„Der Tag danach liegt bereits weit hinter uns“

Ursprünglich veröffentlicht von Lundi Matin. Aus dem französischen ins englische Übersetzt von Not Bored!, deutsche Übersetzung Enough14.

I

Alle sprechen von „dem Tag danach“. [2] In der heutigen begrenzten [3] Vorstellungskraft hat er den lange Zeit vorherrschenden Platz der Großen Nacht [4] oder des Gesangs von morgen eingenommen. [5] Aber der Tag danach liegt bereits weit hinter uns. Der Tag danach ist derTag, der in dem einen wie in dem anderen Land auf die Ankündigung der Gefangenschaft folgte. Es war ein Zusatztag, einer, der nie hätte kommen dürfen.

II

An diesem Tag wurde der historische Horizont, der sich in einem Jahr der sozialen Krisen wieder zu öffnen begann, nicht einfach geschlossen. Er wurde brutal abgeriegelt, ohne dass ein einziger Schuss abgefeuert oder ein Staatsstreich verkündet wurde. Noch nie zuvor wurde eine so große Zahl von Menschen – mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung – in so kurzer Zeit in Gewahrsam genommen.

III

Im Laufe mehrerer Stunden gingen wir von „Alles ist in Ordnung“ zu „Nichts ist mehr in Ordnung“ über. Das Prinzip der Beiläufigkeit, welches der Marktwirtschaft so gut gedient hat, dass es den ganzen Planeten in eine riesige Jauchegrube verwandelte, wurde wie von Zauberhand durch das Prinzip der Verantwortung ausgelöscht. Aber die Wahrheit ist, dass jeder Mensch der Erpressung des Überlebens nachgegeben hat. Und deshalb ist jeder Mensch für sich selbst unverantwortlich geworden. Von nun an gibt es keine Zukunft mehr, kein mögliches Entkommen mehr. In der autistischen Welt des Spektakels bedeutet der scheinbare Sieg des Prinzips der Verantwortung den tatsächlichen Ruin des Prinzips der Hoffnung.

IV

Der Demokratie, welche nur im miesen Ritual der Wahlen überlebt hat, ist der letzte Schlag versetzt worden, (fast) ohne dass irgendjemand daran Anstoss genommen hätte. Und mit der Demokratie sind zwei der Freiheiten verschwunden, die früher als grundlegend galten: das Kommen und Gehen ohne Einschränkungen oder Bedingungen und das Zusammenkommen mit wem wir wollen. Was sich heute abspielt, ist unsere unumkehrbare Umwandlung von illusorischen politischen Subjekten in regelrechte biopolitische Nutztiere. Von nun an sind diejenigen, die sich für Menschen, wenn nicht sogar für Individuen halten, nichts anderes als Körper. Sie werden für lange Zeit nummeriert, registriert, überwacht, verfolgt und zurückverfolgt werden. Und gleichzeitig ist die alte [Form der] Politik verschwunden, ersetzt durch die Verwaltung des Überlebens. Wir werden es nicht bereuen.

V

Lasst uns Klartext sprechen. Niemand bestreitet die Realität der Gefahr oder die Notwendigkeit, die Epidemie zu beenden und so viele Menschenleben wie möglich zu retten. Aber die menschliche Gemeinschaft hätte sehr wohl selbständig handeln können, ohne ihre Gesundheit in die Hände des Staates legen zu müssen. Genau dies taten die Zapatistas sofort in Chiapas [6], als sie mit den Leugnungen des mexikanischen Staates und seiner offensichtlichen Achtlosigkeit konfrontiert wurden.

VI

Es sind nur die Bewegungen der Märkte, nicht die Bewegungen der Fledermäuse oder Schuppentiere[7], die das Virus [weltweit] übertragen haben. Obwohl sie sein Nährboden [le réservoir] sind, sind diese tapferen Tiere nur die materielle, nicht ihre tatsächliche Ursache. Wir kennen die Gründe für die recht rasche Ausbreitung des Virus: unzählige Flüge von Menschen mit dem Flugzeug, die fast immer unter so sinnlosen Vorwänden wie Arbeit oder Tourismus (diese traurige Variante der Reise) unternommen wurden. Und dann fand die Epidemie fruchtbare Felder [joyeux cours] für Wachstum in verschiedenen klimatisierten Fegefeuern: Schlachtschiffe, Kreuzfahrtschiffe, Bürotürme, Altersheime und sogar Krankenhäuser. Und nun, am Ende der Kette, trifft sie die Armen, die weder in Flugzeugen noch auf Kreuzfahrtschiffen geflogen sind, sondern in Gefängnissen festsitzen oder in den Außenbezirken vor sich hin vegetieren und allerlei Scheiße ausgesetzt sind[8] und die natürlich die Hauptlast der Krise tragen. Die Pandemie ist keineswegs eine Naturkatastrophe: Sie ist die Frucht eines sozialen Arrangements – der Marktwirtschaft -, das vor langer Zeit schon verurteilt wurde und das heute mehr denn je abgeschafft werden muss.

