Apokalypse und Katastrophe

Für Baudrillard ist die Implosion immer auch eine Folge des Verschwindens der Ursachen und Wirkungen der Macht. Mit dem Kausalitätsprinzip erzeugt die Ursache die Wirkung. Ursachen haben also immer einen Sinn und ein Ende, führen nie zur Katastrophe (sie kennen nur die Krise). Der Modus der Gleichzeitigkeit, in der Systeme in ihrer Koexistenz zirkulieren, wobei für jedes System ein anderes System seine Umwelt darstellt, dominiert nun die Sukzession (wenn…dann), sodass die Kausalität an Bedeutung verliert. Die Katastrophe bezieht ihre Energie aus der Abschaffung der Ursachen, indem sie diese unter dem Einfluss der Wirkung überflutet und den kausalen Zusammenhang in den Abgrund schleudert und damit den Dingen ihr reines Erscheinen oder Verschwinden zurückgibt. Die Ursachen sind nun verschwunden, aber die Auswirkungen sind immens geworden – etwa, wenn eine lokale Katastrophe einen globalen Stillstand verursacht. Es sind nie die Ursachen, sondern die Wirkungen und Erscheinungen, die, wenn sie sich miteinander verbinden, zur Katastrophe führen. Anders als die Krise, die nur eine Unordnung der Ursachen ist, ist die Katastrophe das Delirium der Wirkungen und Erscheinungen. Es ist kein Zufall am Werk in all dem. Es handelt sich für Baudrillard vielmehr um eine formale Verknüpfung von höchster Notwendigkeit.[1] Dabei gilt es genau zwischen Katastrophe, Apokalypse und dem Ende der Welt genau zu unterscheiden. Apokalypse und Aussterben sind nicht nur unterschiedliche, sondern unvereinbare und widersprüchliche Begriffe. Kurz gesagt, während die Apokalypse den Sinn eines Endes sichert, nimmt das Aussterben das Ende des Sinns vorweg. Es wird Filmaufnahmen vom Ende der Welt geben, und wir sehen sie jetzt, und ihr hervorstechendstes Merkmal ist ihre offensichtliche Unfähigkeit, einen Schluss zu ziehen. Vielleicht gibt es irgendwann das Filmmaterial und niemanden mehr, der es sich anschaut. Die Apokalypse dokumentiert im Vorfeld schon die Langeweile des digitalisierten Termiten-Menschen angesichts des Spektakels dieses nie endenden Endes. Eine Apokalypse, die nicht wie die Quadratwurzel von minus eins phantasmagorisch oder imaginär wäre und uns nicht mit unseren eigenen Spezialeffekten auslöschen würde, könnte diesen Namen niemals verdienen. Irgendwann werden die Kameras aufhören zu funktionieren, und wir werden es nicht bemerken, wenn die Flut unserer Aufnahmen als immer wieder neu auftaucht. Den definitiven Blockbuster sieht Gary Y. Shipley in seinem Buch Stratagem oft the Corpse in acht Milliarden Menschen, die auf Laufbändern in die Leere joggen (in die Leere, die auf Bildschirmen gezeigt wird, die aber zu nah an unseren Augen sind, als dass wir sie jemals als Bildschirme sehen könnten): Die Schafe haben die Bestien der Apokalypse abgelöst. Der Höhepunkt des Zusammenbruchs wird sich selbst filmen, seine eigene Dauer dokumentieren, noch bevor er eintritt, den Sieg des Endes filmen, die Auslöschung der Weltbevölkerung als Testfeld für die Möglichkeiten des reinen filmischen Exzesses. (Shipley 2021: 34)

