Weiteres ZU Finance, Klimakrise und Katastrophe.

“In einer Gesellschaft, die sich – durch prophylaktische Maßnahmen, durch die Vernichtung ihrer eigenen natürlichen Bezugspunkte, durch die Beschönigung der Gewalt, durch die Ausrottung aller Keime und des verfluchten Anteils, durch kosmetische Operationen am Negativen – ausschließlich mit quantifiziertem Management und mit dem Diskurs des Guten zu befassen sucht, in einer Gesellschaft, in der es nicht mehr möglich ist, vom Bösen zu sprechen, hat sich das Böse in all die viralen und terroristischen Formen verwandelt, von denen wir besessen sind.” Baudrillard

Von Permakrisen, Polykrisen, sich überlappenden Krisen oder gar von der Katastrophe zu sprechen, wie ich es in meinem neuen Buch „Die Ekstase der Spekulation. Kapitalismus im Zeitalter Katastrophe“ auch tue, ist ein offenes Geheimnis. So schreibt der ehemalige Vizepräsident der Weltbank Vincent Thomas aktuell in der Financial Times von sich überlappenden Krisen, die das globale Finanzsystem zerbrechen könnten. Er denkt dabei vor allem an das Zusammenspiel von Klimakrise und finanzieller Fragilität, das potenziell unüberwindbare Gefahren birgt, wenn nicht sofort gehandelt wird. Einerseits weist Thomas auf die Gefahren hin, die sich aus dem beispiellosen Ausmaß der globalen Verschuldung und dem unregulierten Charakter des Schattenbankensystems ergeben, das aus Nicht-Banken wie Hedgefonds, Pensionsfonds, Versicherungsgesellschaften usw. besteht und heute etwa die Hälfte der globalen Finanzierung dominiert. Andererseits macht er sich Sorgen über die Auswirkungen des Klimawandels auf Versicherungsunternehmen, die Lebensmittelversorgung und die Lieferketten der Industrie. Er kommt zu dem Schluss dass, um eine sich anbahnende Finanzkrise abzuwenden, die G20 eine umfassende Anstrengung zur Dekarbonisierung der Volkswirtschaften unternehmen müsse.

Als Banker verfährt er mit der Umwelt, von der das menschliche Leben abhängt, instrumentell.  Sie muss vor allem erhalten werden, um das Finanzsystem zu schützen. Auf dem Zentralbanker-Symposium in Jackson Hole im letzten Monat argumentierte man weitergehend, dass die hohe Staatsverschuldung – die Verschuldung im Verhältnis zum BIP ist seit 2008 im Durchschnitt von 40 Prozent auf 60 Prozent gestiegen, in den wohlhabenden Ländern sogar auf 85 Prozent – nicht sinken kann, da die Ausgaben, einschließlich der Zinsen für die Altschulden, steigen und sich das BIP-Wachstum weltweit weiter verlangsamt. Geringes Wachstum bedeutet, dass weniger Geld für neue Investitionen zur Verfügung steht, sodass die Verschuldung der Unternehmen zunimmt, während sinkende oder stagnierende Realeinkommen bedeuten, dass auch die Verschuldung der Verbraucher zunehmen muss. Die Verschuldungsmaschinerie muss also ansteigen. Wenn die Zentralbanken die Zinssätze weiter anheben müssen, um wie man glaubt, die Inflation zu zähmen, dann kann das nur durch eine weitere Verlangsamung der Investitionen funktionieren, die durch die steigende Arbeitslosigkeit auch die Löhne drücken wird. Weiterhin werden die Unternehmen, falls möglich, die Preise erhöhen. Das Gespenst der Stagflation lässt sich eben nicht ohne Weiteres bannen.

Seit Corona weiß man, dass sich ein wirtschaftlicher Zusammenbruch positiv auf das Klima auswirkt. Wenn hingegen die Wirtschaft noch ein oder zwei Jahrzehnte durchhält, mit weiteren Geldspritzen der Regierungen und damit wachsender Verschuldung und finanzieller Fragilität, dann wird sich die Umweltkatastrophe verschlimmern. Und ein Kapitalismus ist ohne Wachstum nicht denkbar. Deshalb können Zinserhöhungen nicht lange andauern. Das ist das Paradoxon.

