Der organlose Körper – Hineingehen in den glatten Raum und Spekulationen über die Leere

i.         Einleitung

„Findet euren organlosen Körper, findet heraus, wie man ihn macht“, rufen uns Deleuze und Guattari (1992, 207) förmlich in ihrem Werk „Tausend Plateaus“ zu. Für Deleuze und Guattari bezeichnet der Körper ohne Organe einen psychischen und physischen Zustand der Intensität, welcher nicht durch äußere oder innere Elemente reguliert ist. Eine einheitliche Definition des organlosen Körpers (oK) ist in den Werken von Deleuze und Guattari nicht auszumachen (Smith 2018). Z.B. wird der oK als „ein Ei“ (Deleuze/Guattari 1977, 27) bzw. „das Ei“ (Deleuze/Guattari 1992, 224) definiert, d. h. als ein durch Durcheinander von Eiweißgradienten, die unterschiedliche Intensitäten aufweisen und keine offensichtliche Struktur haben, ein Werden, ein Leben vor der Bildung von Schichten. Oder der oK ist „in der strengsten spinozistischen Bedeutung des Wortes die immanente Substanz“ (Deleuze/Guattari 1977, 422). Zum Organismus oder zum vollen Körper hingegen wird man, so Deleuze und Guattari, indem man durch Regulationsweisen organisiert wird oder sein Verhalten gemäß gängiger Normen diszipliniert. D. h., „du musst deinen Körper gliedern – sonst bist du nur entartet. Du wirst Signifikant und Signifikat, Interpret und Interpretierter – sonst bist du nur ein armer Irrer. Du wirst Subjekt und als solches nur ein Penner“ (Deleuze/Guattari 1992, 219). Der oK lässt sich somit auch als Kritik an gesellschaftlichen Subjektivierungsweisen verstehen. Um einen Körper ohne Organe zu schaffen, muss man sich dementsprechend den Regularien entledigen und sich mit Intensitäten füllen. Den Organismus aufzulösen verstehen Deleuze und Guattari jedoch nicht dadurch „sich umzubringen, sondern den Körper für Konnexionen zu öffnen“ (ebd.). D. h., Körper und Geist über bestehende identitäre Verknüpfungen, Zurichtungen, Einengungen, Rollenzuschreibungen, Kategorisierungen hinaus zu transformieren bzw. zu glätten (Markula 2006). Intensitätsaggregate zum Glätten, zum Reduzieren und Entfernen von identitären oder automatisierten Praktiken finden in der „Desartikulation (oder n Artikulationen)“ (Deleuze/Guattari 1992, 219), im Experimentieren statt dem Interpretieren, in der Bewegung statt; „bewegt euch, selbst auf der Stelle, hört nicht auf euch zu bewegen, Reisen an Ort und Stelle, Entsubjektivierung“ (ebd.).

In diesem Artikel wird daher der Frage nachgegangen, wie man sich den oK erschafft bzw. wie man in ihn hineingelangt, wie Praktiken der Entsubjektivierung stattfinden. Gemäß Deleuze und Guattari macht man sich diesen Körper im glatten Raum, der „ein taktiler oder vielmehr ‚haptischer‘ und klanglicher als ein visueller Raum“ (Deleuze/Guattari 1992, 526), und somit zugänglich für Erfahrung ist. Insofern behandelt dieser Artikel auch phänomenologische Zugänge im Denken von Deleuze und Guattari, welche sich begrifflich an den Konzepten ihrer Geophilosophie, der territorialen Prozessualität und ihrer Immanenzphilosophie festmachen (Deleuze/Guattari 2003, Rölli 2003, 241ff; Günzel 2013, 154ff; Smith 2018). Da aber Deleuze und Guattari keine konsistente und systematische Anwendung der Konzeption des oK außerhalb von Anti-Ödipus (1977) und Tausend Plateaus (1992) entwickelt haben, sie ihr Konzept des oK gleichzeitig als analytisches Werkzeug anbieten, um Vervielfältigungen (n Artikulationen) herzustellen (vgl. Deleuze/Guattari 1992, 386), muss, wer mit den Begriffen von Deleuze und Guattari arbeiten möchte, sie für das jeweilige Thema neu modifizieren. Insofern gibt es nicht nur tausend Plateaus in ihren Werken zu entdecken, sondern auch tausend Wege, um mit den Werkzeugen von Deleuze und Guattari zu arbeiten (Colombat 1991). Wichtig sei jedoch, dass die lineare, transzendente Arbeitsweise, welche Modelle und Abbildungen entwickelt, nicht der rhizomatischen, immanenten Arbeitsweise gegenübersteht, welche die ursprüngliche Kartographierung der Modelle verwischt und in Phänomenen nur ihr Eigenleben erkennt. Es geht auch nicht darum bestimmte Orte oder Räume des oK ausfindig zu machen, auch nicht bestimmte Momente in der Geschichte als Ausgangspunkt zu nehmen, und noch weniger geht es „um diese oder jene Kategorie des Geistes. Es geht um das Modell, das unaufhörlich entsteht und einstürzt, und um den Prozess, der unaufhörlich fortgesetzt, unterbrochen und wieder aufgenommen wird“ (Deleuze/Guattari 1992, 35). Eine derartige offene Darstellung, welche auch in diesem Artikel verfolgt wird, hat dennoch das Problem einen Rahmen zu entwickeln, welcher keine „Analyse und keine Synthese erträgt [und der] nur eine fortzusetzende offene Analyse und eine vollendende, aber nicht abgeschlossene Synthese ist“ (Laruelle 2014, 148). Wenn nun im Zentrum dieser Ausgangslage die Annahme steht, dass eine fortzusetzende offene Analyse nicht als einen Klon des oK von Deleuze und Guattari zu betrachten ist, sondern dessen Indeterminanten beschreiben will, hat dies wiederum zur Folge, die Phänomene des oK zu dechiffrieren (Deleuze/Guattari 1992, 699; De Landa 2006). Deshalb stehen im weiteren Vorgehen weniger die begrifflichen Konzepte und deren Entwicklung im Vordergrund, sondern es werden vielmehr Erfahrungen des Organlosen beschrieben, welche die begrifflichen Konzepte des oK phänomenologisch entschlüsseln können. In ihren Werken verweisen Deleuze und Guattari aber auch auf vielfältige Empfindungen, Wahrnehmungen und Praktiken, welche sie mit dem oK assoziieren: Umherschweifen (Deleuze/Guattari 1977, 46, 407), Wanderungen (Deleuze/Guattari 1977, 107, 376, Deleuze/Guattari 1992, 668), Nomadismus (Deleuze/Guattari 1977, 411), Metallurgie (Deleuze/Guattari 1992, 568-574), Alchimie (Deleuze/Guattari 1992, 345), Taoismus (Deleuze/Guattari 1992, 216) oder Klang erzeugen, „Fröhlichkeit, Ekstase und Tanz“ (Deleuze/Guattari 1992, 207). Denn der oK „ist eine Übung oder ein unvermeidliches Experiment“, er ist „kein Begriff oder Konzept, er ist vielmehr eine Praktik, ein ganzer Komplex von Praktiken“ (ebd.). Kategorisch lassen sich für diesen Artikel zwei verschiedene Komplexeunterscheiden: Äußere Reisen (Kapitel ii), als nomadisches Umherschweifen (Deleuze/Guattari 1992, 39ff), sowie innere Reisen (Kapitel iii), die in einem Zimmer mit Körperpraktiken stattfinden (Deleuze/Guattari 1977, 412) und dabei die „instinktiven Kräfte zerstören, um sie durch übertragene Kräfte zu ersetzen“ (Deleuze/Guattari 1992, 214).[i] Insofern begibt sich dieser Artikel auch auf eine hermeneutische Spurensuche, um diese Komplexe von Praktiken weiter auszuleuchten. Der Weg, der bei dieser Spurensuche nachgezeichnet wird, hat nicht das Ziel eine Ontologie des oK zu entwickeln, sondern orientiert sich vielmehr an der rhizomatischen Arbeitsmethode von Deleuze und Guattari. D. h., es wird eine Assemblage (Deleuze/Guattari 1992, 698-700) entwickelt, welche den Ebenen des oK weitere Schichten hinzufügt (Kapitel iv) und Artikulationen, transversale Konnexionen und mögliche Überlagerungen der Schichten ableitet (Deleuze/Guattari 1977, 370).