VII

„Der Tag danach“ hat die erste globale Dystopie in der Geschichte eingeläutet. Bisher sahen die verschiedenen Dystopien, welche die totale Weltherrschaft anstrebten (siehe Nazi-Deutschland), ihre Ausdehnung immer begrenzt, zuerst räumlich, dann zeitlich. Diejenige, welche sich nun gerade aufbaut, ist auf Dauer ausgerichtet [9]: Ihre erste Aktion bestand darin, die Bedingungen der Empfindungsfähigkeit brutal zu verändern: Die [erzwungene] physische Distanz verkümmert den sensibelsten unserer Sinne, den Tastsinn, und der quasi totale Vorrang, der den Bildschirmen eingeräumt wird, verstümmelt unsere Wahrnehmung der drei Dimensionen des Raums. Man kann annehmen, dass wir, sobald diese Epidemie besiegt ist, feststellen werden, dass sich das menschliche Verhalten radikal und für recht lange Zeit verändert hat.

VIII

Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte der Kapitalismus sein Modell: Er wurde kybernetisch. Das heißt, er behielt mehrere Rückkopplungsschleifen bei, die es ihm erlaubten, [10] wirtschaftliche und soziale Krisen abzumildern. Er wechselt zwischen Phasen, in denen die Wirtschaft verwaltet wird, und Phasen, in denen sie „liberal“ ist, aber immer innerhalb desselben Regulierungsapparats. Wenn wir unsere Kritik zu sehr auf den Neoliberalismus konzentrieren, werden wir bald unser Ziel verfehlen, nämlich den Kapitalismus in seinen beiden untrennbaren Aspekten: „liberal“ in seinen wirtschaftlichen Initiativen, “ staatlich in seiner Unterstützung der Wirtschaft“. Um die Maschine, die sich vorübergehend festgefahren hat, wieder in Gang zu bringen, konnten sie sofort die notwendigen Milliarden aufbringen. Die Nostalgiker des Keynesianismus oder der Dreißig glorreichen Jahre [11] können nicht zu ihnen zurückkehren. Sie haben vergessen, dass der Staat der beste Garant des Systems ist. Mit dem Triumph der kybernetischen Dystopie dienen sie ihm jetzt.

IX

Der Hausarrest, welcher durch die Gefangenschaft verhängt wird, ist nur die erste Stufe einer neuen vollständigen Mobilmachung. Sie machen uns bewegungsunfähig, um uns besser mobilisieren zu können. Die Mobilisierung hat bereits mit der Heimarbeit begonnen, die es den Unternehmen ermöglicht, an fixem Kapital, wie Büros und Kommunikationsgeräten, zu sparen, und bald auch an veränderlichem Kapital, mit der Umwandlung der Lohnempfänger in Subunternehmer, wobei jede*r entsprechend ihrer*/seiner* Rentabilität entschädigt werden wird. Die Mobilisierung wird fortgesetzt durch oder trotz [à travers] bedeutender planetarischer, ökologischer Gegebenheiten, welche eine riesige Spielwiese für den grünen Neokapitalismus darstellen, und mit dem Alibi, immer größere Effizienz zu suchen, d.h. immer größere Profite für die optimale Bewältigung von Mängeln und Katastrophen.

X

Diejenigen, welche eine Rückkehr zur Normalität fordern, haben verstanden, dass dies niemals geschehen wird, und sie machen sich genauso sehr Sorgen, wie sie sich die Hände reiben. Es muss festgehalten werden, dass für sie die Normalität in letzter Zeit kaum erfreulich war: Es gab Gilet Jaunes, welche die Kreisverkehre besetzten und die Straßen [in Frankreich] füllten, Barrikaden in Chile und Aufständische im Libanon. Einige haben die Vorstellung, dass sie nun, da sich die Situation zu ihren Gunsten verändert hat, langfristig in der Lage sein werden, diese zu meistern. Und doch haben sie bis jetzt blind regiert und damit gezeigt, wie wenig sie voraussehen konnten. Sie sahen nichts kommen, weder die Wut der Männer* und Frauen* noch die fatalen Launen der Wirtschaft. Und sie sehen auch nie etwas voraus, da ihnen jede historische Vision vorenthalten bleibt. Auch für sie ist der Horizont verschlossen.

XI

Was jene betrifft, die in ihren naiven reformistischen Köpfen der Meinung sind, dass sie nach der Rückkehr zu normalen Verhältnissen „nicht mehr so weitermachen werden wie bisher“, so irren sie sich gewaltig. Denn es wird keine wiederhergestellte Normalität geben. Sie wird im angenehmen Dunst der verlorenen Illusionen verschwinden. Wir werden natürlich so handeln wie „vorher“, nur wird es schlimmer werden.

