Zu Bernard Stiegler: Hypermaterialität und Psychomacht

Bernard Stiegler läßt in diesem Buch (Gespräche mit Ph. Petit und V. Bontemps) nicht nur seine ambivalente Haltung gegenüber dem Kapitalismus erkennen, sondern auch seine Auffassung von Libido, Libidoökonomie und Sublimierung.

Geistlos…

War er zu Beginn des Buches noch der Meinung, “dass sich diese ganze Kapitalismus-Maschine komplett festgefressen hat” (62), dass “heute das System am Ende” (69) ist, findet er am Schluss, dass es “kein Anzeichen für den bevorstehenden Tod des Kapitalismus” (117) gibt. Zwischendurch bekommt man den Eindruck, dass er nur gegen den “heutigen, am Rande der Selbstzerstörung stehenden Kapitalismus” (48) etwas hat, gegen “die aktuelle kapitalistische Organisation” (116), gegen “fremdkapitalfinanzierte Übernahmen”, “Hedgefonds” und “Investoren, die zu reinen Spekulanten geworden sind” (84), also gegen “Finanzialisierung” (92, 106) und Finanzkapitalismus, der “mit kurzfristigen Kapitalrenditen” rechnet und “allen Geist verloren hat” (84) – aber nichts gegen den guten alten Industriekapitalismus. Weswegen er auch kein “postindustrielles” Zeitalter erkennen kann, weil “alles .. im Gegenteil zunehmend industriell” wird (94). Er scheint eher auf einen “neuen Typus des Kapitalismus, der noch zu erfinden bleibt” (116), zu hoffen, als auf “eine Erneuerung des Sozialismus” (116). “Der Kapitalismus wird nicht ewig dauern…”, sondern “in ein, zwei Jahrhunderten” wieder “verschwinden” (117). Der Geist (um nicht zu sagen: Ungeist), den der Kapitalismus natürlich nicht verloren hat, also die Gewinnorientierung und Profitmaximierung, ist bei Stiegler quasi kein Thema. Umso mehr dafür “der Niedergang des ´Geist-Wertes´”, der “durch die Finanzialisierung der Wirtschaft organisiert” wird – “und es liegt in der Verantwortung der öffentlichen Macht, gegen diese tödliche Tendenz zu kämpfen” (92).

…und “tödlich”

Es gibt von Stiegler einen kleinen Text (De l´ économie libidinale à l´ écologie de l´ esprit – womit der o.a. verlorene Geist gemeint ist), wo er mit dem Begriff “libidinöse Ökonomie” den Titel eines Buches von Francois Lyotard aus dem Jahr 1974 zitiert; Erich Hörl bringt am Ende seines Vorworts zu Stiegler ein Zitat aus dem kleinen Text von Stiegler, der 2006 erschienen ist, aber im ganzen Buch wird kein einziges Mal auf Lyotard und seine Libidinöse Ökonomie verwiesen – was, wie zu zeigen sein wird, doch sehr bezeichnend ist. Immerhin bringt Stiegler am Ende seines Buches ein konkretes Beispiel zum Thema Libidoökonomie und Sublimierung – das hier herangezogen sei, weil es aufschlussreich ist bezüglich der Frage, was für ein Verständnis von Libidoökonomie Stiegler im Unterschied / Gegensatz zu Lyotard hat. Er sagt dort auf S. 119f., dass die Sublimierung “heute in größter Gefahr” ist durch das, was er “Manipulationsversuchungen” nennt: “Wir befinden uns bereits mitten in einem sehr gefährlichen Entsublimierungsprozess” – und dann kommt das Beispiel eines TV-Senders, der in der Metro dafür geworben hat, “Vater oder Großvater” durch besagten Sender zu “ersetzen“. Hier geht es, sagt Stiegler, “um die Zerstörung der symbolischen Funktion des Vaters und des Großvaters, und zwar im Namen der Unterwerfung und Steuerung der ´verfügbaren Gehirnzeit´ der Kinder, was so viele Aufmerksamkeitsstörungen zur Folge hat. Hier werden primäre Identifikationsprozesse zerstört und Gehirne ohne Bewusstsein herangezogen. Die Kinder formen sich in erster Linie nicht mehr in Beziehungen zu Eltern und anderen menschlichen Wesen, sondern vor dem Fernseher. Doch ohne primäre Identifikation gäbe es keine Libido, weder psychische noch kollektive…” usw. Das erinnert im Ton sehr an “Wir amüsieren uns zu Tode” und Klagen ähnlicher Art. Und wer sich fragt, was denn bei Kindern herauskommt, die ohne Väter aufwachsen (müssen), wird sich vielleicht an Lacan erinnert fühlen… Davon mal abgesehen – um was für einen Begriff von Libido und Sublimierung handelt es sich hier? “Die Libido ist durch Techniken bedingt. Es handelt sich nicht um eine Energie, die sich spontan entwickelt und ausbreitet, sondern sie äußert sich durch Techniken, durch ´Fetische´, und ganz allgemein durch Prothesen. Es ist die techné, die Artefaktualisierung des Lebenden, die die Libido bedingt, das hat Freud nicht gedacht.” (32) Nein, in der Tat nicht. Der Fetischismus kommt nach Lacan vom die Mutter-Kind-Dyade nicht lösenden abwesenden Vater (vgl. Sem IV), hat aber nicht keine libidinöse Besetzung zur Folge (sondern im Gegenteil: eine Fixierung auf ein fetischistisches Objekt). Nach Freud ist die Libido eine “quantitativ veränderliche Kraft” bzw. “Energie solcher Triebe, welche mit all dem zu tun haben, was man als Liebe zusammenfassen kann” (Laplanche/Pontalis 285). Nach Lyotard kann sie nicht ohne ihr Gegenstück gesehen werden: den Todestrieb. Stehen die Lebenstriebe für Bindung, so die Todestriebe für Entbindung bzw. “vollständige Aufhebung der Spannung” mit dem Ziel, “Zusammenhänge aufzulösen und so die Dinge zu zerstören” (Laplanche/Pontalis 494, 502)