    ii.         Umherschweifen: Hineingehen in den glatten Raum

Eisflächen, das Ununterscheidbare im Schneesturm, das Heulen der Winde in Sand- und Steinwüsten, das Offene der Ozeane mit unendlichem Himmel charakterisieren das Glatte. In dieser Weite können sich Objektformen der Landschaft vermischen, indem Linien, Flächen, Schatten, Reliefs in einer einzigen Oberfläche emergieren und dabei kontingente Ebenen entstehenden lassen, welche das intuitive Erleben verstärken und das interpretierende Sehen reduzieren. Eine solche Oberflächlichkeit des Raumes hilft die „nicht geometrische Tiefe“ (Laruelle 2014, 70) und Glattheit des Raumes (Deleuze/Guattari 1992, 700) zu sehen, womit letztlich eine Auslöschung des Repräsentationsmodus beim Betrachten einhergehen kann (Laruelle 2014, 67). Diesem glatten Raum – der durch Offenheit und Grenzenlosigkeit bestimmt ist, steht ein gekerbter Raum, mit Auf- und Zuteilungen von Territorien und Normierungen von Verhaltensweisen entgegen. Während sich im gekerbten Raum eine einengende Territorialisierung vollzieht, vollziehen sich im glatten Raum Öffnungen, Deterritorialisierungen, Möglichkeiten und Vielheiten von Verhaltensweisen. Für Deleuze und Guattari ist der gekerbte Raum ein Sinnbild für einen Raum, der vom Staatsapparat geschaffen und verwaltet wird:  „Staat bedeutet Souveränität. Aber die Souveränität herrscht nur über das, was sie verinnerlichen, sich räumlich aneignen kann“ (Deleuze/Guattari 1992, 494). Dieser gekerbte Raum erschafft Einschließungsmilieus (Familie, Schule, Arbeitsstätte, Vereine etc.), eine identitätsstabilisierende Gegenüberstellung von Innen und Außen und die dazugehörigen ordnungssystematischen Raumgefüge mit Staatsgewalt, Polizei, Zollämtern, Gefängnissen, Mauern, Einfriedungen, Grenzen, Verwaltungen, der Kontrolle der Verkehrswege. Diese Einschnitte im Raum kontrollieren gleichzeitig Bewegungsfreiheit und filtern das Eindringen von Waren und Menschen. Jeder Punkt im gekerbten Raum hat seine Bedeutung, ist strukturiert und strukturierend (Deleuze/Guattari 1992, 502ff). Aber nicht nur Verortungen spielen eine wichtige Rolle bei der Definition von den territorialen Herrschaftsbereichen des gekerbten Raumes, sondern auch die Wegweiser, in Form von Sprache, Schrift und Bedeutungen, die mit territorialer Übertragungsmacht ausgestattet sind. Sowie durch die Keilschrift dem Stein oder durch den Kerbschnitt dem Holz eine Bedeutung aufgezwungen wird, so verhält es sich auch mit territorialen Zuweisungen im gekerbten Raum: „Die Essenz des Sozius als Aufzeichner und Beschrifter besteht, insoweit er sich die Produktivkräfte aneignet und die Produktionsagenten aufteilt, in Folgendem: zu tätowieren, auszuschneiden, einzuschneiden, abzutrennen, zu skarifizieren, zu verstümmeln, zu umzingeln, einzuweihen. (…) es geht darum, dem Menschen ein Gedächtnis zu machen; (…) ein Gedächtnis von Zeichen und keines von Wirkungen mehr. Diese Organisation, die das Zeichen direkt in den Körper eingraviert, ist das System der Grausamkeit, das furchtbare Alphabet“ (Deleuze/Guattari 1977, 183f)D. h. die Regulationsweisen und Vorschriften zur Anerkennung einer bestimmten symbolisch strukturierten und strukturierenden Ordnung dienen einer identitätsstabilisierenden Bedeutungsproduktion. Durch die eigene Wahrnehmung, entweder hier oder dort zu sein, entstehen gleichzeitig Ausschlussmechanismen und identitäre Selbstplatzierungen. Im individuellen Erfassen, Verarbeiten, Gehorchen oder selbst im Ungehorsam verwirklicht das Zusammenspiel der Organe den Organismus. Dadurch wird der gekerbte Raum ein geschlossener, definierter Raum, der begrenzt und begrenzend ist. Der Sozius befiehlt und erwartet Gehorsam: „Die primitive Territorialmaschine codiert die Ströme, besetzt die Organe, kennzeichnet die Körper“ (Deleuze/Guattari 1977: 183). Deleuze und Guattari bringen diesen Umstand, dass im gekerbten Raum keine Bedeutung ohne Bezeichner entstehen kann, auf folgende Formel: „Keine Signifikanz ohne despotisches Gefüge, keine Subjektivierung ohne autoritäres Gefüge, keine Vermischung beider ohne Machtgefüge“ (Deleuze/Guattari 1992, 248).

Mit der Sesshaftigkeit, dem Eigentum an Grund und Boden und damit der ungleiche Tausch von Arbeitskraft gegen Naturressourcen oder Geld dehnt sich der gekerbte Raum seit der Jungsteinzeit in einer rasenden Geschwindigkeit aus. Die Ausdehnung der kapitalistischen Wirtschaftsweise, welche nach Arbeitskräften in jedem Winkel der Erde verlangt, auf die neolithische Revolution zurückgeführt werden. Damals tauschten die Menschen ihre nomadische Lebensweise, das Herumziehen orientiert an der Bewegung von Tieren oder dem Wachstumszyklus von Pflanzen gegen Sesshaftigkeit, Ackerbau, Viehzucht, Vorratshaltung ein. Allmählich sind das Produzieren und Tauschbarmachen von Gütern zur Lebensgrundlage geworden. Als quantitativen Sprung dieser Entwicklung kann sicher die industrielle Revolution genannt werden. 1848 schrieb Karl Marx: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnten Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen“ (MEW 4, 465). Seitdem wird Eisenerz und Kohle abgebaut, um Stahl zu kochen, Maschinen zu bauen, um Produktionsprozesse schneller und effizienter zu organisieren. Ortsunabhängige Zeitzonen, jenseits von Lebensrhythmen, Sonnenaufgang und -untergang werden notwendig, damit Warelieferungen weltweit in einer „Rund um die Uhr Ökonomie“ pünktlich ankommen (Postone 2003, 307-327). Bahngleise, Straßen, Tunnels, Kanäle, Landebahnen werden gebaut, damit Waren und Arbeitskräfte in einer höheren Geschwindigkeit von A nach B kommen. Hierbei hat der Sozius die Macht „die den Boden der Herrschaft bestimmt“ und er ist ebenso „das zerstörende Wühlen in diesem Boden“ (Debord 1996, §107).