Es ist nicht die (aktive) Beobachtung eines Zuschauers, sondern die Passivität eines Empfängers, der selbst noch die Virtualität der Leichen am Bildschirm ohne Zensur, Frage oder Hoffnung absorbiert. Für Baudrillard gibt es selbst die Apokalypse nicht mehr, sie ist der Präzession des Neutralen, der Formen des Neutralen und der Gleichgültigkeit gewichen. Die Apokalypse ist die Enthüllung der Wirklichkeit in einer Welt, in der nur noch ihre simulierte Form existiert. Und so sind wir, nachdem die tatsächliche Apokalypse hinter uns liegt, stattdessen mit der virtuellen Realität der Apokalypse konfrontiert, mit der posthumen Komödie der Apokalypse. Mit einem stummen Gähnen unserer zufriedenen Nutzlosigkeit genießen den Krieg, der für uns im Westen nie stattgefunden hat. Es gibt keine Ideologien des Krieges mehr, es geht nur noch um die Ideologie des Krieges. Die Vorstellung vom Krieg als einem Ereignis, bei dem etwas auf dem Spiel steht, liegt hinter uns, sodass es nur noch das mediale Event gibt, womit Krieg ein leerer Bildschirm für sich selbst ist. Wir haben den Krieg (und das Ende) so oft gesehen, dass er uns überdrüssig geworden ist. Er kommt, er geht: nichts ändert sich. Aber natürlich vergeht er nie, was nicht zufällig auch zu unserer Ermüdung beiträgt. Unsere Vorstellungskraft ist zumindest dem nuklearen Krieg des Endes nicht gewachsen, sie ist nicht dem gewachsen, was ausgesetzt werden könnte, um dieses Ende zu ermöglichen. Und es ist unser Versagen, das uns den besten Beweis für die Wahrhaftigkeit des Endes liefert und dafür, dass es bereits stattgefunden hat. Jenseits des Endes gibt es nur die masturbatorische Fantasie eines Endes, nur das Versprechen, dass etwas eines Tages verschwinden und nicht wiederkommen wird, die Hoffnung, dass, wenn eine Uhr tickt, sie auf etwas zu und nicht nur von etwas anderem weg tickt, etwas, dem wir nie entkommen werden. Auf diese Weise ist für Baudrillard die Apokalypse bereits zum perfekten Verbrechen geworden. Und egal ob durch Defizit oder Exzess, die Realität wird unweigerlich das Werk der Apokalypse fortsetzen – indem sie es auslöscht. Das reale apokalyptische Ereignis wird dann zur Apokalypse der Apokalypse. (Ebd.)

Die Katastrophe kommt dagegen einer andauernden und sich verschärfenden Polykrise gleich, in der Zusammenbrüche in allen Bereichen stattfinden und eine Rückkehr zur Normalität in weite Ferne verschoben ist. Die Dinge werden beschleunigt und zugleich angehalten, bevor sie enden, um sie so auf unbestimmte Zeit in der Spannung ihrer Erscheinung zu halten. Die Katastrophe achtet eifersüchtig darauf, die Illusion der Ewigkeit zu zerstören, aber sie spielt auch mit ihr, indem sie die Dinge auf eine zweite Ewigkeit festlegt. Die Katastrophe vollendet sich nie, aber mehr als das, denn indem sie sich nie vollendet, wird sie zum Realen, zur Realität als Simulation ihrer selbst.

Das Wort Katastrophe bedeutet im Griechischen ursprünglich kata (unten) und streiphen (Wendung), um eine Wendung nach unten anzuzeigen, einen Shift in einer zeitlichen Gravitation, gleich einem schwarzen Loch, das den Zeitraum neugestaltet. Es lässt sich nun zwischen Desaster, Katastrophe und Notfall unterscheiden. Das Desaster ist eine Krise, die für eine gewisse Zeit normale Ordnungen außer Kraft setzt. Normalität soll und kann wieder hergestellt werden. Bei Katastrophen sind jedoch politische Funktionen, die Ökonomie und die materielle und soziale Fabrik gestört oder so weit unterbrochen, dass eine Rückkehr zur Normalität in weite Ferne rückt. Die Katastrophe ist ein Loch zwischen davor und danach, das durch die alte Rationalität nicht absorbiert werden kann, während eine neue Normalität auf sich warten lässt. Man könnte die Katastrophe auch eine Black Box nennen, in der die Rationalität des Modellierbaren, des Wissbaren und des Vorhersehbaren zusammenbricht. (Armand 2023: Kindle-Edition 128) Die Katastrophe ist multikausal und langwierig. Sie zeitigt das auf, was man den »homo catastrophicus« nennen könnte. Die Rede von der Katastrophe darf aber nicht dazu führen, dass der kritische Diskurs sich in die Idee der eigenen Zukünftigkeit verliebt, um sich zum Schluss einer Konservierung zuzuwenden, der des Planeten, der Humanität und der Kultur der Konsumtion (während des spekulativen Kapitals die Zukunft kalt und rational kalkuliert). So würde man nur das Spektakel des Endes medial produktiv machen. Es geht nicht heute nicht lediglich um Covid, Finanzkrisen und den Klimawandel, sondern vor allem noch, wie viele Protestformen auch zeigen, um symbolische Formen, die nichts weiter formulieren, als dass jeglicher sozialer Vertrag durchbrochen ist, während aber genau an ihn weiter appelliert wird. Das Ende würde sich dann perpetuieren und den Abyss immer weiter prozessieren. Der Mythos des No Future würde sich immer weiter in den Mythen der kommenden Auslöschung spiegeln, die sich selbst wiederum immer wieder erneuern würden. Die fortlaufende Inszenierung der Desintegration und der Rekonstitution der Inszenierung selbst – unter dem Banner des Mythos der Unmöglichkeit des Endes (des Kapitalismus) -, ist genau das, was Baudrillard als Simulation versteht. Noch das Versprechen auf Befreiung bleibt brauchbar oder wird simuliert, insofern es lediglich die Belastbarkeit des Systems testet. Baudrillard sagt deswegen auch, dass wir nach der Orgie leben (die alles befreit hat). Man darf die Rede vom Ende (der Welt) nicht mit der Katastrophe gleichsetzen. In der der Corona-Krise setzten die Staaten und Zentralbanken exorbitant hohe Geldsummen ein, um jede Möglichkeit, dass das System an sein Ende kommen könnte auszuschließen, während die Krise gleichzeitig die bisherige Zuversicht an das System als ein perpetuum mobile zumindest ankratzte. Gleichzeitig legt man Katastrophen-Bonds auf, als könnte man die Finanzmärkte adjustieren; diverse Symptome der Katastrophe wie die Klimakrise stellen die Funktionsfähigkeit des Systems in Frage, um es gleichzeitig zu proliferieren und zu beschleunigen.[2]

