^^Matthäi am Letzten. Linksradikalismus in der Pandemie

Lenin und die jungen Cohn-Bendits hatten Recht. In tieferem Sinn, als die drei selbst dachten. Der ‚linke Radikalismus‘ ist die Kinderkrankheit im Kommunismus. Und: Linksradikalismus – Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus. Form und Inhalt der Sätze zeigen, dass sie keine Gegen-Sätze sind. Der Zweite stimmt, weil der Erste stimmt. Schluss 1: Der Linksradikalismus steht nicht für das Ganze des Kommunismus. Er ist etwas „im“ oder „am“ Kommunismus. Etwas, das den Kommunismus befällt: seine Kinderkrankheit, Gewaltkur gegen seine Alterskrankheit. Schluss 1.1 Der Linksradikalismus kann und soll auch nicht für das Ganze des Kommunismus stehen. Er hat eine besondere, begrenzte Aufgabe: Gewaltkur gegen das Schwachwerden, gegen die erste und gegen die letzte Schwäche des Kommunismus zu sein. Als Kinderkrankheit drückt er die Krise aus, die der Kommunismus überstehen muss, um überhaupt Kommunismus werden zu können, um zu sich selbst heranzureifen. Und: Droht der Kommunismus, alt, droht er, zu alt zu werden, überreif sich selbst zu überleben, dann ist der Linksradikalismus seine letzte Chance: Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus.

Schluss 2, den zweiten Satz für uns zum ersten machend: Der Kommunismus ist alt geworden. Vermutlich war er das schon im Moment des Abbruchs der Oktoberrevolution. Offensichtlich 1968. Überfällig 1989. Heute: Matthäi am Letzten. Schluss 2.1: Die Anspielung auf die zur Volksweisheit gewordene Theologie ist kein Zufall, sondern unumgänglich. Nicht nur in diesem Fall, übrigens. Am Schluss des Matthäusevangeliums heißt es: „Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ Der Kommunismus ist alt geworden. Der Weltuntergang ist nah. Vor ihm ist der Linksradikalismus die Gewaltkur, die er zu sein hat. Um derentwillen es den Linksradikalismus braucht. An sich braucht es keinen Linksradikalismus. Gebraucht wird er je am Anfang und je am Ende. Also jetzt. Schluss 2.1, Zusatz: Das „je“ sagt, dass Anfang und Ende wiederholt sein können, jeweils-jeweilig, dass sie wiederholt das sein können, was jetzt der Fall ist. Die Zeit ist nicht kontinuierlich. Die Geschichte auch nicht. Was nicht heißt, sie nicht auch als Kontinuum denken zu müssen. Die Dialektik kann durch die Wände gehen.

Schluss 3: Linksradikalismus ist nicht konstruktiv. Linksradikalismus ist destruktiv. Konstruktiv ist der demokratische Sozialismus, der auch etwas „im“ und „am“ Kommunismus ist, aber etwas ganz anderes. Im demokratischen Sozialismus kommt zur Reife, was Lenin „Tradeunionismus“ nannte.

Schluss 3.1: Destruktion ist kein Selbstzweck, also nicht Nihilismus. Genauer: Destruktion ist ein Symptom der Kraft und Fülle des kommunistischen Begehrens, Äußerstes seiner Kindheit, letzte Chance seines Altwerdens. Ist sie das nicht, ist sie Nihilismus.

Schluss 3.2 Destruktion ist doppelt selbstbezüglich. Der Linksradikalismus ist „im“ bzw. „am“ Kommunismus doppelt selbstbezüglich. Schluss 3.3 Er destruiert das Ressentiment. Im Ressentiment liegt, wie nicht nur Lenin, nicht nur die jungen Cohn-Bendits, sondern vor ihnen Nietzsche wusste, die wesentliche Schwäche aller Ausgebeuteten, Unterdrückten und Missachteten, also auch aller Kommunist*innen. Schluss 3.4: Der Linksradikalismus destruiert das Ressentiment, weil und sofern er Symptom der Kraft und Fülle des kommunistischen Begehrens, Äußerstes seiner Kindheit, letzte Chance seines Altwerdens ist. Das heißt nichts anderes als dass der Linksradikalismus keine Angst hat. Oder wenigstens: seine Angst auszustehen, zu wenden vermag. Der Kommunismus braucht den Linksradikalismus als die Gewaltkur, die ihm die Angst nimmt. Die ihm die Angst wendet. Schluss 3.5 Der Linksradikalismus ist die erste aller existenziellen Tugenden. Der Linksradikalismus ist das „im“ bzw. „am“ Kommunismus, was diesen die höchste Form des Existentialismus werden lässt.