Trotz der damit scheinbar weltweit einhergehenden Möglichkeiten des Mobilseins, lebt jedes Individuum in einen Rahmen, dessen Radius äußerst klein ist. Es pendelt zwischen Wohnung und Arbeitsplatz, geht zum Einkaufen, vielleicht noch ins Fitnessstudio oder Kino (de Lauwe 1952; Lynch 1960). In „Die Gesellschaft des Spektakels“ beschreibt Guy Debord, wie Personen die Umwelt nicht mehr kritisch wahrnehmen, weil das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Personen im kapitalistischen Zeitalter nur noch auf die zugewiesenen Rollen als Produzent*innen oder Konsument*innen reduziert worden ist und „in der das Spektakel der Automobile einen reibungslosen Verkehr verlangt, der die alten Stadtkerne zerstört, während das Spektakel der Stadt selbst Museen-Viertel braucht“ (Debord 1996, §65). Statt die je eigenen Bedürfnisse zu erkennen, liefert der Sozius vorgefertigte Lebensstile. Freiheit und Wildheit werden durch stellvertretende Existenzen (Schauspieler*innen, Bergsteiger*innen, Pornodarsteller*innen etc.) oder Substitute (Autos, Zigaretten, Alkohol etc.) vermittelt. Und je mehr die Zuschauer*innen zuschauen, umso weniger leben sie; je mehr sie akzeptieren, um sich in den herrschenden Bildern ihre Bedürfnisses wiederzuerkennen, desto weniger verstehen sie ihre eigene Existenz und Begierde (Debord 1996, §30). D. h., dass trotz der Nebenprodukte der internationalen Warenproduktion – Tourismus und Reisen – der moderne Mensch so arm an sinnlicher Erfahrung ist wie nie zuvor. Komfortabel geschützt sitzen Reisende in einem Flugzeug oder Auto, sehen Landschaften vorbeirasen und werden trotzdem und vor allem dadurch ihrer anderen Sinne beraubt. Um des Zieles willen wird die Strecke der Reise beseitigt. Reisende ohne Reise, ein „rasender Stillstand“ hat Paul Virilio (1992) das genannt. Als unsere Vorfahren zu Beginn des Holozäns, der Warmzeit, noch Nomaden waren, bewegen sie sich auf Linien oder gehen von Punkt zu Punkt, beschreiben Deleuze und Guattari die Gegenbewegung. Aber im Gegensatz zu Sesshaften sind diese Punkte den Wegen untergeordnet: „Die Wasserstellen sind nur dazu da, um wieder verlassen zu werden […]. Ein Weg liegt immer zwischen zwei Punkten, aber das Dazwischen hat die volle Konsistenz übernommen und besitzt sowohl Selbstständigkeit wie eine eigene Richtung“ (Deleuze/Guattari 1992, 522).

Den Aspekt des Nomadischen bzw. des Umherschweifens hat sich die Situationistische Internationale mit ihrem Konzept der Psychogeographie zu eigen gemacht, um sinnliche Erfahrungen durch die Erforschung des Raumes zurückzugewinnen (Debord 1955). Das Adjektiv „psychogeographisch“ beschreibt die Resultate des geographischen Einflusses auf menschliche Gefühle und die psychogeographische Praxis konzentriert sich auf die Erforschung von ordnungssystematischen Regimen: „Der plötzliche Stimmungswechsel auf einer Straße in einer Entfernung von nur wenigen Metern; die offensichtliche Aufteilung einer Stadt in einzelne, scharf unterscheidbare psychische Klimazonen […]; der anziehende oder abstoßende Charakter bestimmter Orte“ (Debord 1955: 17). Die Praxis der Psychogeographie ist das Umherschweifen, Driften bzw. ein Dérive. Damit verbunden ist das Verlaufen oder das Sammeln, Protokollieren, Kartographieren von Fundstücken und Sinneseindrücken, das Führen zufälliger Gespräche mit Passanten über ihre Ortswahrnehmungen etc., um selbst neue Erfahrungen im zufälligen Zusammentreffen hervorzurufen. Dazu zählt z.B. auch, Stadtpläne zur Orientierung in ländlichen Gebieten zu nutzen. Mit anderen Worten lassen sich darunter Praxen des zufälligen Durchquerens von städtischen oder ländlichen Zonen verstehen. Hierbei geht es darum, die vorhersehbaren Pfade als Konsument*innen, Arbeitnehmer*innen oder Schüler*innen zu verlassen sowie Strategien, Methoden, Spiele zu entwickeln, wie Räume in Offenheit und in Zufälligkeit erkundet werden können (Debord 1955, 17ff). D. h., durch ungeplante Begegnungen werden zufällige räumliche und zeitliche Ereignisse erzeugt. Es entsteht ein Materialismus der Begegnung, des Zufälligen und des Unbestimmten (Althusser 2010, 47). Indem das Zufällige in den Vordergrund rückt, wird die Wahrnehmung und Bedeutungsproduktion selbst begrenzt, weil in der Zufälligkeit die Immanenz von Raum und Zeit erfahren werden kann. Man kann so dem Moment des Begegnens einen Status der Ekstase verleihen, der konstitutiv für die Wahrnehmung des Zufälligen wird (Laruelle 2014, 179f).

Die Praxis des Umherschweifens grenzt sich insofern auch insbesondere gegenüber dem touristischen Reisen ab, da das Zufällige und die Erkundung eigener Wahrnehmungsstereotypen und Verhaltensweisen bzw. objektiver Determinierungen und subjektiver Dispositionen im Vordergrund stehen. Es geht hierbei nicht um das Verorten und Festgeschrieben werden in einem Ort oder Raum, wie dies bei Pauschalreisen der Fall ist, sondern um Ortungsfreiheit, um die Erweiterung der vorherrschenden Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata durch die Bloßstellung eines eindimensionalen, vorcodierten und vorgeführten Alltags. „Rastlos umherzuziehen und umherzuwandern bedeutet daher auch“, den Materiestrom und Intensitätsaggregate dort aufzuspüren, wo niemand sie vermutet und dafür „auch abstruse Wege zu beschreiten“ (Maresch 2003: 204). In diesem Kontext lassen sich die Deterritorialisierungspraxen der modernen Gegenkultur verorten: Hobos, Beatniks und Hippies, die auf ihren Streifzügen kreuz und queer durch die USA, Europa, Westafrika oder Indien unterwegs waren. Auch die kalifornischen Freikletterer*innen, die Bergsteigenden im Alpinstil oder die Qalandariyyah, die wandernden Sufi Derwische, versuchen dort hinzugelangen, wo „der Geist die Materie berührt“ (Deleuze/Guattari 1977: 28). Solche Arten des Umherschweifens können auch als eine Verweigerung verstanden werden, um die vorhersehbaren Pfade zu verlassen, um nicht als Arbeitskraft mobilisiert zu werden, indem man irgendwo im Unterholz, in einer Kuhle, in den Bergen, auf einer Gesteinsschicht, in Wüsten, an Ozeanen Stellung bezieht und regungslos erstarrt, wenn die Dinge anfangen lebendig und immanent zu werden. Der Beat-Poet Gary Snyder beschreibt solche Immanenzerfahrungen wie folgt: „Sich hinsetzen und ruhig sein und sich nicht bewegen und die Eichhörnchen im Kopf fangen an, aus ihren Löchern zu kriechen, fangen an herumzulaufen und zu singen, und wenn man das einfach zulässt, kommt man in Berührung damit“ (Snyder 1984, 34). Bis man Insekten, Wassermoleküle, Winde, Reibungen sieht, das Pulsieren und Dröhnen des Inneren hört, bis man merkt was eigentlich schon die ganze Zeit da war, das Rohe, Fremde, Intensive der Natur (ebd.).