Wenn Christine Lagarde sagt, dass es derzeit kein bereits existierendes Drehbuch für die Situation, mit der wir heute konfrontiert sind, gibt, der neue J.M. Keynes oder Milton Friedman mit einer Lösung für die Probleme nicht in Sicht ist, dann will man doch zumindest etwas gegen das Klimakrise tun. Dennoch nimmt die Produktion fossiler Brennstoffe weltweit weiter zu und die CO2-Werte steigen. Selbst mögliche kleinere symbolische Schritte wie das Verbot von Hochseekreuzfahrten, Privatjets und die Verschwendung von immer knapper werdendem Wasser auf Golfplätzen stehen nicht zur Debatte. Stattdessen wird das nächste große Klimatreffen unter der Schirmherrschaft eines Petro-Staates stattfinden.

Aber kommen wir zu einigen weiteren grundsätzlicheren Überlegungen zum Finanzsystem und zu Katastrophe, die über das Whitewashing des Systems, dessen Probleme von Thomas und Lagarde durchaus zur Kenntnis genommen werden, ohne das System selbst in Frage zu stellen, hinausgehen. Das heutige Finanzsystem bedarf des stetigen Wachstums von zeitlicher Volatilität, die aus den konkurrierenden Erwartungen der Marktakteure über zukünftige Preise resultiert. Man versucht eine Zukunft vorherzusagen, die vielleicht kalkulierbar, aber letztendlich doch unvorhersehbar ist. Im heutigen Finanzsystem wird alles, selbst noch die Katastrophe, zu einer Finanzanlage, zu einem fungiblen Pool der Liquidität. Alles, was quantifiziert werden kann, wird gehedgt, versichert, gehebelt, fragmentiert und neue zusammengesetzt. Versicherung ist alles. Das Finanzsystem ist ein Motor und keine die Realwirtschaft beobachtende Kamera.

In der neuen finanziellen Kosmologie wird Zeit „engineered“, nicht erfahren. Die gegenwärtige Polykrise ist sehr speziell zeitlich, wobei sie polyvalente und destabilisierende Unsicherheiten besitzt, die nicht mehr länger durch einen Horizont von Möglichkeiten strukturiert werden können, sondern durch Grenzen, Wahrscheinlichkeiten und Abgeschlossenheit angezeigt werden. Zeitlichkeit ist hier weniger ein Maß einer physikalischen Existenz, sondern eine Technologie, mit der systemische Bedingungen der Existenz gestaltet werden. Zeit wird selbst zum technischen Medium.

In Zeiten der Katastrophe vermischen sich Realität und Fiktion. Der globale Informationskrieg ist derzeit angesichts des Gaza-Krieges in vollem Gange. Verschiedene Versionen der Realität prallen immer offener aufeinander. Gesellschaften und Individuen wählen selbst, an welche Realität sie glauben wollen. Und dann leben sie in ihr. Es gibt nicht mehr wie in der “alten” Welt nur eine Realität. Das ist genau das, was Baudrillard unter Hyperrealität versteht.

Statistische Modelle, die Daten über Stürme, Flutrisken oder dichte Bevölkerungen erheben, um die Schäden abzuschätzen, die durch in Zukunft entstehende Stürme oder Fluten erzeugt werden, sind en vogue. Man muss allerdings Millionen von synthetischen Fluten oder Stürmen simulieren, um ein Sample mit hinreichender Größe zu erhalten, um eventuelle Schäden abschätzen zu können. Verschiedene Zeitskalen von 10 bis 100 Jahren simulieren die Möglichkeit kommender Fluten oder Stürme, um eine Periode anzuzeigen, die es den Klienten ermöglicht, einzuschätzen, wie hoch ihre kommenden Verluste sein könnten. Das darin enthaltene Risiko ist eine Bedrohung und eine Ressource. Diejenigen, die solche Katastrophen modellieren, machen wissenschaftliche Erkenntnisse für Broker und Banker verständlich und nutzbar. Es sind die Versicherer, die ihre Policen in finanzielle Instrumente verwandeln, Katastrophenbonds oder Cat Bonds, und sie in Hochrisikoklassen verkaufen. Ein kanadischer Pensionsfonds kann nun eine „Wette“ auf eine Flut in Indien oder ein Wildfeuer in Kalifornien aufgeben. Man begreift diese Naturereignisse als unkorreliert mit den Märkten und benutzt sie, um das Portfolio zu diversifizieren. Investoren setzen zum Beispiel eine Summe Geld ein, um einen Bond wie „Japan Erdbeben“ zu kaufen. Wenn das Erdbeben unter bestimmten Bedingungen wirklich geschieht, dann ist das Geld verloren. Und man muss vielleicht sogar für Schäden aufkommen. Wenn nichts passiert, dann wird der Halter des Bonds mit Gewinn ausbezahlt. Cat Bonds sind ein alternatives Investment, das vor allem mit der Volatilität von natürlichen Gegebenheiten und Assets handelt. Aber im Sog des kalten Zynismus erscheint es auch nicht mehr unvorstellbar, dass man einen „Gaza Fond“ auflegt.