Nach Lyotard handelt es sich hierbei nach “Freuds letzter Triebtheorie (Jenseits…1920)” zwar um zwei Prinzipien, aber nicht um “zwei Instanzen” (LÖ 66): “Eros kann entbinden und freisetzen, der Tod kann binden bis zum Erdrosseln – und Freud selber, der das nicht klar sieht, erkennt es dennoch am Ende von Jenseits… an, als er nach einigen zunächst distanzierenden Zeilen sagt, daß das Lustprinzip den Todestrieben untergeordnet ist…” (67) – wörtlich: “Das Lustprinzip scheint geradezu im Dienst der Todestriebe zu stehen…” (SA III:271). “Und etwas später sagt Freud, daß das Nirwana-Prinzip dem Lustprinzip untergeordnet ist, wobei er unter ´Nirwana´ nunmehr jenen Kraftüberschuß versteht, der die Abfuhr über die metabolische Regel hinaustreibt, der der ´psychische Apparat´ (oder der Körper) unterworfen ist und der nun letzterem mit seinem Ausbrechen droht.” (LÖ 68) Das ganze Unternehmen von Lyotard in der LÖ besteht m.E. darin, zu zeigen, daß es eigentlich keine Sublimierung gibt, weil es nichts gibt, was nicht “besetzt” werden könnte – und umgekehrt auch nichts, wovon die libidinöse Besetzung nicht auch wieder abgezogen werden könnte. Also Territorialisierung und Deterritorialisierung, aber auch Reterritorialisierung. Wir kennen das: Regulierung und Deregulierung, Ent-Deregulierung oder Re-Regulierung.

Es ist nun wirklich sehr bezeichnend, daß der Todestrieb bei Stiegler völlig fehlt. Sein Lamento über die “Vereinnahmung der Libido” (50f.) durch den Kapitalismus ist nur deswegen irritant, weil er davon ausgeht, daß der Kapitalismus sich mal als eine (gute) “Libidoökonomie der Sublimierung strukturiert” hat, die jetzt jedoch “alle Objekte des Begehrens dem Kalkül unterwirft” und so leider für “Entzauberung” sorgt (40), und weil der Kapitalismus an “Techniken zur Fesselung und Vereinnahmung des Begehrens” interessiert ist, “die dieses Begehren zugleich vermassen, was tendenziell auf eine Zerstörung des Begehrens hinausläuft” und “die Libido ruiniert”, was “zum Triebkapitalismus, zum Triebfernsehen und sogar zur Triebpolitik” führt (93)… Sein Lamento ist vor allem deswegen nicht angebracht, weil er nicht versteht, daß genau das, was er beklagt, das Resultat der Kräfte des Todestriebs ist. “Die Libido ist das, was die Triebe bändigt – sobald sie zerstört ist, entfesseln sich die Triebe.” (93) Z.B. der Bereicherungstrieb (Marx): Ist er das Resultat einer Libido-Zerstörung, oder einer Umbesetzung? Abzug der Energie vom Äquivalenzprinzip und Besetzung des Gewinn- und Profitstrebens mit Energie. Wie auch immer: Das Kapital nimmt sich nicht erst heutzutage der Kinder an… Und warum sich von Mama nicht mit Hilfe des Fernsehers lösen, wenn Papa nicht zur Verfügung steht? Die von Stiegler so gepriesenen technischen Objekte sind doch hervorragend als Übergangs- und Ersatzobjekte geeignet… Und wenn die Puppen und Teddies von heute, die iphones und smart-Phones auch noch Daten liefern, die kostbarste Ressource – was will man mehr? Die Libido der einen richtet sich auf die begehrten Objekte, für die anderen sind die Daten die Objekte der Begierde, auf die ihre Libido sich konzentriert. Dass hier “nebenbei” auch der Todestrieb am Werk ist: der Verbrauch von Naturressourcen & die Zerstörung der Umwelt (via Produktion der technischen Geräte) auf der einen und die Anbindung und Ausbeutung der Konsumenten (zwecks Mehrwertproduktion) auf der anderen Seite – das wird in Kauf genommen einerseits und ist beabsichtigt andrerseits. Auch freiwillige Unterwerfung ist nichts Neues (vgl. E. de la Boethie vor 500 Jahren). Was, wenn all das von Stiegler so Beklagte exakt das Begehrte ist? Wenn es tatsächlich darum geht, “die von Freud so genannte libidinöse Energie zu kanalisieren, um sie von sexuellen Objekten abzulenken, damit sie sich auf gesellschaftliche Objekte wendet”, wenn es also darauf ankommt, “Triebkraft in gesellschaftliche Energie” umzuwandeln (37), dann kann man nicht behaupten, daß der Kapitalismus die Libidoökonomie “zerstört und die libidinöse Energie erschöpft” (37/38) hätte – bloß weil einem das Ergebnis der Energieanwendung nicht paßt. Man könnte allerdings erkennen, daß dabei weniger ein gesellschaftliches Objekt herausgekommen ist (das Soziale, was immer es sei), sondern ein ökonomisches (das Kapital) – woran sich die Frage knüpfen könnte, ob die Libidoökonomie wirklich zu was anderem fähig ist (etwas anderes begehrt) und ob Sublimierung wirklich das zu leisten vermag, was er sich von ihr erwartet und verspricht.

 

Foto: Bernhard  Weber

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