Im gewissen Sinn setzt eine solche Erfahrung ein pataphysisches Szenario voraus: „Man muss den Tod gegen den Tod ausspielen“ (Baudrillard 1991, 12f.). D. h., wenn Deleuze und Guattari fragen, wie man sich einen organlosen Körper macht, lässt sich ihre Anweisung sich auf einem Stratum, einer Gesteinsschicht, einzurichten (Deleuze/Guattari 1992, 221) auch wörtlich verstehen. In Höhen, auf Höhenlinien, zwischen Geröll, Wasser, Muren, auf Firngraten und Sedimentgestein lässt sich nicht nur dem furchtbaren Alphabet, dem Abtrennen, Einschneiden und Umzingeln, den Einkerbungen, Skarifizierungen und Verstümmelungen des Sozius entgehen: „Hier die Berge – dort die Stadt. Hier Freiheit, Weite, Stille – dort Begrenzung, Enge, Lärm […] Unsere Welt ist programmiert, berechnet sind alle Möglichkeiten des kommenden Tages. Für jedes Risiko ist man versichert. Gewissheit, dass nur alles so und nicht anders verlaufen kann – ich ertrage sie nicht“ (Messner 1997, 7). Die Gänge auf Firngraten sind auch Immanenzerfahrungen zwischen Leben und Tod:

Am 26. April 1336 berichtet der italienische Dichter Francesco Petrarca in einem Brief, dass er den fast 2000 Meter hohen Mont Ventoux bestiegen hat, ohne militärische oder wissenschaftliche Notwendigkeit, sondern beseelt und aus einem Drang heraus, um ihn um seiner selbst willen heraus zu erkunden (Petrarca 2014, 11). Dies war zu der damaligen Zeit des Mittelalters ein moralphilosophisch unstatthaftes Unternehmens (Groh/Groh 1991: 35). Auf dem Gipfel angekommen ist Petrarca tief bewegt: „Ich richte nunmehr meine Augen nach der Seite, wo Italien liegt, nach dort, wohin mein Geist sich so sehr gezogen fühlt. Die Alpen selber – eisstarrend und schneebedeckt –, […] Erinnerungen an die Geburt des Menschen erschienen mir greifbar nahe, obwohl sie durch einen weiten Zwischenraum getrennt sind“ (Petrarca 2014, 22). Petrarca nimmt auf dem Gipfel die Bekenntnisse des Augustinus heraus und schlägt zufällig eine Seite auf und liest: „Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahin fließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne, und haben nicht acht ihrer selbst“ (Petrarca 2014, 30). „Ich war betäubt […] schloss das Buch, zornig auf mich selber, dass ich jetzt noch Irdisches bewunderte, ich, der ich schon längst selbst von den Philosophen der Heiden hätte lernen müssen, dass nichts bewundernswert ist außer der Seele: Im Vergleich zu ihrer Größe ist nichts groß“ (Petrarca 2014, 22). Ob diese Besteigung tatsächlich so stattgefunden hat, sei hier dahingestellt (Wrana 2018, 256ff). Sie hat aber einerseits den modernen Alpinismus begründet (Geyer 2016) und andererseits auch eine neue räumliche Perspektive hergestellt. Der Mensch sieht nun von oben (wie ein Gott) auf die Welt, in die Weite und dadurch auch in sich hinein. „Petrarca erlebte damit erstmals, was den modernen Alpinismus im Kern heute noch umtreibt: Den Aufstieg in unbekannte Höhen zur Offenbarung des Unbekannten im Menschen“ (Geyer 2016, Abschnitt 5).

Diese Innenschau, die bei Petrarca beginnt, erlangt in der Todeszone beim Höhenbergsteigen, beim „Ausgesetztsein“ (Messner 1997, 83), neue Dimensionen: „Nach meinen ersten großen Expeditionen hatte ich mein Leben als erweitert empfunden und war gleichzeitig nachdenklicher geworden. Nach dem Hidden Peak, meinem dritten Achttausender, der eine beruhigende Wirkung auf mich hatte, glaubte ich zu ahnen, was das Nirwana ist, hatte ich also einen Hauch von dem geatmet, was über das Leben hinausgeht. Am Everest-Gipfel erlebte ich eine Art seelischen Orgasmus, ein emotionales Ausschwingen in einem raum-zeitlichen Allbewusstsein. Meine Ratio war völlig ausgeschaltet“ (Messner 1978, 215). Eine solche Erfahrung beschreibt auch Reinhard Karl in seiner Biographie „Erlebnis Berg“ als er am 1. Mai 1978 mit Oswald Oelz den Gipfel des Mount Everest, zwei Tage nach Messners Besteigung ohne Sauerstoff, erreichte: „Wir sind oben. […] Ich, der Gipfelsieger. […] Ich, das atemlose Wesen. […] Ich ahne, dass auch der Everest nur ein Vorgipfel ist. Den wirklichen Gipfel werde ich nie erreichen“ (Karl 2008, 111). Stefan Kaufmann beschreibt ein solches „Aufgehen im Tun“ als einen Zustand, der die Trennung zwischen sich und Umwelt auflöst, als ein „vollständiges, rauschhaftes Eintauchen in die Mikrowelt des Felses“ (Kaufmann 2004, 232). Die Innenschau oder auch die Auflösung des Ichs am Berg kann sowohl als eine kontemplative Erfahrung, einhergehend mit einem All-Gefühl sein oder als einen „Kampf gegen den Körper“ verstanden werden, bis eine „körperlose Gestalt […], die nackte Seele übrig bleibt“ (Kaufmann 2004, 235). Gleichzeitig ist der Gipfel, der Weg oder Linie dorthin eine „Eroberung des Nutzlosen“ (Messner 2002, 201) und wenn der Umherschweifende „im Gebirge, im Schnee, mit anderen Göttern oder ganz ohne Gott, ohne Vater noch Mutter [ist], ist er mit der Natur. […] Alles ist Maschine. Maschinen des Himmels, die Sterne oder der Regenbogen, Maschinen des Gebirges, die sich mit den Maschinen seines Körpers vereinigen. Ununterbrochener Maschinenlärm“ (Deleuze/Guattari 1977, 7). D. h., wenn die Fern- und Nahsinne verschwimmen, sich Instinkte abschalten, reines Empfinden oder ein All Gefühl sich einstellt und man von Leben in jeder Form berührt wird, die Natur in sich aufnimmt, dann ist dies ein Verharren im Inneren, das Empfinden der Immanenz, ein Intensiv-Werden.