In Miami zum Beispiel hat die Flut von Risikokapital die Bedrohung eines erhöhten Meeresspiegels mit einer erhöhten Markt Liquidität absorbiert, die den Bau Sektor sogar expandieren lässt. Man sieht hier die Divergenz zwischen den kurzfristigen Interessen der Entwickler von Katstrophenbonds, den mittelfristigen Risiken der Besitzer von realen und finanziellen Vermögenswerten und den langfristigen Bedingungen von Miami. Heute befindet sich dieser Markt allerdings in einer Krise.

Das Wort Katastrophe bedeutet im Griechischen ursprünglich kata (unten) und streiphen (Wendung), um eine Wendung nach unten anzuzeigen, einen Shift in einer zeitlichen Gravitation, gleich einem schwarzen Loch, das den Zeitraum neu gestaltet. Es lässt sich nun  zwischen Desaster, Katastrophe und Notfall unterscheiden. Das Desaster ist eine Krise, die für eine gewisse Zeit normale Ordnungen außer Kraft setzt. Normalität soll und kann wieder hergestellt werden. Bei Katastrophen sind jedoch politische Funktionen, die Ökonomie und die materielle und soziale Fabrik gestört oder so weit unterbrochen, dass eine Rückkehr zur Normalität in weite Ferne rückt. Die Katastrophe ist ein Loch zwischen davor und danach, das durch die alte Rationalität nicht absorbiert werden kann, während eine neue Normalität auf sich warten lässt. Die Katastrophe ist multikausal und langwierig.

Wie ein Ereignis oder eine Situation auf planetarischer Ebene, enthält die Zeit der Katastrophe eine zeitliche Suspension. Konzepte brechen auseinander, ökonomische, geopolitische und affektive Bedingungen, die Jahrzehnte lang als normal galten und für planetarische Stabilität sorgten, brechen weg. Unvorhersehbarkeit oder Kontingenz zieht auf. Ereignisse brechen in alle Richtungen los. Der Deterritorialisierung der Kapitalströme rund um den Globus folgt heute eine Reterritorialisierung der kapitalistischen Globalisierung, die mit einer  Deterritorialisierung der Natur verknüpft ist. Die Unterscheidung zwischen menschlicher und natürlicher Geschichte beginnt zu kollabieren.

Was zum Beispiel ein Vincent Thomas, der immanent im kapitalistischen System argumentiert, gar nicht verstehen will, das besteht darin, dass die Klimakrise neue spekulative Momente hervorbringt, um die planetarische Zeit zu denken. Zeit ist nicht mehr gleich der Ruine von Benjamins Engel der Geschichte, sondern bleibt zwar zunächst ein Feld von Wahrscheinlichkeiten, von dem aus zukünftige Unsicherheiten gehandelt werden. Man spricht nun aber von „downward counterfactuals“, von alternativen Zeitlinien, in und mit denen alles nur noch schlimmer wird. Physiker offerieren schon lange wahrscheinlichkeitstheoretische Modelle, bei denen alternative Trajektorien, mögliche Welten, genauso gültig sind wie die unsrige. Zu befürchten bleibt, dass sich diese Art der Offenheit zum schlechten wendet.

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