Wider den UN-Begriff “Gesellschaft”

Nichts hält sich zäher als der Un-Begriff der Gesellschaft. “Gegenwartsgesellschaft” raunt es gerade wieder aus dem Suhrkamp Wald. Geht man davon aus, dass niemand mehr eine Gesellschaftstheorie vertritt, in der Gesellschaft als Container gedacht wird, so wird doch meistens unterschlagen, dass Gesellschaft seine Innen/Außen Unterscheidung nur innen prozessiert. Dazu passt, dass noch niemand eine Gesellschaft gesehen hat, auch die Gesellschaft sich selbst nicht. Es gibt keine Bilder der Gesellschaft, außer als Simulakrum.

Baudrillard war dieser Einsicht wohl am nächsten, ohne allerdings aufzuhören, gedankenlos weiterhin von Gesellschaften zu sprechen. Bei Chul Han wird der Begriff dann vollkommen inflationär gebraucht.

Es ist der Systemtheoretiker Peter Fuchs, der von Gesellschaft, die nur durchgestrichen angeschrieben werden kann, von einem Unjekt spricht, von zeitbasierten Verkettungen spezifischer Kommunikationen und ihrer Komponenten, die von einem System selbst produziert werden, womit das System kein Ereignis außerhalb seiner selbst kennt, wenn es denn als autopoietisches System funktioniert, vollständig gleitend. Peter Fuchs spricht hier von Tauto-poiesis. Ein Unjekt hat die Eigenschaft, keine Eigenschaft zu haben.

Gesellschaft hängt von dem ab, wovon Kommunikationen handeln, sie ist das Meer endlosen Geplappers, und letztlich, wie Fuchs mit Baudrillard weiß, ist dieses Geplapper indifferent gegenüber Inhalten, Referenten, Themen und Intentionen. Gerade deshalb kann von der Müdigkeit bis zur Gegenwart alles zur Gesellschaft geraten, die dann aber nichts weiter als eine Totalitätsmetapher ist. Gesellschaftlich ist Kommunikation nur unter dem Aspekt des Ausschlusses jeglicher Bedeutung, außer der, dass Bedeutung immer irgendetwas aussagt. Sie steht unter dem Bann des durchkreuzten Sinns, oder wie Fuchs sagt, die Differenz, die Gesellschaft macht, ist Indifferenz. Gesellschaft ist ein Unding. (Jede ernsthafte Theorie beginnt, und das sagt der De-Ontologisierer Luhmann, mit einer Existenzaussage: Es gibt das System. Wir sagen, es gibt Staat, Ökonomie und Netzwerke. Dies gilt es zu beweisen. Danach kommt erst der Zweifel an dem, was die Tradition bisher als Unbezweifelbares ausgegeben hat. Deshalb spricht Marx von der Kritik an …)

Kein Wunder, dass Fuchs auf Derrida zurückgreift. Das absolute Nichts – die différance – propagiert notwendigerweise das Simulakrum einer Präsenz, die sich selbst verlagert, die sich selbst verschiebt, ihr eigener Verlust wird in der Form der Präsenz geschützt, aufbewahrt, gesehen, verzögert. Damit das Nichts so absolut sein kann, muss es sich zwischen, während und durch eine unendliche Reihe verschiedener Differenzen, Verzögerungen und Rekursionen entfalten, indem es fortwährend Bedeutung oder Sein vortäuscht, ohne sie jemals tatsächlich zu liefern.

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Oliver Marchart hat einen groß angelegten Versuch gemacht, den Begriff der Gesellschaft zu verteidigen. Dieser befindet sich in einer gewissen Nähe zu Ernesto Laclaus Theorie des Gesellschaftlichen, demnach Gesellschaft nicht zu sich kommen kann, da sie kein fixiertes Fundament oder Grund besitzt, von dem aus sie sich konstituieren könnte, weswegen auch niemals ein Abschluss der Form Gesellschaft möglich ist. Gesellschaft als Totalität lässt sich nicht repräsentieren – keinem Teil, keiner Klasse, keiner Gruppe, ja, keiner Identität gelingt es für sich zu reklamieren, die Gesellschaft als Wahrheit zu formulieren, denn die Gesellschaft bleibt für sich selbst notwendigerweise blind. In Absetzung zu bestimmten Systemtheoretikern – für Peter Fuchs ist die Gesellschaft unerreichbar, für Niklas Luhmann ist sie nicht adressierbar – produziert bei Laclau die Gesellschaft als unmögliches Objekt andauernd (tendenziell) leere Signifikanten, weil sie sich nicht selbst als die Differenz setzen kann, die Differenzen setzt. Der von allen konkreten Bedeutungen entleerte Signifikant signifiziert das metonymische Signifikationssystem als solches, das nun prinzipiell von jedem selbst der Bedeutung entleerten Element repräsentiert werden kann, ohne dass dieses jedoch Universalität in aller Vollkommenheit hervorzubringen oder zu verkörpern imstande ist. Somit bleibt Gesellschaft offen für partikulare Deutungen, Ideologien und Diskurse und damit für Kontingenz. Bei Laclau ist das Politische jener Bereich, der den paradoxen Versuch unternimmt, die Unerreichbarkeit der Gesellschaft und die Unmöglichkeit von Gemeinschaft zu symbolisieren, indem partikulare Inhalte dazu genutzt werden, Universalität zumindest temporär zu repräsentieren. Gesellschaft oszilliert zwischen Unmöglichkeit und Totalisierung, ihre Fülle ist abwesend und zugleich im Versuch, soziale Totalisierung durchzusetzen, anwesend. Die Grenze sozialer Objektivität besitzt im Antagonismus eine Form der diskursiven Artikulation (partielle Fixierung von differenziellen Elementen), insofern das Spiel der Differenzen zumindest ein gewisses Maß an Äquivalenz benötigt: Letztere denkt Laclau radikal negativ, d. h., durch die Äquivalenz zeigt sich etwas an, das gerade nicht der Gegenstand ist. Wenn Unterdrückte und Unterdrücker in ein Verhältnis der Äquivalenz treten, so besteht dieses diskursive Prinzip nur als reine Negativität, denn aus beiden Perspektiven bestimmt sich die jeweilige Identität negativ, d. h., erst gegenüber der anderen Klasse werden die Differenzen der eigenen Klasse sekundär und damit als Äquivalenz erkennbar. Wenn Laclau nun schlussfolgert, dass Partikularität Totalität verneine und zugleich erfordere, er also doch an arbiträren Gründen festhält, so verfehlt er die Problematik des bestimmungslosen Grundes in zweierlei Hinsicht: Erstens konzipiert er die gesellschaftskritische Theorie ganz unter dem Primat der Politik (und des Politischen) und zweitens dialektisiert er diese Problematik unter Beibehaltung des Begriffs der Totalität, wobei Gesellschaft einerseits ein unmögliches Objekt darstellt, andererseits doch der unabdingbare Grund jeder sozialen Objektivität bleibt. Weiterhin insistiert aber für uns hier das Problem um den unbestimmten Grund. Und Gesellschaft ist weder, noch ist sie nicht, und als solcher entgleitet sie jedem Beobachter.

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