Mit einem Intensiv-Werden ändert auch das Bergerlebnis sein empirisch-ideelles Erscheinen und ermöglicht das Schauen mit halb geschlossenen Augen, eine alchemistische Synthese des Realen (Laruelle 2014, 109), die damit beginnt, dass die Ideen, Identifikationen und Codes von der Realität sich auflösen und sich Spekulationen über die Materie erzeugen lassen, bei der eine „Kontinuität der Echos, Resonanzen, der Vibrationen zwischen den verschiedenen Ebenen der Realität, zwischen dem Menschen und ihm selbst oder seinem Bild neu erschaffen“ (Laruelle 2014, 110) wird. Stehen nicht mehr die Objektformen des Berges im Vordergrund der Erfahrung, sondern das Grenzenlose, Formlose, Endlose entsteht auch eine Grenzerfahrung mit dem Ich, weil die Wahrnehmung des Grenzenlosen, Formlosen und Endlosen, das sinnlich Fassbare sprengt (Kaufmann 2004, 214). D. h., im glatten Raum zu sein ermöglicht eine Erfahrung, die nicht darin besteht, das gesehene rezeptiv aufzunehmen, zu verarbeiten und in Erinnerungen einzuarbeiten, sondern direkt und molekular wirken zu lassen, als einzigartiges Erlebnis, um das Unwahrnehmbare wahrnehmbar werden zu lassen. Diese Deterritorialisierung des perzeptiven Rohmaterials kann als Teil einer umfassenden Schaffensdimension des oK im Entstehungszustand verstanden werden, bei der sich ein Emergenzvermögen entwickelt, dass „die Kontingenz und die Zufälligkeiten all der Vorhaben, immaterielle Universen ins Sein umzusetzen, in sich begreift“ (Guattari 2014, 129). Diese Umwandlung der Erfahrung resp. die alchemistische Synthese des Realen kann als Agens des Werdens fungieren, wenn das Unwahrnehmbare, das Unbewusste geschaffen und nicht wiedergefunden wird (Deleuze/Guattari 1992, 386f).

Das zurückziehen der Sinne, die mystische Innenschau, das Schauen mit geschlossenen Augen ist auch mit vielfältigen Körperpraktiken verbunden: Z.B., Atemtechniken, Luftanhalten, Stimulieren von Hormondrüsen.

  iii.         Körperpraktiken: Spekulationen über die Leere

Friedrich Nietzsche ging in „Ecce Homo“ und in der „Genealogie der Moral“ der Frage nach, „wie man wird was man ist“ (Nietzsche 1999, 399). Er beschrieb den Vorgang der Subjektwerdung als „Einverseelung“ bzw. als „Einverleibung“ gesellschaftlicher Moralvorstellungen, indem dem Körper die soziale Ordnung „eingebrannt“ wird, um Ideen unauslöschlich, allgegenwärtig, unvergessbar und fix zu machen (Nietzsche 1999, 210). Auch Pierre Bourdieu spricht von einer „Somatisierung der Herrschaftsverhältnisse“ (Bourdieu 1997, 166), Judith Butler von der „leiblichen Einschreibung“ (Butler 2003, 190), Michel Foucault von der „Mikrophysik der Macht“ (1976). Ihnen ist gemeinsam, dass sie die Subjektwerdung als Inkorporation hegemonialer Vorstellungen denken, die über eine bestimmte Wahrnehmung in Bezug auf den menschlichen Körper erzeugt wird und in der der jeweilige Körper durch entsprechende Praxen identisch gemacht wird mit den entsprechenden hegemonialen Vorstellungen. Das Erklärungsmodell der Einschreibung der Herrschaftsverhältnisse in den Körper beschreibt nicht nur geschlechtsspezifische Modellierungen der Körper oder die Ausübung geschlechtsspezifischer Hobbys, sondern verdeutlicht auch, dass die Subjektwerdung neben der Unterwerfung auch eine Selbstermächtigung beinhalten kann. Denn der Körper gibt dem Individuum die Möglichkeit sich eine Bedeutung zu verleihen. Demnach lässt sich der menschliche Körper als ein gesellschaftliches und kulturelles aber auch als subjektives Projekt verstehen. Es vollziehen sich nicht nur biologische Funktionen im Körper, er ist ein Aufbewahrungsort von Geschichte. Er behält das Erlebte und dient als Informationsträger von sozialen Strukturen: Denn was „der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man“ (Bourdieu 1987: 135). Insofern können auch Körperpraktiken entwickelt werden, welche die einverleibten Kräfte zerstören (Deleuze/Guattari 1992, 214), um individuelle Fähigkeiten zu vervielfachen. So beschreiben Deleuze und Guattari z.B. mit taoistischen Sexualpraktiken die Potenzierung menschlicher Fähigkeiten, indem die Bildung eines Intensitätskreislaufes von weiblicher (Yin) und männlicher (Yang) Sexualität durch gegenseitige Übertragung stärker wird: „Setzung für diesen Kreislauf und diesen Kraftzuwachs ist, dass der Mann nicht ejakuliert. Es geht weder darum, das Begehren als einen inneren Mangel zu erfahren, noch die Lust aufzuschieben, um eine Art von veräusserlichbarem Mehrwert zu schaffen, sondern vielmehr darum, einen intensiven organlosen Körper zu bilden, Tao, ein Immanenzfeld, in dem es dem Begehren an nichts mangelt und es sich daher auf kein äußerliches oder transzendentes Kriterium mehr bezieht“ (Deleuze/Guattari 1992, 215f).

Das Prinzip der Potenzierung findet sich schon bei antiken Alchemisten, auch in den hermetischen und alchemistischen Schriften von Jabir ibn Hayyan im 8. Jahrhundert oder in deutschsprachigen Schriften, wie dem Aureum Vellum von 1598. Diesen Schriften ist gemein, dass sie über esoterische, psychische und chemische Prozesse zur Herstellung des Steins der Weisen, dem Prinzip der Transmutation des niederen in das höhere Selbst, spekulieren (Södergård 1996): „Dieser Stein, der kein Stein ist, dieses kostbare Ding, das ohne Wert ist, dieses mehrgestaltige Ding, das keine Form besitzt, dieses unbekannte Ding, das jeder kennt“ (Zosimos zit. nach Haage 1996, 84 f.) ist im alchemistischen Weltbild einerseits die Medizin, das Allheilmittel, das „Elixier der Elixiere“ (Schütt 2000, 198) und andererseits die alles durchdringende Substanz, die endlose Formen annehmen kann und in allem enthalten ist (Golowin 1973). Ziel der alchemistischen Operationen ist es „einen Zustand zu erreichen, der in einer Aufhebung des Lebensstromes dem Tode gleicht und damit zugleich eine Erlösung des Bewusstseins zu ewiger Dauer und also zu ewigem Leben bedeutet“ (Schütt 1998, 204). Während das „Elixier der Elixiere“ in der Wandlung von Metallen und der „Koextensivität des Metalls mit jeder Materie“ (Deleuze/Guattari 1992, 568) gesucht wird, d. h., in der „Phänomenologie der Materie“ (Deleuze/Guattari 1992, 568), in der Wandlung des metallischen, des mineralischen in Wasser, Pflanzen, Tieren oder Salzen, gibt  es auch eine Strömung, die sich mit der geistigen Metallurgie beschäftigt, „als eine Legierung von Meditations-, also Yoga-Techniken, von schamanistischen Übungen, z. B. in Versuchen der Levitation“ (Schütt 1998, 204).

