Pandemie Kriegstagebücher – Kronstadt 21 – Part1

Vielleicht stellte jemand Spekulationen über unseren Aufstand an. Das geschieht immer in solchen Fällen, aber ich muss sagen, dass das nutzlos war. Stellen wir keine Mutmaßungen darüber an, was hätte geschehen können, wenn die Ereignisse eine andere Wendung genommen hätten, denn alles hätte passieren können, und wir konnten nichts vorhersehen. Aber so lange sie noch lebten, waren die Kronstädter nicht bereit, anderen die Initiative zu überlassen, wer immer es auch sei”

Stepan M. Petritschenko, Maat der Petropawlowsk.

Als ich letztens auf der “Gewinn-Seite” des Pandemie Ausnahmezustandes die Absage des Fusion Festivals für 2020 verbuchte (neben dem Wegfall der Fahrscheinkontrollen im ÖPNV und dem Klappern der Rollkoffer auf den Gehwegen der Stadt, sowie natürlich der Absage des Myfest), schrieb mir ein aufständischer Freund, ich solle doch bedenken, wie viele linke Projekte sich u.a. aus dem Überschuß der Fusion finanzieren würden. Ich war im ersten Moment so perplex über seine Reaktion, dass mir die naheliegendste Antwort nicht einfiel: Was denn der Verlust daran sei?

Wenn sich die Sinnhaftigkeit einer Fundamentalopposition zu beweisen hätte, dann doch wohl in der Zuspitzung eines von der Regierung verhängten Ausnahmezustandes. An dieser Tatsache ändert auch nichts, dass dies derzeit nicht im Rahmen der 1968 von der großen Koalition beschlossenen Notstandsgesetze (die im ursprünglichen Entwurf auch noch als ‘Ausnahmezustand’ tituliert wurden und die damals gegen breiten gesellschaftlichen Widerstand bis hinein in die Gewerkschaften beschlossen wurden), sondern im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes geschieht.

Aber diese Fundamentalopposition hörte im März 2020 über Nacht auf zu existieren, oder wäre es sinnvoller davon zu sprechen, es zeigte sich, dass diese gar nicht existierte. Bis auf wenige, vereinzelte Stimmen herrschte entweder Schweigen oder sogar begeisterte Zustimmung zu den Verordnungen der Regierung – Verordnungen, nicht einmal Gesetze, selbst im Kampf gegen die zahlenmäßig überschaubare bewaffneten Gruppen der Stadtguerilla, bzw. deren inhaftierte Mitglieder bemühte man zur Verabschiedung des Kontaktsperregesetzes am 29. September 1977 immerhin das Parlament. Und es fanden sich sogar 4 Abgeordnete, die gegen das Eilgesetz stimmten ( sowie 17 Enthaltungen) und dies obwohl der Arbeitgeberpräsident und frühere SS Hauptsturmführer Schleyer sich zu diesem Zeitpunkt in der Gewalt eines Kommando der RAF befand – viele selbsternannte radikale Linke forderten sogar in den sozialen Medien ein härteres Durchgreifen gegen vermeintliche Störer der Sicherheit, weil sich diese trotz der Verordnungen nicht an die Kontaktverbote und Ausgangssperre hielten, zu diesem Zwecke wurden sogar teilweise Fotos der Übeltäter hochgeladen und ins Netz gestellt. Und wer sich im Frühjahr auf den diversen accounts von linken-und Szenegruppen umsah, konnte dort massenhaft unkommentierte Reproduktionen von Stellungnahmen von Regierungsinstitutionen-und Vertretern, bzw. den führenden Mitgliedern der Regierungsparteien wiederfinden.

Als es vor einigen Wochen zur Rücknahme einiger Regelungen des Ausnahmezustandes kam, brach vor allem unter den braven Anhängern der “radikalen Linken” ein Aufschrei der Entrüstung aus, es handele sich ausschließlich um Konzessionen “an die Wirtschaft”, die vielen Menschen das Leben kosten werde. An dieser Haltung sind zwei Dinge bemerkenswert. Erstens die Unterstellung, die Ausrufung des Ausnahmezustandes sei in der Priorität zum Schutz des Lebens “der Menschen” geschehen.

Man muss sich schon entscheiden, entweder man ist aus gutem Grund Todfeind der herrschenden Ordnung, die jedes Jahr Mio von Menschen das Leben kostet oder eben nicht. Partiell gibt es fundamentale Gegnerschaft nicht. Und zweitens ist natürlich die Verhängung des Ausnahmezustandes genauso wie die teilweise Rücknahme in erster Linie “den wirtschaftlichen Interessen” geschuldet. Eine grassierende Pandemie mit einer hohen Anzahl an Erkrankten im Zentrum der Verwertungsmaschinerie sollte verhindert werden, die Vermeidung von Toten ist dabei nur aus Gründen der Staatsraison als Legitimationsbasis von Bedeutung, sonst wäre man ja auch nicht bereit, jederzeit Kriege zu führen, die auch unter den Angehörigen der “eigenen Bevölkerung” eine hohe Anzahl an Opfern fordern können. Die “Wiederankurbelung” der Wirtschaft war von vornherein oberste Priorität der strategischen Entscheidungen im Machtzentrum. Die Abwägung des Verhältnisses von zu erwarteten Anzahl an Toten zum Umfang der wirtschaftlichen Rezession stand nie in der Substanz zur Disposition. Es ging nur um die Fragestellung, unter welchen Parametern man diesen Prozeß gestaltet. Eigentlich sind diese Klarstellungen Binsen unter “radikalen Linken” und deshalb ergibt sich daraus die Fragestellung, mit welchen Prozessen wir es hier im Mikrokosmos der “radikalen Linken” zu tun haben.