Eine Entropo-Epistemologie muss zugestehen, dass der Begriff der Katastrophe nicht heißt, das Ende der Funktionalität des Kapitalismus in der Gegenwart zu behaupten, und vor allem auch nicht, dieses spezifische Ende mit der Fähigkeit zu verknüpfen, das Ende des Planeten oder der Evolution vorhersagen zu können. Man muss es anders denken: Wie ein Ereignis oder eine Situation auf planetarischer Ebene, enthält die Zeit der Katastrophe eine zeitliche Suspension. Konzepte brechen auseinander, ökonomische, geopolitische und affektive Bedingungen, die Jahrzehnte lang als normal galten und für planetarische Stabilität sorgten, brechen weg. Unvorhersehbarkeit oder Kontingenz zieht auf. Ereignisse brechen in alle Richtungen los. Der Deterritorialisierung der Kapitalströme rund um den Globus folgt heute eine Reterritorialisierung der kapitalistischen Globalisierung, die mit einer Deterritorialisierung der Natur verknüpft ist. Die Unterscheidung zwischen menschlicher und natürlicher Geschichte beginnt zu kollabieren. Die Katastrophe kann sich in Ihrer Banalität ziehen; sie perpetuiert sich immer wieder, sogar als Farce oder an der Kante des Exzesses bzw. als Satire auf den Abyss.

Auch Achille Mbembe kommt in seinem neuen Buch Brutalism zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Brutalismus ist für ihn der Name für die Apotheose einer Form der Macht ohne ein Außen, die sowohl den Mythos des Ausstiegs als auch den Mythos einer anderen, kommenden Welt verneint. Die Unterscheidung zwischen dem Lebendigen und den Maschinen scheint aufgehoben, womit der Übergang zu einem neuen technischen System, das netzartig, automatisiert, konkret und abstrakt zugleich ist, beschleunigt wird. (Mbembe 2024)[3]  Den sich gottähnlich delirierenden Agenten der technologischen Evolution im Anthropozän muss deshalb erklärt werden, dass die Welt, die kommen wird, nicht auf einer humanen agency beruhen wird, sondern sich allenfalls auf ein Subjektil (Deleuze) beziehen kann, das mit den Raumzeit-Algorithmen eines stochastischen Feedbacks verbunden bleibt. Das heißt eben gerade nicht, den Anthropozän als einen autonomen Super-Agenten zu denken, der die ganze Welt und den Planenten inklusive der Alternativen determiniert, womit er sich einer absoluten Singularität annähern würde, der Singularität der Geschichte, die zugleich universell ist, weil sie immer die des Endes der Geschichte ist. Die Zukunft existiert hier nicht mehr – sie hat einerseits schon stattgefunden, andererseits muss immer weiter aufgeschoben werden.