Entsprechend des hermetischen Grundsatzes „innen, so außen“, sind äußere oder innere Alchemie keine Gegensätze, sondern unterschiedliche Experimente – verbunden dadurch, das Lebenselixier im Körper oder für den Körper zu entwickeln und entsprechende Substanzen zu potenzieren. Diese Transmutationen hängen von der Feinheit ab: Je höher die Ausgangssubstanz, je feiner die Potenz, desto wirksamer, weil, so die alchemistische Spekulation, ein „tausendfaches Auf-sich-selbst-zurück-Verweisen“ (Schütt 2000, 198) das Eigentliche enthalten muss: Das Pneuma; den Geist, Windhauch, das Chi (Qì) oder Prana (प्राण), den Lebensatem (Rosen 2002).

Die Verfeinerung des Atems (Prana) ist wesentlicher Bestandteil der Yogapraxis, um das Ruhen der Sinne, Impulse, das Erlöschen, Nachlassen, das große Aufhören zu erlangen (Bhagavad Gita 6, 15). Im Yogasutra des Patanjali, der wahrscheinlich im 2. Jahrhundert v. Chr entstanden ist, werden Pranayamaübungen, d. h., Atemübungen beschreiben, welche dazu dienen durch eine Vertiefung und Kontrolle der Atmung Prana zu potenzieren- Letztlich soll so Körper und Gedanken auf das große Aufhören vorbereitent werden, den Zustand ohne Selbstinterpretationen, Selbstvergewisserungen, Selbst- und Weltvergegenwärtigungen, den Zustand der Selbstabgewandtheit (Patanjali 5, 21ff):

Während ein ungeübter erwachsener Mensch ca. 11-16 mal pro Minute atmet (Die Anzahl der Atemzüge kann je nach Tätigkeit und Erregungszustand variieren. In panischer Angst können es bis zu 100 oder mehr Atemzügen pro Minute sein. Insofern hat Rhythmus und Menge der Atmung einen Einfluss auf das Empfinden und umgekehrt), sollen Yogis üben die Atmung zu reduzieren, um ihre Empfindungen zu reduzieren: „Solange sich der Atem bewegt, so lange ist auch alles Wandelbare des Menschen unstet. Ruht das eine, kommt auch das andere zur Ruhe“, wird das Ziel der Atempraxis in der Hatha-Yoga-Pradipika (2, 2), eine klassische Yogaschrift aus dem 14. Jh., beschrieben. Die Vorbereitung auf das Anhalten des Atems wird durch unterschiedliche Atemtechniken vollzogen, wie z.B. dem Kapalabhati (Schädelleuchten): „Wie beim Blasebalg eines Hufschmieds erfolgt die Ein- und Ausatmung sehr schnell“ (Hatha-Yoga-Pradipika 2, 35). Nach einer bestimmten Anzahl von Ein- und Ausatmungen kann der Atem entweder mit dreiviertel gefüllter Lunge (Antara Kumbhaka) oder mit vollständig geleerter Lunge (Bahya Kumbhaka) anhalten werden, um einerseits die Zunahme der Kohlendioxidkonzentration im Blut herstellen, um so die Aufnahme von Sauerstoff im Blut bei der nächsten Runde Kapalabhati zu fördern. Denn je mehr Co2 im Austausch in der Lunge zur Verfügung steht, desto mehr O2 kann wieder zuführt bzw. wieder verstoffwechselt werden. Durch das Ausatmen bzw. Abatmen von Kohlendioxid werden wiederum längere Atempausen (bis zu mehreren Minuten) möglich. Der Rhythmus Kapalabhati-Kumbhaka kann so lange wiederholt werden, wie möglich: „Am Ende des Prana-Anhaltens durch Kumbhaka, soll der Yogi den Geist frei machen. So erreicht er durch diese Praxis den Zustand des Raja-Yoga“ (Hatha-Yoga-Pradipika 2, 77), die Kontrolle über Gedanken und Geist. Wenn der Atem unter Kontrolle ist, wird eine Alle-Krankheit-Zerstörung (sarva-roga-kshayh) bewirkt. In der Vereinigung des Atems mit Soma und des Lichts (Surya) kann die Kontrolle der Unsterblichkeit vollbracht werden. Dann entsteht ein Zustand des Totseins (Hatha-Yoga-Pradipika 3, 28).

Der Begriff Soma kann hier vieldeutig ausgelegt werden: Er ist in der Psycho-Somatik, in der Physiotherapie, in der Zellbiologie die Beschreibung eines Körpers. In der Rig-Veda, einer Sammlung von Zauberhymnen, werden die Rösser des Sonnengottes Surya als Soma beschrieben, es kann auch ein Nektar oder Presssaft damit gemeint sein. Der Mykologe Gordon Wasson geht davon aus, dass Soma das Extrakt einer Pflanze, dem Fliegenpilz; dem göttlichen Pilz der Unsterblichkeit, sei (Wasson 2017). Im Kundalini Yoga, dessen Ziele es ist, ebenfalls Körpersäfte bzw. Körperenergien, wie die Sexualkraft zu kontrollieren, ist Soma der Ausdruck nicht für eine äußere Substanz, sondern beschreibt eine innere Erfahrung bzw. eine innere Substanz, welche durch ein spezielles Mudra, dem Khecari Mudra, dem „Siegel des Weltraum-Durchwanderns“ (Gammenthaler 2021: 425) ausgelöst bzw. stimuliert werden kann.

Reinhard Gammenthaler, der letzte Schüler von Dhirendra Brahmachari, wurde in „Guru-Shishya-Parampara“, d. h., in die über Jahrtausende mündlich überlieferten Geheimnisse des Yoga, eingeweiht. Diese Form der Überlieferung steht in der Tradition Intensitäten, d. h., „Formen von Erregungen“ (Deleuze 2007, 130), unendliche Differenzierungen und Kopplungen des Sinnlichen (ebd. 183; 282f), anhand einer Erbfolge, welche bis auf den Gott Shiva zurückgehen sollen, von Lehrer auf Schüler zu übertragen (Gammenthaler 2021). So beschreibt Gammenthaler, dass man beim Siegel des Weltraum-Durchwanderns einen Haken in den hinteren Rachenraum einführt und das Halszäpfchen nach vorne zwischen Zähne zieht, damit man es dehnen und festhalten kann. Dies ermöglicht wiederum eine Öffnung des Rachenraums, sodass die Zunge in den Nasenraum eingeführt werden kann. Ist die Zunge durch das Zungenband behindert, kann dieses mit einem Messer eingeschnitten werden, dass die Zunge entsprechend flexibel wird. Damit lässt sich dann die Nasenatmung von innen regulieren. Mit dieser Zungenstellung können auch weitere Funktionen des Organismus, so manipuliert werden, dass Nerven und vor allem die „Schicksalsdrüse“ (Gammenthaler 2021: 420), d. h. die Hypophyse oder Hirnanhangsdrüse, „Elixiere“ produzieren, welche „zur Unsterblichkeit führen“ (Gammenthaler 2021: 421). Mittels des Khecari Mudras lässt sich der Rachen mit der Zunge verschließen und „die ‚Soma‘ genannte Flüssigkeit“, „der Nektar der Unsterblichkeit“ (ebd.) lässt sich im Kopf bewahren und konzentrieren, da er nicht in den Magen abfließen kann und dort dann zersetzt wird. Durch das Soma wird ein Levitieren im Weltinnenraum (Gammenthaler 2021: 425, siehe auch Hatha-Yoga-Pradipika 3, 72ff), in der großen absoluten Leere (Hatha-Yoga-Pradipika 3, 41; 4, 3), ein Wandeln auf dem leeren Pfad (ebd. 3, 3) möglich. „Wenn die Energie (prana) in den Haupt-Energiekanal (sushuma vahini) und der Geist (manas) in die Leere (shunye) eingetreten ist, dann sind für die Kenner des Yoga alle Handlungen (karma) ohne Basis (nirmulayati)“ (Hatha-Yoga-Pradipika 4,12).