XII

Diese Überlegungen skizzieren lediglich ein Bild des gegenwärtigen Moments, welches in seinen allgemeinen Entwicklungen erfasst wird, und sie deuten nicht auf einen konzertierten Plan der Verantwortlichen hin. Die Dystopie, die sich gegenwärtig installiert, ist nicht das Produkt einer Verschwörung, die von irgendeiner geheimen Regierung ausgebrütet wurde, [12] sondern stammt aus einem kontingenten Moment der Rationalisierung des Kapitalismus, der trotz allem seine wesenhafte Unsinnigkeit nicht unterdrücken kann. Die vielen unterschiedlichen Methoden, mit denen die verschiedenen Staaten auf die Epidemie reagieren, welche improvisiert und auf die zur Verfügung stehenden Mittel abgestimmt wurden, liefern die krasse Wahrheit. Im Gegenteil, ihre Unterschiede, Lügen, Ungereimtheiten und offensichtlichen Fehler zeigen, auf welch brüchigem Fundament die kybernetische Dystopie – die den Anspruch erhebt, über den Einsatz unseres Lebens in jeder Hinsicht zu herrschen – aufgebaut ist. Vielleicht ist gerade in dem Augenblick, in dem diese Dystopie sich für allmächtig hält, diese auch am verletzlichsten. Aber selbst dann müssen unsere Verlangen nach Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit groß genug und ausreichend begründet sein, damit wir unsere Kräfte verbünden können. [13] Wenn wir die utopische Bresche nicht schlagen, werden wir ewig im Tag danach leben.

Anmerkungen

[1] Joël Gayraud, „DERRIÈRE NOUS, LE JOUR D’APRÈS“, veröffentlicht in Lundi Matin #241, 4. Mai 2020: https://lundi.am/Derriere-nous-le-jour-d-apres. Aus dem Französischen übersetzt von NOT BORED! am 5. Mai 2020. Alle Fußnoten NOT BORED!

[2] Vgl. den Titel eines berühmten amerikanischen Fernsehfilms über den Atomkrieg unter der Regie von Nicholas Meyer (1983). Heute bedeutet der Satz den Tag, nachdem die Schlacht gegen das Coronavirus gewonnen wurde.

[3] Das hier verwendete französische Wort „confiné“ kann auch „spießig“ oder „abgestanden“ bedeuten.

[4] In den 1880er Jahren und für mehrere Jahrzehnte danach bedeutete le Grand Soir den Ausbruch der sozialen Revolution.

[5] Vgl. Pete Seeger, „Quite Early Morning“ (1969): „Durch all diese Welt von Freude und Trauer / Wir

kann auch morgen noch Gesang haben.“

[6] „Die EZLN schließt Caracoles aufgrund des Coronavirus und ruft die Menschen dazu auf, die gegenwärtigen Kämpfe nicht aufzugeben“, Enlace Zapatista, 17. März 2020: https://enlacezapatista.ezln.org.mx/2020/03/17/ezln-closes-caracoles-due-to-coronavirus-andcalls-on-people-not-to-abandon-current-struggles/.

[7] Säugetiere, die in Asien und Afrika beheimatet sind, Schuppentiere werden wegen ihres Fleisches und ihrer Schuppen gewildert, denen man verschiedene medizinische Eigenschaften zuschreibt. Es wird vermutet, dass das Coronavirus von solchen Tieren auf den Menschen übergesprungen ist, weil sie in der Nähe anderer wilder Kreaturen leben, die auf den „feuchten Märkten“ verkauft werden, die an Orten wie Wuhan in China zu finden sind.

[8] Das hier verwendete französische Wort „Ärgernis“ wird gewöhnlich mit „schädliche Substanzen“, „Schadstoffe“ oder sozioökonomische „Probleme“ übersetzt. Im umgangssprachlichen Englisch scheint „shit“ alle drei Bedeutungen zu beinhalten.

[9] Das hier verwendete französische Wort „Berufung“ kann auch „berufen“ oder „bestimmt“ bedeuten.

[10] Das hier verwendete französische Wort „amortisieren“ kann auch abschreiben bedeuten.

[11] Trente Glorieuses: die dreißig Jahre wirtschaftlicher Blüte zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der „Ölkrise“ Anfang der 1970er Jahre.

[12] In Kontrast dazu stehen Kommentare zu „global government“, Gianfranco Sanguinetti, „Western Despotism“ (2020): http://www.notbored.org/western-despotism.pdf; http://autonomies.org/2020/04/gianfranco-sanguinetti-a-virus-removes-the-veil-of-bourgeois-democracy/.

[13] Hier fehlt ein Schritt, auf den Raoul Vaneigem in seinen jüngsten Essays eingegangen ist, nämlich „selbstverwaltete Versammlungen“ auf der Ebene der Nachbarschaft. Vgl. “ For the Commune“ (2020): http://www.notbored.org/for-the-commune.pdf.

taken from here

Nach oben scrollen