Langeweile

Langeweile scheint die unvermeidliche Begleiterscheinung des Fehlens oder sogar der ernsthaften Unsicherheit in Bezug auf die Stabilität und Verlässlichkeit von Werten, Zielen, Bedeutungen und Verpflichtungen zu sein. Langeweile führt zu einem Nachlassen der eigenen Fähigkeit, zu affizieren und affiziert zu werden, zur Verringerung unseres potenziellen Engagements in der Welt und in der Bevölkerung der Dinge. Langeweile hat die Eigenschaft, Erwartungen und Reaktionsgewohnheiten aus ihrer konventionellen Zusammenstellung und gewohnten Wertigkeit herauszulösen. Die Unfähigkeit, die subjektive Erfahrung sinnvoll zu reflektieren, die die Metaphernlehre der Langeweile kennzeichnet, führt zu einer Situatiob, die sowohl exzessiv als auch defizitär ist, einer Situation, deren Sinnlosigkeit nicht das “Ding selbst”, sondern die stummen Refrains des Unsinns ausdrückt.

Nietzsche erfindet eine Typologie der Langeweile, in der die Langeweile zunächst ein positives Zeichen für das Leben des Gelehrten ist, während der gewöhnliche Denker vor der Langweile flieht und Zerstreuung mit seiner Teilhabe in den Unterhaltungsmaschinerien sucht, Mode, Musik und Kunst, im Reisen oder im Sportbetrieb, all den Codierungen bzw. symbolisch-kommunikativen Sinnstiftungen, die der Integration der Masse dienen. Die »gute« Langeweile gleicht dagegen einem Schwebezustand, der zwischen formloser Wahrnehmung und dem Bedürfnis nach Gestaltung pendelt. Während die romantische Langeweile eine ekstatische, letztendliche und unzweifelhafte (wenn auch unaussprechliche) Selbstpräsenz versprach, gibt die zeitgenössische Langeweile kein solches Versprechen ab und überlässt es dem Einzelnen, auf Gedeih und Verderb ein Selbstsein aus einer scheinbar uniformen Langeweile herauszuschneiden. Langeweile ist eigentlich ein Bewältigungsmechanismus, der uns vor dem Wahnsinn des Unendlichen bewahrt, aber insofern, als es kein Ende der Langeweile gibt, verdoppelt er den Wahnsinn der Unendlichkeit. Die Ausbreitung der Langeweile ist die Propagierung eines ambivalenten Ereignisses, das das Subjekt mit einer nicht fixierten Stimmung vor dem Verlust seines praktikablen Horizonts schützt.

Man sieht da gerade seinen Philosophieprofessor vor sich, denjenigen mit leiser Stimme und wohltemperiertem Klang, der erklärt, dass Heidegger wohl ahnte, dass die ontologisch-existentiale Stimmung des Man als ein Ängstlich-Sein-zum-Tode in den modernen synkretischen Differenzkulturen in das umkippt, was der Professor ein Gelangtweilt-Sein-zum-Tode nennt. Die Konsumenten unserer Metropolen, erscheinen ihm keinesfalls von Angst zerfressen, sondern trotz des 24-Stunden-Entertainments oder womöglich des Konsums von Extremsportarten, zu denen er übrigens auch seine Car-Races zählt, eher gelangweilt oder abgebrüht zu sein, ausgelaugt durch die versicherten Wiederholungsstrukturen  der täglichen Routine, aber phasenweise auch wieder köstlich amüsiert, vom internetgestützten Ballermann-Sex bis zum Boxenstopp-Sex an der Reichtumsspitze, etwa in der Flavio-Briatore-Klasse; alles in allem leiden diese Konsumenten unter dem Vergnügen und den viel zu vielen Möglichkeiten – die Möglichkeit als die härteste Droge? Die Todesdroge? -; simultan gehen die Konsumenten zu abgrundtief schlechter Langeweile durch Shopping-Malls spazieren und oft gerinnt die »gute« Langeweile selbst bei Leuten zur trivialen Frustration und taut hier und da in Gewaltexzessen wieder auf, oder man lässt Cloning, plastische Chirugie und Doping zu attraktiven Spitzentechnologien avancieren, nicht zuletzt Telematik, Informatik und Netzwerkindustrie, die nebst globalisierter Partnersuche, Avatarkram sowie Dirty-Chatting die Eigenkonstruktion eines Second Life ermöglicht, etwa die Einrichtung imaginärer Bordelle, wo die Sexuser, ganz »man« geworden, beliebig modellierte Partnerinnen oder Partner zu Sexparties einladen, badend in komplexen Stimmungen eines implizit Unbewussten, den Stimmungslagen des Gelangweiltwerdens von etwas und des Sichlangweilens bei etwas. Die radikale Mediokrität hat uns allen diese Schichten implementiert.