Schluss 3.6: Wenn Linksradikale überhaupt eine Aufgabe haben (an und für sich haben sie gar keine Aufgabe), dann die, den Ausgebeuteten, Unterdrückten und Missachteten und unter diesen den Kommunist*innen das Ressentiment und die Angst zu nehmen. Sie können das, sofern sie aus der Kraft und Fülle des kommunistischen Begehrens und aus der ersten existenziellen Tugend heraus handeln, also denken und handeln. Das ist niemandem immer und überall gegeben, auch Linksradikalen nicht. Weshalb es nicht immer und überall Linksradikale gibt. Schluss 3.7: Linksradikale erfüllen ihre Aufgabe (noch einmal, weil es wichtig ist: an und für sich haben sie gar keine Aufgabe), indem sie den Ausgebeuteten, Unterdrückten und Missachteten und unter diesen besonders den Kommunist*innen das Ressentiment und die Angst nehmen. Sie tun das und können das nur nach dem Maß der Kraft und der Fülle ihres eigenen Begehrens und ihrer eigenen Tugend tun. Deshalb können sie auch versagen. Sie sind dann keine Linksradikalen. Davor ist niemand gefeit. Deshalb geht es in diesen Sätzen auch nicht um moralische Vorwürfe an wen auch immer. Es geht um Phänomenologie: in diesem Fall um eine Analyse der Kraft bzw. des Fehlens der Kraft oder Unkraft des Begehrens, der Tugend oder Untugend der Existenz. Beides kann jedem und allen mal passieren. Es kommt aber auch und gerade hier darauf an, was er oder sie daraus macht.

Schluss 4: Linksradikale stellen keine Forderungen. Niemals, nirgendwo. Schluss 4.1: Treten Linksradikale zu diesem Satz in Verhandlungen ein, hören sie auf, Linksradikale zu sein. Schluss 4.3: Das kann umständehalber nötig werden. Linksradikale handeln dann wie alle Welt: tradeunionistisch. Schluss 4.4: Der Linksradikalismus wird gebraucht, um das Eintreten dieses Falles in der kommunistischen Bewegung auf sein absolutes Minimum zu reduzieren.

Schluss 5: Zeiten der Pandemie gehören nicht zu diesem Minimum. Sie sind katastrophisch (das Leben ist sterblich, Menschen deshalb und insoweit auch. Das ist kein Zynismus, sondern Phänomenologie). In der kapitalistisch-nihilistischen Moderne sind Zeiten der Pandemie Zeiten der gesteigerten, tendenziell der sich totalisierenden biopolitischen Repression, Zeiten des sich totalisierenden Staates. Schluss 5.1: Nicht nur, aber auch weil das so ist, sind Zeiten der Pandemie Zeiten des Ressentiments und der Angst. Sie sind das sogar in extremem Maß. // Schluss 5.2 Zeiten also, in denen die kommunistischen Begehren und die existenziellen Tugenden radikal geschwächt werden. Schluss 5.2.1: Zeiten also der Jeweiligkeit des Anfangs und des Endes. Schluss 5.3: Zeiten also, in denen die kommunistische Bewegung in extremem Maß auf das Einschießen kommunistischer Begehren und existenzieller Tugenden angewiesen ist, auf linken Radikalismus. Schluss 5.4: Pandemiebekämpfung ist keine linksradikale Aufgabe. Genauer: sie kann es nicht sein. Schluss 5.4.1: Linker Radikalismus bekämpft die Pandemiebekämpfung. Das ist kein Paradox. Das ist nur die aktuelle, die heutige Artikulation des Satzes, nach dem es die Aufgabe von Linksradikalen ist, dem Ressentiment und der Angst entgegenzutreten. (An und für sich haben, das muss gerade hier noch einmal festgehalten werden, Linksradikale keine Aufgaben. Sie stehen dafür ein, dass die Existenz zweckfrei, genauer: Zweck an sich selbst ist. Und: Sie stehen dafür ein, dass der Kommunismus, wie Kant wusste, das Reich der Zwecke, genauer: das Reich der Zwecke an sich selbst ist. In Sartres Worten: Kommunismus ist Antiphysis. Erläuterung, weiter in Sartres Worten: „Der Übergang zur Antiphysis bedeutet das Ersetzen der Gesellschaft des Gesetzes durch das Reich der Zwecke … Und um zu vermeiden, dass (die Kommunist*in) sich selber mystifiziert, muss man ihr die Mittel geben zu verstehen, dass das von ihr verfolgte Ziel – nenne sie es Antiphysis, klassenlose Gesellschaft oder Befreiung des Menschen – auch ein Wert ist, und dass dieser Wert nur deshalb unüberschreitbar ist, weil er nicht verwirklicht wurde. Das hat Marx übrigens geahnt, als er ein Jenseits des Kommunismus erwähnte – und Trotzki, wenn er von permanenter Revolution sprach.“ Aus: Materialismus und Revolution. In: Der Existentialismus ist ein Humanismus, Reinbek 2000: 240, 243). Antiphysis ist der Kern dessen, was anderswo Existenzökologie genannt wurde.