Nun ist es jedem Menschen gestattet, Angst zu haben, auch eine überschießende Panik gehört ebenso zu den Grundausstattungen unseres Selbst. Angesichts der gezielten “Schockstrategie” mit der die Ausrufung des Ausnahmezustandes medial vermittelt wurde, sei es uns allen gestattet, eben genau diese Gefühle zu empfinden, daran ist nichts verwerfliches. Das Problem fängt da an, wo wir als politische Subjekte und Zusammenhänge unsere Ängste in einer Art und Weise rationalisieren, dass sich daraus Legitimität für Unterdrückung ableitet. (Ein Verhaltensmuster das wir zu Recht an Rassisten kritisieren.) Es sei jedem unbenommen, sich in die eigene Wohnung zurückzuziehen, daraus aber abzuleiten, dass dies erstens Leben rette und zweitens unter Berufung auf die Herrschenden und ihren Apparat (Medien, Wissenschaft) dies in aller Rigorosität von allen einzufordern, ist nicht nur anmaßend, sondern Herrschaftspolitik.

Jeder, der noch halbwegs bei Verstand ist, wird angesichts einer Krankheit, deren Übertragungswege klar sind, Maßnahmen ergreifen, um sich und andere zu schützen. Nicht anders war z.B. der Umgang in der Schwulenbewegung mit den Anfängen der HIV Infektionen (Während damals schon von Teilen der politischen Klasse hierzulande Quarantänelager gefordert wurden). Die Behauptung, dass dies nicht möglich sei, sondern nur durch staatlichen Zwang durchsetzbar ist, ersetzt das Prinzip der Aufklärung, auf das sich die Linke beruft, durch den Rückgriff auf absolutionistische Prinzipien. Die zugespitzte Perversion solcher Denke findet sich in Stellungnahmen wiejüngst im ak, in der der Verlust von Freiheitsrechten als sekundär bezeichnet und Protagonisten einer radikalen Kritik am Ausnahmezustand eine unfreiwillige Allianz mit “neoliberalen Elementen” unterstellt wird.

Oder anders gesagt, hinter dem Motiv, sich hinter die staatlichen Maßnahmen zu stellen, scheint hinter dem mit breiter Brust vor sich hergetragenden Altruismus eine Haltung auf, die schon seit langem die radikale Linke dominiert: Im Kern geht es nur noch um partizipatorische Konzepte. Darum Faktor “in den kommenden Verteilungskämpfen” zu sein. Das diese ganze Verteilerei zu Lasten derjenigen stattfindet, die weltweit im wahrsten Sinne des Wortes sich zu Tode schuften oder als “Überflüssige” vor sich hin vegetieren, interessiert hierzulande höchstens noch in der Skandalisierung von Einzelfällen- und Schicksalen. In der Formierung der “Schicksalsgemeinschaft” der vom Virus bedrohten Bevölkerung des Nationalstaates scheint jene Metropololenbornierheit wieder auf, deren sich die hiesige Linke scheinbar nicht entziehen kann oder will. Das in einer angeblich “kommunistischen Gruppe” wie TOP der Verteidigung der EU das Wort geredet wurde, erweist sich nun im Nachhinein nichts als Entgleisung einer Minderheitenposition, sondern als Vorwegnahme der gelungenen Integration in eine kollektive Abwehrgemeinschaft der Pandemie Metropolengesellschaft, mit der radikal zu brechen ist. Wem angesichts der Formierung eines völkischen Kollektivs, das einem in jedem “Wir meistern das gemeinsam” Werbespots-und Politikerstatements direkt in die Fresse springt, nicht das kalte Grausen beschleicht, wozu dieses “Wir” noch alles in der Lage sein wird angesichts der Krisen und Verwerfungen, die die kommenden Jahrzehnte mit sich bringen werden, dem ist nicht mehr zu helfen, der ist für eine antagonistische Opposition verloren.