Die Transparenz der obsessiven Überwachung und Transkription der zeitgenössischen Kultur, sowohl in ästhetischen als auch in epistemologischen Formen, erweckt den Eindruck, dass die Welt keine Geheimnisse hat. Obwohl diese Transparenz in gewissem Sinne unwirklich ist, weil sie sich mehr auf die Zirkulation ihrer eigenen vermittelten Wissensformen bezieht als auf eine tatsächliche Welt, die abgesehen von ihren Repräsentationen existiert, ist das postmoderne Subjekt mit einer Welt konfrontiert, die scheinbar keiner Interpretation bedarf. Dementsprechend wird die Welt langweilig, weil alles transparent ist. Es ist die Hyperreflexivität der Hyperrealität, die dafür verantwortlich ist, dass die Welt als etwas bereits Vorhandenes dargestellt wird, als etwas, das all seine potenziellen Abenteuer und das Werden erschöpft hat. Zudem untergräbt aber gerade auch die Metaphorik der Langeweile ihre eigene Fähigkeit, sich zu den Bedingungen zu äußern, die das ausdrücken, was man das Gefühl der Sinnlosigkeit nennen könnte.

Fraglich bleibt, ob die gelangweilten und zugleich stark amüsierten Subjekte in der Lage sind, jene dritte, tiefe und fundamentale Schicht, die Heidegger zumindest angenommen hat, zu registrieren, die Leere im Herzen einer “Risikogesellschaft”, die permanent versucht, sich abzusichern oder zu versichern. Und wird die Langeweile von einer Person nicht mehr ausgehalten, so wendet sie sich gegen sich selbst oder schlägt in den Aktionismus von hyperaktiven, sich selbst disziplierenden, lehrenden und lernenden, also übenden Subjekten um. Man denkt an das Paradox eines weinenden oder lachenden Roboters. Die übermäßige Erregbarkeit ist der Gegenpol zur Langeweile, wobei die Pendelbewegungen das einigende Band sind, eine ubiquitäre Form des Bemühens, mit der Leere der “Risikogesellschaft”, die zugleich ihrer Fülle entspricht, auszukommen. Die Erregbarkeit manifestiert sich in allen möglichen Spielarten von Süchten oder mündet in Netzwerk-Abhängigkeiten, in der Klammer, der Relation von Wiederholungsmustern pseudorituellen Verhaltens und der Kontrolle. Aber leben wir damit schon in einer Welt jenseits des Sinns? Nein, eher der Überfülle von Sinn. Die Zukunft unserer technologischen Selbstmanipulation qua Digitalisierung, Biogenetik und Prothesenherstellung erscheint uns nur sinnlos, wenn wir sie innerhalb des Horizonts unserer Vorstellungen dessen, was ein sinnvolles Universum ist, messen wollen. Zugleich hat der Kapitalismus als erstes sozioökonomisches System die Bedeutung enttotalisiert; Kapitalismus kann sich im Zuge eines erschlaffenden Nihilismus jeder Kultur anpassen, jeder Religion, denn allein das Reale der profitmaximierenden Märkte & Netzwerke im Sinn von Sinnproduktion zählt. In Zeiten von Junk News, Junk Food, Junk Money und Junk Selfishness folgt die universelle Kamera jedem Prominenten und dessen Abklatsch nicht nur bis in das Schlafzimmer, sondern auch bis in das Badezimmer und die Toilette. Wir schauen nicht Fernsehen, wir leben mit dem Fernsehen.Ökonomisch ist der Kapitalismus mit Staatsverschuldung und Konsumentenkredit ans Ende der Zahlungsketten, kulturell in der Erschlaffungsphase des Nihilismus angelangt und politisch gleicht er einem Irrenhaus. Seine Machtimplosionen lassen allerdings angesichts des geistig-affektiven Zustands seiner Bewohner gar nichts Gutes erwarten.