Schluss 5.5: Der heutige Ort des Linksradikalismus findet sich dort, wo kommunistische Begehren und existenzielle Tugenden die Pandemiebekämpfung bekämpfen und darin versuchen, die Existenz (die eigene selbstbezüglich eingeschlossen) vom Ressentiment und von der Angst zu befreien. Zusatz 1: Das schließt ein, die Angst und das Ressentiment weder zu verkennen, noch abzudrängen. Es gibt Formen der Pandemiebekämpfung, die selbst nur Formen der Verkennung und Abdrängung des Ressentiments und der Angst sind. Mehr noch: die selbst nichts als Ressentiment und Angst sind. In ihrem Radikal sind diese Formen des Ressentiments und der Angst bzw. von deren Verkennung und Abdrängung das, was Faschismus genannt werden muss. Zusatz 2: Leute, die sich an der biopolitischen Repression beteiligen oder gar deren Intensivierung fordern, können alles Mögliche sein (das zu erwähnen, ist wichtig). Sie sind aber keine Linksradikalen. In vielen (nicht: allen) Fällen artikulieren sie Angst und Ressentiment. Richtig schlimm wird es, wenn sie Angst und Ressentiment auch noch schüren, bei sich und bei anderen: zerocovid. Auch hier steigern sich Angst und Ressentiment bezeichnenderweise zur Kriegs-, Auslöschungs- und Allmachtsphantasie. Dem Virus gegenüber, das auch Leben ist. Es ist wichtig zu verstehen, dass Kriegs-, Auslöschungs- und Allmachtsphantasien nicht Antiphysis sind, sondern ein Paradox der Physis.

Schlusssatz. Der Kommunismus ist alt geworden. Vielleicht ist er schon zu alt geworden. Das Reich der Zwecke wird, wenn es noch weltweit wird, Post-Empire, eine kranke und alte Welt bewohnen. Begehren und Tugend können sich aber auch dann, sogar dann noch bewähren. Als Zwecke an sich selbst. Das belegt noch einmal, dass Sartre im Begriff der „Antiphysis“ einer glücklichen Intuition zum Ausdruck verhalf. Noch immer, noch heute und morgen aber kann der Linksradikalismus Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus sein. Er wäre dann zugleich seine Kinderkrankheit. Allons enfants. Es ist Matthäi am Letzten.

Literatur neben der Jean-Paul Sartres: W.I. Lenin, Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung. In: Ausgewählte Schriften I: Berlin-Ost 1955: 175-324. W.I. Lenin, Der ‚linke Radikalismus‘, die Kinderkrankheit im Kommunismus. In: Ausgewählte Schriften II: Berlin-Ost 1955: 669-755. Gabriel und Daniel Cohn-Bendit, Linksradikalismus. Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus. Reinbek: 1968. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart 1984. Thomas Seibert. Zur Ökologie der Existenz. Freiheit, Gleichheit, Umwelt. Hamburg 2017.

Foto: Sylvia John

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