Freiheit ohne Hoffnung

Das tiefliegende und strahlende Auge sieht überall Türen und der Mensch stürzt sich hinein, Kopf voran. Er sieht den Himmel leer und den Raum frei. Jeder Gegenstand ist für ihn Zeichen einer Macht. Aber was wird er wählen? Tyrannische Götter kommen, um ihn zu leiten und zu drängen: Begierde, Eigennutz, Liebe, Schönheit, Verstand. Er will frei und aus sich heraus entscheiden. Er will keinen Beweggrund mehr für sein Handeln. Ein Ziel ist für ihn ein Beherrscher. Er will wollen um zu wollen, handeln aufgrund bloßen Beschlusses. Die “zweckfreie Handlung” ist, so sagt er, der einzige freie Akt. Und der einzige Wert, der in der menschlichen Seele wohnen soll, ist der Wille, der frei über eine Handlung entscheidet, weder von der Vernunft geleitet, noch auf einen Zweck gerichtet.

Und genau hier fängt die Eigentümlichkeit der Revolte an, zu sterben. Denn von dem Moment an, wo man glaubte, in sich selbst einen zu erforschenden Weg, eine neue zu erstrebende Realität entdeckt zu haben, werden die Handlungen unwichtig und die Welt fremd. Wer diesen Punkt erreicht hat, bewegt sich in der Welt und vollzieht die natürlichen Handlungen des Menschen mit diesem beständigen Denken: “Da ich völlig verschieden bin von allen diesen Wesen, mir ähnlich nur der Erscheinung nach, da ich ein Engel bin und das allein wichtig ist, was soll es dann, anders zu handeln als ein Anderer?” Zur gleichen Zeit sieht er, daß gegen ein Gesetz zu handeln, immer noch heißt, aufgrund dieses Gesetzes zu handeln; systematisch gegen die Begierde zu handeln heißt, ihr noch zu gehorchen; es ist die Anziehungskraft der Erde, die den Ballon sich von der Erde entfernen läßt. Dieser Mensch, der glaubt, lediglich aufgrund seiner Verkleidung Mensch zu sein, sagt sich bei jeder seiner Handlungen mit einem inneren Lachen: “Ja, ich handle wirklich völlig wie ein Mensch.”

Er lacht über seine Handlungen nicht mit dem verächtlichen Lachen eines Besiegten, sondern mit diesem hoffnungslosen Lachen dessen, der, einmal bereit sich umzubringen, es künftig für unnütz hält, den Abzug zu drücken. Diese Scheidung von der Welt, die die Welt dem Geist gleichgültig macht, ist oft der Verzweiflung nahe; einer Verzweiflung jedoch, die die Welt auslacht. Wenn der Geist sich von den Dingen trennt, trennt sich der Körper gleichzeitig von den anderen Körpern. Seine Steifheit vereinsamt ihn und bedeckt das Gesicht mit der Muskelmaske der Ironie. Der Aufständische glaubt, den Frieden gefunden zu haben, oft glaubt er sogar, ihn das ganze Leben lang zu behalten, dabei steht er da und ist eingeschlossen in diese starre Maske der Verachtung. Der Geist nimmt die Gewohnheit an, zu allem was der Körper erleidet oder macht, zu sagen: “Das ist nicht wichtig” und der Mensch glaubt, seine Rettung gefunden zu haben. Die Existenz und die Güter diese Welt verlieren ihren Wert, nichts ist zu fürchten und die Seele führt ihre Suche nach der Reinheit weiter in dieser Steifheit des Hochmuts, der des Stoikers.

Eine Sache nur ist wichtig, sagt der Mensch, der dort angelangt ist, das ist der innere Frieden. Er glaubt ihn erhalten zu können durch die Anspannung des Willens, der sich weigert, am menschlichen Leben teilzunehmen. Aber nichts kann geschehen, um die Seele in diesem Exil zu bereichern; sie hat sich lediglich in sich selber verschlossen; in ihrem abstrakten Gefängnis ist sie vom Himmel ebenso getrennt wie von der Erde. Der drückende Überdruß und die Dürre mitsamt dem Gefolge von Versuchungen lassen ihn seine Unbeweglichkeit und sein Schlafen fühlen.

