtenor dieses Arguments ist jedoch zu nutzerzentriert, da Durand, wie auch Zuboff, die entscheidende Rolle der Indexierung in Googles Gesamtbetrieb außer Acht lässt. Die Websites von Drittanbietern, zu denen Google Links herstellt, um seine Suchergebnisse zu produzieren, bleiben Eigentum ihrer Herausgeber; Google ist nicht Eigentümer der Informationen, die es indexiert. Theoretisch könnte jedes andere finanzstarke Unternehmen eine Web-Crawling-Technologie für seine Indexierung entwickeln. Dies könnte jedoch extrem teuer sein, aber man sollte solche Hindernisse nicht mit einer mietähnlichen Situation verwechseln: Was für ein Berliner Start-up teuer ist, kann für eine große Bank relativ erschwinglich sein. Man kann nicht so tun, sagt Morozov, als ginge es bei Google nur um das Extrahieren von Daten, als sei Google ein reiner Rentier – und nicht auch ein kapitalistisches Unternehmen. Durchsetzbare Eigentumsrechte, die es dem Eigentümer produktiver Ressourcen wie Land erlauben, andere Kapitalisten vom Zugang zu diesen Ressourcen auszuschließen, schaffen “Renten”. Diese Renten sind Teil des Mehrwerts, der in der kapitalistischen Produktion entsteht, obwohl sie keinen direkten Bezug zur Ausbeutung der produktiven Arbeitskraft haben. Der Eigentümer von Bodenressourcen wie Feldern, Wasserfällen, Mineral- und Kohlenwasserstoffvorkommen usw. hat in seiner Funktion als Rentier einen kostenlosen Vorteil, wenn er Ressourcen ins Spiel bringt, um an dem durch die produktive Lohnarbeit erzeugten Mehrwert teilzuhaben. Wenn aber, analog dazu, Technologieunternehmen nur Rentiers sind, die durch die Ausnutzung von geistigen Eigentumsrechten und Netzwerkeffekten praktisch kostenlos Gewinne erzielen, warum investieren sie dann so viel Geld in etwas, das man als eine Art Produktion bezeichnen kann? Die F&E-Ausgaben von Alphabet in den Jahren 2017, 2018, 2019 und 2020 beliefen sich auf 16,6 Mrd. $, 21,4 Mrd. $, 26 Mrd. $ bzw. 27,5 Mrd. $. Wenn man davon ausgeht, dass Google mit seinen Suchergebnissen Waren produziert – ein Prozess, der massive Kapitalinvestitionen erfordert -, ist es laut Morozov kein großes Problem, Google als ein kapitalistisches Unternehmen zu behandeln, das kapitalistische Produktion betreibt. Das soll nicht heißen, dass die digitalen Giganten nicht auch andere Strategien und Taktiken anwenden, um ihre Macht zu konsolidieren.

Morozov fragt jedoch zu wenig nach den Besonderheiten dieser neuen Technologieunternehmen. Der aus dem militärisch-industriellen Komplex hervorgegangene und von der Suche nach neuen Märkten angetriebene Cyber-Kapitalismus operiert durch ein materielles Ensemble aus sozialen Praktiken, Bedeutungen und technologischen Apparaten; er ist ein globales Konglomerat aus mehreren Schichten von Systemen und Standards, Maschinen und Management, Waren und Kommunikation, Ideologien und Interoperabilität, Produkten und Protokollen. Diese Schichten sind über kybernetische Rückkopplungsschleifen integriert. Der Cyber-Tech-Sektor ist kapitalistisch strukturiert und wird durch Gewinnmaximierung, Wettbewerb, Investitionen und Innovation angetrieben; er unterliegt Spekulationsblasen und Booms, die es im Feudalismus nicht gab – auch wenn er durch vermeintlich nicht-kapitalistische, aber durchaus bekannte Praktiken wie Monopolisierung, Marktmanipulation, Nationalismus und Nähe zum militärisch-industriellen Komplex gekennzeichnet ist. Jedes der großen Tech-Unternehmen hat seine eigenen, strategisch diversifizierten Geschäftsbereiche, die von Werbung in sozialen Medien über Unternehmenslogistik und Videospiele bis hin zur Halbleiterherstellung reichen. Diese Unternehmen sind auch einem hohen Maß an Volatilität ausgesetzt. Hinter ihrem Aufstieg stehen heute große Vermögensverwaltungsfirmen wie die Vanguard Group und BlackRock. Auch diese Unternehmen sind von Kybernetik, Digitalität und Quantentheorie geprägt. BlackRock führt einen Großteil seines Erfolgs auf sein Big-Data-System Aladdin zurück, das riesige Anlageportfolios nicht nur für BlackRock, sondern auch für die Konkurrenten Vanguard und State Street sowie für Alphabet, Apple, Microsoft und die großen Versicherungsgesellschaften verwaltet. Über Aladdin kontrolliert BlackRock eine Schlüsselkomponente der digitalen Infrastruktur des Finanzsektors. Diese Verschmelzung von finanzieller Macht und technologisch-wissenschaftlicher Vorherrschaft hebt das Finanzwesen selbst auf eine noch abstraktere Ebene und kann als eine Schlüsselkomponente des Cyber-Kapitalismus betrachtet werden.

Nach oben scrollen