Auch in der chinesischen Alchemie, dem „Weg des Goldenen Elixiers“ im Kontext des Taoismus (Der Lehre des Weges) und im Besonderen im Neidan, der inneren Alchemie des Taoismus, werden ebenfalls ähnliche Prinzipen und Techniken beschrieben. Z.B. im Text „Tai I Gin Hua Dsung Dschi“, den Schulprinzipien der Goldenen Blüte, welche auf das richtige Atmen fokussieren, heißt es: „Ohne Rhythmisierung des Atems kann man die tieferen Geheimnisse nicht bewirken“ (Anonym 1994, 101). In den taoistischen kosmogonischen Spekulationen bezieht sich die Leere (Wu) niemals auf etwas Nichtexistierendes, sondern ist nur Relation mit dem Dasein (You) zu verstehen. Und die Leere entsteht, wenn das Auge nicht sieht und das Ohr nicht hört (Ommerborn 1996, 92f). C.G. Jung bezeichnet den Taoismus auch als „chinesische Yogaphilosophie“ (2011, 54), mit dem Ziel der Geburt des „pneumatischen Menschen“ (ebd.). So lässt sich eine Linie zwischen den antiken Vorstellungen des Pneuma, der Verbindung aller Dinge als Teil eines großen Ganzen (Annas 1992, 19f), über alchemistische Vorstellungen bis hin Yogapraktiken oder auch den ausser-atem-geratenen Bergsteigenden ziehen. Was sie verbindet sind nicht das Erleben einer Spiritualität oder Frömmigkeit in Bezug auf eine nicht erklärbare transzendente Wirklichkeit, sondern das direkte Erleben einer Immanenz, die durch die Praxis des Ausatmens entsteht. Das Ausatmen macht das Subjekt leer, es lädt sich nicht mit Pneuma, dem „göttlichen Geist“, auf, sondern es entsubjektiviert sich. Es empfindet sich als ein Teil des Ganzen und wird dadurch unsterblich.

   iv.         n Artikulationen und transversale Konnexionen

In der folgenden offenen Synthese werden keine Doubletten des Nomadischen, der Alchemie oder von qualitativen Erfahrungen der Immanenz etc. beschrieben, sondern es werden Vervielfältigungen des Glatten, der Spekulationen über die Leere, des End- und Formlosen erschaffen. Diese Artikulationen und transversale Konnexionen dienen dazu dem oK zusätzliche Schichten hinzuzufügen. Die Differenz zwischen dem Nomadischen, der inneren Alchemie oder den qualitativen Erfahrungen der Immanenz einerseits und den organischen Subjektivierungsweisen andererseits besteht darin, dass die oK aufbauenden Praxen Entnahmen, Abtrennungen und Entsubjektivierungen vorbereiten, die „aus der Entfernung transversale Konnexionen, inklusive Disjunktionen, polyvoke Konjunktionen induzieren“ (Deleuze/Guattari 1977, 369), sodass das Individuum partial leer wird, frei von Signifikanten und Signifikaten, frei von Interpretationen wird – auch auf die Gefahr hin, dass der oK als „entartet“, „armer Irrer“ oder „Penner“ (Deleuze/Guattari 1992, 219) gebrandmarkt wird.

Eine Schicht des oK ist, mit Rückblick auf die beschrieben Praxen, mit der räumlichen und sinnlichen Wahrnehmung verbunden. Denn das Hineingehen in den glatten Raum setzt, im Gegensatz zum Verorten im gekerbten Raum, ein Auflösen der Onto-Photo-Logischen Aneignung (Laruelle 2014, 13, 57ff) voraus: So wie die ontologische Vorstellung von Männern und Frauen, diese auch hervorbringt, bringt auch die Onto-Photo-Logie eine bestimmte Repräsentation der Welt zum Vorschein. So wie die scheinbaren körperlichen Unterscheidungsmerkmale von Männern und Frauen wirkmächtig sind, dass sie die Stelle des Wirklichen einnehmen und zu quasi natürlichen Voraussetzungen bzw. zur scheinbaren binären Ontologie werden, wird auch die Wahrnehmung der Realität zur Kopie von normativen und räumlichen Symbolordnungen. Dabei ist bei der ontologischen Vorstellung von Männern und Frauen nicht der Phallus oder sein Fehlen, d. h., die Biologie das Fundament dieser Weltsicht, sondern der Diskurs, der die Einteilung in männlich und weiblich organisiert (Butler 2003). Die Onto-Photo-Logische Aneignung ist nichts anderes als der Mechanismus, durch den sich die Produktion und Normalisierung von Wahrnehmung über die Repräsentation des Realen vollzieht. Insofern hat die Onto-Photo-Logische Wahrnehmung auch eine symbolische Dimension. Sie basiert nicht auf der freiwilligen Entscheidung ein Ereignis zu erfahren, sondern auf der vorreflexiven Einordnung des Gesehenen, welche das Gesehene klassifiziert und identisch macht mit Ideen der Wirklichkeit (Laruelle 2014, 13). Eine in sich selbst umkreisende Reflexion entsteht: Interpretationen, die von sich selbst bereits Interpretationen sind und bevor die Wahrnehmung erfolgt, sind die Sinne vom Begriffsapparat schon vorbestimmt. Die Welt wird so wahrgenommen, wie sie bereits beschreiben wurde (Horkheimer/Adorno 1991, 101). Wenn aber beim Umherschweifen Begegnungen mit dem Unbekannten stattfinden, entwickelt sich „von einer Begegnung zur nächsten eine Karambolage, und die Entstehung einer Welt, das heißt des Aggregats von Atomen, die von der ersten Abweichung und der ersten Begegnung in einer Kettenreaktion hervorgerufen wird“ (Althusser 2010, 47), erneuert sich. Dadurch, dass auch jede Begegnung nicht hätte stattfinden können, begründet sich auch eine Nicht-Materialisierung der Begegnung, welche auf nicht stattgefundene Begegnungen, die Leere von Begegnungen, verweist. D. h., die nichtstattgefunden Begegnungen emergieren sich nicht nur in einer glatten Alterität als Deterritorialisierungen, sondern das Zufällige, Unbestimmte, Absichtslose begünstig auch eine Wahrnehmung, welche die Bedeutungsproduktion selbst begrenzt und der Moment der „Durchquerung der Realität oder des Übergangs durch einen bestimmten Tunnel zur anderen Seite“ (Laruelle 2014, 179), in die Leere wird ermöglicht. Diese andere Seite birgt durch die Leere gleichzeitig die unendlichen Möglichkeiten von Begegnungen mit allem in sich. Diesen absichtslosen Begegnungen fehlt die Beziehung zum Territorium, weil in ihnen sich das Viele, Grenzenlose, Zufällige spiegelt. Die Vielschichtigkeiten der nichtstattgefundenen Begegnungen vermitteln Einheiten in unendlichen Variationen, die – in Zeit und Raum als Bewegung gedacht – den Eindruck einer stetigen Transformation des Momentes direktional statt dimensional erzeugen (Deleuze/Guattari 1992, 663): Die Vergangenheit verbindet sich mit der Gegenwart, die Leere mit der Vielheit, das Einzelne mit dem Ganzen. Nicht-euklidische Labyrinthe entstehen, indem der leere Raum eingeschlossen ist und der „Metabolismus des Unendlichen“ (Guattari 2014, 21) kontaminiert die Überlagerungen der Schichten transversal. Diese Praxis des Organlosen als Loslösung des Bewusstseins vom Objektiven ist eine non-onto-photo-logische Übung, die verlangt, dass Begegnungen, Ereignisse als eigenständig behandelt werden, als reine Erfahrung außerhalb von Bestimmungen, Einordnungen, Zielen, Zwecken. Statt sich die Betrachtung der Umwelt als einen fetischistischen Realismus vorzustellen, der sich auf das Absichtsvolle stützt, ist das Hineingehen in den glatten Raum eine Umkehr dieser Ordnung. Nicht mehr der gekerbte Raum simuliert Realität, sondern das Hineingehen in den glatten Raum wird zum Ereignis der Defundierung und Diffundierung (Paulus 2020). Daher markiert die Leere auch eine Distanz zu denjenigen Orten und Vorstellungen, von denen es nicht möglich wird, Linien zu ziehen. Wenn das „Bewusstsein […] sich in Schauen auf[…]löst“ (Hua-Yang 1794, 158), entsteht eine „unendliche Leere“, die „ohne Entstehen, ohne Vergehen, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft“ (ebd.) ist.