Eines Abends beugt sich der Mensch aus dem Fenster und betrachtet das Land. Bleiche und wimmelnde Dinge, Nebel oder Gespenster, steigen aus der bearbeiteten Erde und gleiten zu den Häusern; eine Katze ahmt das Todeslied eines Kindes nach, das man erwürgt und die Hunde im Mondlicht finden auf dem Grund ihrer Kehlen die gewaltige Stimme des Steppenwolfs wieder. An seinem Fenster fühlt der Mensch in sich ungeheuerlich ein wildes tierisches Verlangen erwachen, ebenfalls in das Mondlicht heulen und tanzen zu gehen, fröstelnd unter dem eisigen Licht zu laufen und sich bis zu den Häusern der Menschen vorzuwagen, um den Schlaf der Menschen auszuspähen und um vielleicht ein schlafendes Kind zu entführen. Ein Tier, ein Wolf entsteht in ihm und wächst, dehnt seine Kehle und sein Herz. Er wird anfangen zu heulen. Nein! Er ist stark! Mit einer jähen Geste wirft er sich nach hinten, schließt das Fenster und will sich vergewissern, daß er nur träumte. Dennoch, etwas verkrampft sich in der Höhlung des Magens, wie einst als Kind, als er an den Tod dachte. Er hat Angst. Aber das ist seiner unwürdig. Ist er denn nicht dagegen gewappnet? “Ohne Bedeutung”, versucht er noch zu sagen. Dennoch, er zweifelt. Er legt sich schlafen, aber sobald er versucht, der Angst zu widerstehen, kann er nicht schlafen. Nach und nach verliert er das Vertrauen in sich selbst. Er gibt sich dem Halbschlaf hin und sogleich treten die Dämonen ein. Er wird als Nachtgefährten die nasenlose Aussätzige haben, den Krötenmenschen mit Fischgeruch und den abscheulichen Kopf, vollgepumpt mit violettem Blut, der auf seinen Entenfüßen watschelt. Die mißachtete Welt übt Vergeltung auf seinem verkrampften Hals, auf seinem unsicher schlagenden Herz, auf seinem Bauch, in den die Schreckgestalten ihre Krallen bohren. Am Morgen wird er den Glauben an sich selbst erschüttert finden.

Versuchungen des Leides, der Angst oder des Überdrusses sind es, die die Seele auffordern, sie zu meistern oder sich von ihnen erdrücken zu lassen. Glücklich der, der sie erleidet, auf daß er seinen Irrtum erkenne. Eine abstrakte Lösung löst nichts; der Mensch rettet sich nur im Ganzen; nur der analytische Verstand kann in Körper und Geist trennen, denn dieser Verstand versteht und trennt aus Methode, um sich einen Gegenstand zu geben. Auch in der Gesellschaft ist eine abstrakte Lösung nichts, hier wirkt derselbe Mechanismus der Verdrängung. Man sieht Staaten mit scheinbar guter Polizeikontrolle, wo es aber oder wo es trotzdem nur eine Verdrängung der Instinkte gibt, die, unter dem heftigen Zwang einer strengen Polizei, nur mit Schwierigkeiten zum Ausdruck kommen. Sie können jedoch freien Lauf finden bei denen, die am leichtesten dem Zwang entkommen können, zum Beispiel bei denen, die Beamte dieser Polizei sind. Diese Menschen werden die Instrumente der tierischen Grausamkeit, die erwacht. In den Polizeidienststellen fesseln diese Verteidiger der Ordnung einen jungen Mann, unter irgendeinem Vorwand in einer Demonstration verhaftet, und drücken ihm die Augen aus, zerfetzen ihm mit Faustschlägen die Ohren oder sie versengen ihm die Fußsohlen bis er gesteht, was man ihn gestehen machen will. Derartige Zeichen zeigen, daß solche Gesellschaft es nicht verstanden hat, die Leidenschaften zu beherrschen, die sich in ihrem Inneren entwickeln; und das zweifellos, weil sie die Probleme der Gerechtigkeit lösen will, indem sie auf die menschliche Beziehungen Lösungen anwendet, die von weit weg durch gewisse Intellektuelle vorgeschlagen wurden. Das ist die Warnung an die Gesellschaft, daß sie der geringsten Schwäche ausgeliefert ist. Ein Glück für sie, wenn sie diese Zeichen erkennen kann! Genauso geht es mit dem Einzelnen. Nach solchen Offenbarungen muß er den Glauben finden, den er glaubte zu haben.