Das die das letzte Jahrzehnt dominierenden weltweiten Revolten und Aufstände mit dem linken Kanon nichts mehr zu schaffen hatten, war ebenso folgerichtig wie wegweisend. Im derzeitigen weltweiten Ausnahmezustand, dessen Folgen wahrscheinlich wesentlich mehr Menschen das Leben kosten werden (durch Armut, Unterernährung, Wegfall von gesundheitlichen Präventionsprogrammen- und Behandlungen, polizeilicher und militärischer Repression,…) als die Pandemie selber, bilden sich schon die Grundzüge der zukünftigen Konfliktualität ab. Die Frage wird sein, inwieweit hierzulande antagonistische Splitter einen Diskussions-und Organisierungsprozess anzuschieben in der Lage sind, die sie Teil der kommenden Aufstände sein lässt.

Nach diesem Abgesang auf die hiesige Linke die Übersetzung eines Abgesangs von Giorgio Agamben auf “die Studenten”:

Requiem für die Studenten

GIORGIO AGAMBEN

Erstmals veröffentlicht auf der Website des Istituto Italiano per gli Studi Filosofici am 23. Mai 2020

Wie wir vorhergesagt haben, werden die Universitätskurse ab dem nächsten Jahr online abgehalten. Was für einen aufmerksamen Beobachter offensichtlich war, nämlich dass die so genannte Pandemie als Vorwand für die immer weiter um sich greifende Verbreitung digitaler Technologien genutzt werden würde, hat sich nun bewahrheitet.

Wir sind hier nicht an der konsequenten Umgestaltung des Unterrichts interessiert, bei der das Element der physischen Präsenz, das in der Beziehung zwischen Schülern und Lehrern zu allen Zeiten so wichtig war, endgültig verschwindet, ebenso wie die kollektiven Diskussionen in den Seminaren, die den lebendigsten Teil des Unterrichts darstellten. Es ist Teil der technologischen Barbarei, dass wir die Auslöschung jeder Sinneserfahrung und den Verlust des Blicks aus dem Leben erleben, dauerhaft gefangen in einem spektralen Schirm.

Viel entscheidender für das, was geschieht, ist etwas, über das bezeichnenderweise überhaupt nicht gesprochen wird: nämlich das Ende des Studentendaseins als Lebensform. Die Hochschulen sind in Europa aus studentischen Vereinigungen – den Universitäten – entstanden, und ihnen verdanken sie ihren Namen. Student zu sein bedeutete zunächst einmal eine Lebensform, in der das Studium und das Hören von Vorlesungen sicherlich bestimmend waren, aber nicht minder wichtig waren die Begegnungen und der ständige Austausch mit anderen Gelehrten, die oft aus weit entfernten Orten kamen und die sich nach ihrem Herkunftsort in Nationen zusammenfanden. Diese Lebensform entwickelte sich im Laufe der Jahrhunderte auf verschiedene Weise, aber von den clerici vagantes des Mittelalters bis zu den Studentenbewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts blieb die soziale Dimension des Phänomens konstant. Wer schon einmal an einer Universität unterrichtet hat, weiß sehr gut, wie vor seinen Augen Freundschaften geschlossen werden, und es bilden sich je nach kulturellen und politischen Interessen kleine Studien- und Forschungsgruppen, die auch nach dem Ende des Unterrichts weiter existieren.

All dies, das fast zehn Jahrhunderte andauerte, endet nun für immer. Die Studenten werden nicht mehr in der Stadt wohnen, in der sich die Universität befindet, sondern jeder wird die Vorlesungen abgeschlossen in seinem eigenen Raum hören, der manchmal Hunderte von Kilometern von seinen ehemaligen Weggefährten entfernt ist. In den kleinen Städten, die einst prestigeträchtige Universitäten waren, werden die Studentengemeinschaften, die oft der lebendigste Teil von ihnen waren, von ihren Straßen verschwinden.

Von jedem gesellschaftlichen Phänomen, das stirbt, kann man sagen, dass es in gewisser Weise sein Ende verdient hat, und es ist sicher, dass unsere Universitäten an einem solchen Punkt der Korruption und der fachlichen Ignoranz angelangt waren, dass es unmöglich ist, sie zu bedauern, und dass die Lebensform der Studenten infolgedessen genauso verkommen war. Zwei Punkte müssen jedoch unbedingt festgehalten werden:

die Professoren, die – wie sie es massenhaft tun – akzeptieren, sich der neuen Telematik-Diktatur zu unterwerfen und ihre Kurse nur online abzuhalten, sind das perfekte Äquivalent zu den Universitätsprofessoren, die 1931 dem faschistischen Regime die Treue geschworen haben. Wie damals geschehen, ist es wahrscheinlich, dass nur fünfzehn von tausend sich weigern werden, aber sicherlich werden ihre Namen neben denen der fünfzehn Professoren, die nicht einen Eid geleistet haben, in Erinnerung bleiben.

Studenten, die das Studium wirklich lieben, werden sich weigern müssen, sich an so veränderten Universitäten einzuschreiben und wie am Anfang neue Universitäten zu gründen, in denen nur angesichts der technologischen Barbarei das Wort der Vergangenheit lebendig bleibt und so etwas wie eine neue Kultur geboren wird – wenn sie denn geboren wird.

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