Eine zusätzliche Schicht des oK entwickelt sich, neben seinen metallurgischen Legierungen (Deleuze/Guattari 1992, 568-574), durch das Pneumologische. Dabei lassen Atemübungen – im übertragenden Sinn – Strukturen der Subjektivität oxidieren, sich auflösen. Die beschrieben Techniken führen allerdings nicht wie in den antiken Vorstellungen zum Pleroma, dem Glanz- und Lichtmeer als Sitz einer Gottheit, sondern zu einer Verdunkelung, einer Trübung des Objekthaften. Ähnlich wie in mittelalterlichen Gottesdiensten die zugezogenen Altarvorhänge den Blick auf das göttliche Geheimnis verhinderten und plötzlich aufgezogen wurden, um die Imagination von Jesu Christi in Gestalt von Brot und Wein sichtbar zu machen, zeigt sich jedoch im Ausatmen, im Atemanhalten lediglich das Mysterium, das sich dem Eindeutigen, dem Sprachlichen, der Erklärbarkeit entzieht. Die Trübung ist wie die Transluzenz, sie lässt das klare Licht übersehen, aber zugunsten der Erfahrungen, die durch Verdunkelungen, d. h., durch ansteigende Dichten auf sich aufmerksam machen. Das, durch die Verdunkelung, Unsichtbare ist auch nicht einfach das andere des Sichtbaren, „die äußere Dunkelheit des Ausschließens, sondern gerade die innere Dunkelheit der Ausschließung, dem Sichtbaren selbst innerlich, durch die Struktur des Sichtbaren definiert“ (Althusser/Balibar 1972, 30). Insofern sind Verdunkelungen selbstzerstörerisch, weil sie überhaupt nicht zu einem wirklichen Abbild werden. In Verdunkelungen entstehen keine Bilder von Bildern, keine Reproduktionen, Referenzen, Simulationen oder Selbstvergewisserungen, sondern es entsteht deren Auslöschung. In den Erfahrungen der Opazität und der Entsubjektivierung bedroht die Dunkelheit diejenigen Beziehungen, die uns an das Reale binden (Szepanski 2018), weil sie Vielheiten modellieren, Erfahrungen entfesseln, die letztlich aufhören „irdisch zu sein, um kosmisch zu werden “ (Deleuze/Guattari 1992, 446). Dieses Intensiv-Werden ist ein Experimentieren mit geschlossenen Augen und wie bei bildgebenden Halluzinogenen geht es beim Umherschweifen oder bei Atemtechniken nicht darum zu ergründen, warum sich die Wahrnehmung verändert, sondern es geht um die Wirkung der Substanzen, welche die Veränderungen produzieren. Es geht um die Erfahrung des Leeren, das nicht mehr begrenzt und begrenzend ist, es geht um das Vergessen der Zeichen und das Auslöschen des Codes des furchtbaren Alphabets (Deleuze/Guattari 1977, 184). Es geht also darum die Intensitätsaggregate dort aufzuspüren, wo sie niemand vermutet und dort hinzugelangen, wo es leer wird, um molekular, äonisch, organlos zu werden. Denn „das Leben ist umso intensiver und kraftvoller, je anorganischer es ist“ (Deleuze/Guattari 1992, 607). Im Aufspüren des Unbekannten, im Erfahren des End- und Formlosen, im Aushalten der Erschütterung der Sinne, durch die „Koppelung der Sensationen“ (Deleuze 1993, 44) entsteht das was übrigbleibt, „wenn man alles entfernt hat“ (Deleuze/Guattari 1992, 209).

Diese offene Synthese schließt mit der Überlegung, dass der oK ein entleerter Körper ist und dessen Leerheit das Entstehungsprinzip und der Ausdruck einer Abkehr von organischen Zwängen, dem Identisch-machen, ist. In diesem Zustand der Entsubjektivierung gibt es nicht eine Wahrheit, sondern zählige Erfahrungen, deren mannigfaltigen und unendlichen Spiegelung zu Überlagerungen, zum Infiniten, zu einer totalen Irrealität werden und letztlich in die absolute Leere führen. In diesem leeren Raum bleibt das Äußere, das Objektive, wenn es in das Innere gelangt, leer, weil nur Distanz, Abwesenheit und die Leere als letzte Grenzüberschreitung herrscht. Solche Intensitäten von Enträumlichung und -zeitlichung bringen alles Multiple zum Einen als „Unendlichkeit von Modifikationen“ (Deleuze/Guattari 1992, 346). Hierbei wäre weiter zu fragen, wie die Immanenz der Welt – als „eine unilaterale Halb-Mystik, die die Welt nur braucht, um den Realismus und den Determinismus zu bekämpfen, mit dem sie beladen ist und von dem die transzendenten phänomenologischen Mittel und ein mit einer Prothese [den Organen, d.V.] versehener Körper eine Vorstellung geben“ (Laruelle 2014, 153) – weiter zu dechiffrieren wäre.

     v.         Literatur

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Wasson, Gordon. 2017. War der Soma der Arier eine uralte Rauschpflanze? In Bauer, Wolfgang/Klapp, Edzard (Hg.). Wasson und der Soma: Heiliger Pilz, berauschender Trank, göttliche Visionen – Die Entdeckungen des Ethnomykologen R. Gordon Wasson. Solothurn: Nachtschatten Verlag.

Wrana, Daniel. 2018. Erinnerungen an die Geburt des Menschen. In Schenk, Sabrina/Karcher, Martin (Hg). Überschreitungslogiken und die Grenzen des Humanen. (Neuro-) Enhancement – Kybernetik – Transhumanismus. Berlin: epubli. 243-277.

[i] Diese Kategorisierung hat weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Feststellung. Auf den Komplex des Klangerzeugens, Tanz und Ektase wird hier nicht weiter eingegangen. Für eine ausführliche Darstellung vgl. hierzu Paulus 2020 und Szepanski 2020.

Original Text PDF @META: RESEARCH IN HERMENEUTICS, PHENOMENOLOGY, AND PRACTICAL PHILOSOPHY, VOL. XIV, NO. 2 / DECEMBER402-430, ISSN 2067-3655 Foto: Stefan Paulus

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