Auf dem Grunde dieser abschätzigen Verachtung der Welt gab es einen gewaltigen Hochmut. Der Mensch will sein Wesen außerhalb jedes Menschlichen bestätigen und so kettet er sich an, nicht nur durch den Hochmut, der seinen Geist in der alleinigen Bestätigung seiner selbst erstarren läßt, sondern auch durch die Macht der Welt, die er verachten wollte. Die einzige Erlösung ist, sich selbst völlig in jeder Handlung zu geben, anstatt so zu tun als wäre man einverstanden, Mensch zu sein. Auf daß der Körper unter die Körper gleite, gemäß dem Weg, der ihm vorgezeichnet ist, auf daß der Mensch den Gesetzen seines Wesens folgend zwischen den Menschen fließt. Man muß den Körper der Natur in uns geben, die Leidenschaften und Begierden dem Tier in uns, die Gedanken und Gefühle dem Menschen in uns. Durch diese Gabe wird alles, was die Form des Einzelnen ausmacht, der Einheit der Existenz zurückgegeben. Und die Seele, die unaufhörlich alle Formen übertrifft und nur aufgrund dieser Bedingung Seele ist, wird durch denselben Akt der Selbstüberwindung der Einheit des göttlichen Seins zurückgegeben. Diese Einheit, wiedergefunden unter zwei Aspekten und in dem einzigen Akt, der sie zusammenführt, nenne ich Gott. Gott in drei Personen.

Das Wesen des Verzichts ist es, alles zu bejahen während man es verneint. Nichts was Form hat ist Ich, aber die von mir als Einzelnem gemachten Festlegungen werden auf die Welt zurückgeworfen. Nach der Revolte, die die Freiheit in der möglichen Wahl zwischen mehreren Handlungen sucht, muß der Mensch darauf verzichten, etwas in der Welt verwirklichen zu wollen. Die Freiheit ist nicht freier Wille, sondern Befreiung; sie ist die Negation des Einzelnen. Die Seele weigert sich, sich nach dem Bild des Körpers, der Begierden, der Überlegungen zu formen. Die Handlungen werden Naturphänomene und der Mensch handelt so wie ein Blitz niederfährt. In welcher Gestalt ich mich auch begreife, ich muß sagen: Das bin ich nicht. Durch diese Selbstüberwindung weise ich jede Form an die geschaffene Natur zurück und lasse sie als Objekt erscheinen. Alles was versucht, mich zu begrenzen – Körper, Temperamente, Begierden, Glauben, Erinnerungen -, will ich der zweiten Welt überlassen und somit der Vergangenheit, denn dieser Akt der Negation ist Schöpfer des Bewußtseins und der Gegenwart, einziger und ewiger Akt des Augenblicks. Bewußtsein ist der fortwährende Selbstmord. Wenn es sich auch in der Dauer erweist, ist das Bewußtsein dennoch nur augenblicklich, das heißt, ein einfacher Akt, unmittelbar, außerhalb der Dauer.

Der Raum ist die gemeinsame Form aller Gegenstände. Ein Gegenstand ist das, was nicht Ich ist. Der Raum ist das allgemeine Grab, nicht das Bild meiner Freiheit. Wenn der Horizont aufhört, das fliehende Bild der Freiheit zu werden, wenn er nur noch eine Schranke sein wird, die vor die Augen gesetzt ist und wenn der Mensch sich von den Händen des Raumes geleitet fühlen wird, dann wird er anfangen zu verstehen, was es heißen soll, frei zu sein. Zwischen Körpern ist kein Platz für Freiheit. Der Mensch befreit sich, indem er aufhört, die Freiheit zu suchen. Die wahre Resignation gewinnt der, der sich in einem Akt Gott gibt mit Körper und Seele.