David Foster Wallace sieht in der Langeweile, obwohl er sie als erdrückend empfindet, ein Gegenmittel zu dem, was er als Amerikas Sucht nach Unterhaltung undmation wahrnimmt. Aber die Auswirkungen der Langeweile sind wahrscheinlich viel zu diffus und ungleichmäßig, um den systematischen Ablenkungen und Vergnügungen, mit denen die zeitgenössische Kulturindustrie die Begierden industrialisiert, gezielt und wirksam entgegenzuwirken. Wenn die Welt bereits durch mehrere Ebenen der Simulation kodiert ist, einschließlich des Repertoires unserer Wünsche und Reaktionen, dann bedeutet Langeweile nicht, auf etwas zu warten, sondern auf nichts. Und auf nichts zu warten, bedeutet, das Risiko einzugehen, auf nichts zu warten, ein Risiko, das selbst mit einer ambivalenten Mischung aus Verwunderung und Verachtung, Fixierung und Flucht aufgeladen ist. So könnte man die Position von Wallace doch noch retten. Aber ohne Rückgriff auf eingreifende theoretische und praktische Komplexe, die die Langeweile unterbrechen oder ergänzen, kann man sich nur mit der stummen Beharrlichkeit eines Ereignisses auseinandersetzen, das uns auf seine virtuelle Unendlichkeit einstimmt. Im Neoliberalismus, der den Individuen Unabhängigkeit predigt, mit der der Einzelne das “Recht” (oder die Pflicht) hat, seine eigene Identität und seine eigenen Interessen zu wählen, ist die Langeweile ein Symptom, das das Versagen des Einzelnen widerspiegelt, die neoliberale Forderung nach Schnelligkeit, Flexibilität, Verantwortung, Motivation, Kommunikation und Initiative zu erfüllen. Langeweile erscheint für Eldritch Priest heute als ein Versagen des (neoliberalen) Individuums, sich ein ausreichendes Selbst zu sichern.

Auf den Wellen der Langeweile zu surfen, wie es David Foster Wallace vorschlägt, mag immer weniger Sinn machen. Langeweile ist nicht mehr das, was sie einmal war. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat die Langeweile so viele Löcher in den Körper jedes Genres, jedes Mediums, jeder Aufführung und jeder Kritik gebohrt, dass ihr Glücksversprechen in immer schmalere Furchen der Ablenkung geflossen ist. Das Problem mit der Langeweile ist nun, dass die Rituale des Aderlasses, die unter dem Namen “langweilige Kunst” laufen, weitgehend ununterscheidbar von den Praktiken des täglichen Lebens sind, so dass unsere Interessen in gewisser Weise ausgeblutet sind. Zu Tode gelangweilt, stirbt die postindustrielle Kultur an tausend kleinen Interessen. Die Langeweile verdichtet sich nicht mehr zu einem engen Bündel von Glückseligkeit, sie breitet sich einfach aus – das erlahmende und zugleich lärmende Temperament der schlechten oder sinnlichen Unendlichkeit der Postmoderne.

Auch die Kunst ist mit Langeweile infiziert. Während Kunstwerke weiterhin hergestellt und verkauft werden, liegt ihr wirklicher Wert darin, dass sie Platzhalter oder Zutaten für die Essays, Bücher, Konferenzen und Symposien sind, die wie Séancen zur Wiederbelebung der Toten dienen. Aus dieser Perspektive scheint das aktuelle Interesse an der ästhetischen Langeweile nicht darin zu liegen, wie sie auf jemanden wirkt, sondern darin, wie das sinnlose Abdriften und die leeren Finten eines Werks jemanden dazu bringen, darüber zu sprechen oder zu schreiben. Der Haken an der Sache, deren dialektischer Gestus tautologisch in einer immer enger werdenden Immanenzspirale zu kollabieren droht, ist natürlich, dass Kunst, die lediglich interessant ist, um über sie zu schreiben – über sie zu sprechen -, langweilig ist, und dass es lediglich interessant ist, über sie zu schreiben, weil sie langweilig ist.

Selbst noch das in der seriellen Kunst produzierte Gefühl einer abstraktifizierten Langeweile verkommt heute zum Design eines neoliberalen Gebots, das eine ständige Selbsterfindung verlangt. Die transzendentale Befriedigung, die serielle Kunst verspricht, eine Befriedigung, die ästhetische Langeweile von weltlichem Ennui und Spleen unterscheidet, ist nicht mehr wirksam.

Und so muss man heute auch das Phänomen der Ablenkung angehen: “Das Besondere an unserer heutigen Situation ist also nicht so sehr, dass unsere Kultur abgelenkt ist, sondern dass ihre hochgradig netzartige sozioökonomische Basis eine andere Modalität der Ablenkung zum Ausdruck bringt, eine, die das Bewusstsein flüchtig dezentralisiert und verzweigt, anstatt es um einen zentralen Punkt zu sammeln. Mit anderen Worten: Es gibt keinen “Punkt” mehr, sondern nur noch eine Konstellation rhythmisch und intensiv verbundener Momente von Farben, Geschmäckern, Gerüchen, Druck, Geräuschen, Temperaturen, Erregungen und Langeweile – Humes Perlen, die über Deleuze und Guattaris “glatten Raum” gebündelter Affekte und symptomatischer Materie verstreut sind. Keine Jagd mehr auf Gestalten, es ist Schnarchsaison.” Eldritch Priest

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