Von Resignation zu sprechen ist jedoch keine Zauberformel, die sogleich Frieden und Glück finden läßt. Allzuoft sind es gar keine Resignierten, sondern Schwache, die, die glauben, die innere Ruhe erlangt zu haben. Wie abgestumpfte Zaubersprüche wiederholen sie die paar Verhaltensregeln, die man ihnen beigebracht hat und leben so in einer niederträchtigen Ruhigkeit. Sie bejahen alles aber verneinen nichts. Und durch dieses Einverstandensein wollen sie nichts weiter als dieses Leben leben, verziert durch ungreifbare Hoffnungen, die ihre Laschheit unterhalten. Resignation kann nur die freiwillige Aufgabe einer machbaren Revolte sein. Der Resignierte muß jeden Augenblick bereit sein, sich aufzulehnen. Ansonsten würde sich der Friede in seinem Leben einrichten und er würde schlafen und erneut anfangen, mit allem übereinzustimmen. Der Akt des Verzichts ist nicht für allemal vollbracht, sondern ist eine beständige Opferung der Revolte.

Daher ist es gefährlich, den schwachen Seelen Bescheidenheit zu predigen. Das bedeutet, sie noch weiter von sich selbst zu entfernen. Der Einzelne, erstarrt und in sich verschlossen, kann ein Bewußtsein von seiner Bestimmung nur durch die Revolte erhalten. Das Gleiche gilt für eine Gesellschaft. So wie der Einzelne sich verschließt, um feige hinter den Schutzmauern von Hoffnungen und Gebeten zu schlafen, so grenzt sich die Gesellschaft ein in die Mauern der Institution. Der Individualist sucht den Frieden, indem er sich in klare und feste Grenzen einschließt, genau wie der nationalistische Staat. Der Eine wie der Andere wird seinen wirklichen Weg, den, wo er frei vorwärts geht, nicht anders finden können als in der Revolte, die die Grenzen aufbricht. Der Mensch oder die Gesellschaft muß jeden Augenblick bereit sein, auszubrechen, jeden Moment bereit, darauf zu verzichten, und beide müssen es immer zurückweisen, sich an einer bestimmten Form festzumachen. Freiheit heißt, sich der Notwendigkeit der Natur hinzugeben und der wahre Wille herrscht nur in einer Handlung, die sich vollzieht. Diese Resignation ist, im Gegensatz zur Verächtlichkeit, die Stärke selbst, denn der Körper, der in die Welt zurückgesetzt ist, nimmt so an der gesamten Natur teil. Das Nitschewo der Russen läßt den Erfolg des Marxismus in Rußland verstehen. – “Was soll’s!”, das heißt: nichts von alldem, was mich zum Handeln treibt, ist Ich. Und die Anstrengung des Willens besteht nicht darin, eine Handlung durchführen zu wollen, sondern sie sich machen zu lassen in einer beständigen Nicht-Teilnahme. Den historischen Materialismus zu bejahen hieß für die russischen Revolutionäre, die Freiheit zu finden.

Der Mensch, bevor er den Verzicht erlangt, durchläuft immer diese drei Stufen: zunächst die dumme Bejahung aller Regeln, aller Konventionen, die ihm Ruhe verschaffen; dann die Revolte in allen ihren Formen, Kampf gegen die Gesellschaft, Menschenfeindlichkeit, Flucht in die Wüste, Skeptizismus; und dann schließlich die Resignation, die beständig die Macht der Revolte ernährt.

Der Verzicht ist eine unaufhörliche Zerstörung der Panzerungen, mit denen sich der Einzelne zu bedecken versucht. Wenn der Mensch, dieser Arbeit müde, die härter ist als die der Revolte, in einem leicht beschafften Frieden einschläft, verhärtet sich dieser Panzer und nur Gewalt wird ihn zerstören können. Ununterbrochen alle Krücken der Hoffnung zurückweisen, alle festen Erfindungen der Schwüre zerbrechen, und niemals einen Sieg für gesichert halten: das ist der harte und sichere Weg des Verzichts.

Man muß die Verzweiflung dr Menschen berwirken, damit sie ihr Menschtum in das große Grab der Natur werfen und sich so, indem sie ihr menschliches Wesen seinen eigenen Gesetzen überlassen, daraus befreien.

René Daumal

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