Damit ist aber trotz der Verkündigung des Siegs der technischen Maschinennetzwerke angezeigt, dass die Implosion nicht das Ende der Welt bedeutet und auch nicht bestätigt, dass es nur eine Welt gibt und keine andere geben könnte, obgleich die Rede von der einen Welt diejenige ist, welche die Apotheose und das Ende der Moderne anzeigt. Es gibt keine finale Negation des freien Willens unter dem Banner der Proklamation, mit der die techne des Kapitals als die Zukunft als solche definiert wird, ja als die einzig mögliche Zukunft. Dabei muss aber immer wieder auf die Hypothese zurückgegriffen werden, dass diese Zukunft hergestellt werden muss, wobei ignoriert wird, dass diese Zukunft heute durch das finanzielle Kapital kalkuliert wird. Stattdessen schreibt man den Akt der Herstellung im Anthropozän dem Menschen oder im Posthumanismus der Technokratie zu. Es handelt sich hier um eine Feedback-Eschatologie. Der Post- oder Transhumanismus bleibt eine Art pseudo-apokalyptische Version des Humanismus.  Ob man diese nun als die entfremdete Totalität des Menschen oder als seine höchste Stufe der Verwirklichung begreift, tut nichts zur Sache. Entweder verkündet man, dass der Mensch eine Prothese einer allgemeinen Technizität ist, oder man beklagt seine industrialisierte eugenische Klonierung. Unter diesen beiden Vorzeichen schiebt sich der westliche polit-ökonomische Mystizismus voran. Es handelt sich um den westlichen Fluchtplan für das Ende der Geschichte. (Armand 2023: Kindle-Edition 551) Derart ist die Apokalypse immanent verspätet, weil sie ihr Ende im TV bereits vollzogen hat, oder, um es anders zu sagen, weil sie verfrüht ist, kommt sie nicht rechtzeitig an. Wirkungen sind zu einer Ursache geworden; es ist ein transzendentales Ereignis: Es muss geschehen, weil alle Bedingungen für seine Existenz, alle seine Voraussetzungen (die auch seine Folgen sind) bereits vorhanden sind, um es notwendig zu machen, aber wir bekommen es nie zu sehen. Es geschieht ohne uns, und alles, was wir haben, ist dieses endlos strömende Filmmaterial davon, dass es bereits geschehen ist, der Film eines Ereignisses, von dem wir ausgeschlossen sind, es jemals in irgendeinem direkten Sinne zu erleben. (Shipley 2021: 35)


[1] Dabei entsteht ein Problem: Die Warnung vor der Katastrophe soll selber die Katastrophenwarnung sein. Wer diese Logik zu Ende denkt, schließt mit einer Tautologie: erst der reale Weltuntergang ist die vollkommene Warnung vor dem Weltuntergang; nur das vollzogene Desaster wäre der Beweis einer Wahrheit, die als vollständige Realisierung im Wirklichen evident wird; nur mit der Selbstvernichtung hätte die Menschheit ihr Ziel erreicht.

[2] Statistische Modelle, die Daten über Stürme, Flutrisken oder dichte Bevölkerungen erheben, um die Schäden abzuschätzen, die durch in Zukunft entstehende Stürme oder Fluten erzeugt werden, sind en vogue. Man muss allerdings Millionen von synthetischen Fluten oder Stürmen simulieren, um ein Sample mit hinreichender Größe zu erhalten, um eventuelle Schäden abschätzen zu können. Verschiedene Zeitskalen von 10 bis 100 Jahren simulieren die Möglichkeit kommender Fluten oder Stürme, um eine Periode anzuzeigen, die es den Klienten ermöglicht, einzuschätzen, wie hoch ihre kommenden Verluste sein könnten. Das darin enthaltene Risiko ist eine Bedrohung und eine Ressource. Diejenigen, die solche Katastrophen modellieren, machen wissenschaftliche Erkenntnisse für Broker und Banker verständlich und nutzbar. Es sind die Versicherer, die ihre Policen in finanzielle Instrumente verwandeln, Katastrophenbonds oder Cat Bonds, und sie in Hochrisikoklassen verkaufen. Ein kanadischer Pensionsfonds kann nun auf eine Flut in Indien oder ein Wildfeuer in Kalifornien spekulieren. Man begreift diese Naturereignisse als unkorreliert mit den Märkten und benutzt sie, um das Portfolio zu diversifizieren. Investoren setzen zum Beispiel eine Summe Geld ein, um einen Bond wie »Japan Erdbeben« zu kaufen. Wenn das Erdbeben unter bestimmten Bedingungen wirklich geschieht, dann ist das Geld verloren. Und man muss vielleicht sogar für Schäden aufkommen. Wenn nichts passiert, dann wird der Halter des Bonds mit Gewinn ausbezahlt. Cat Bonds sind ein alternatives Investment, das vor allem mit der Volatilität von natürlichen Gegebenheiten und Assets handelt. Aber im Sog des kalten Zynismus erscheint es auch nicht mehr unvorstellbar, dass man einen »Gaza Fond« auflegt.

[3] Wir haben das ausführlich im Buch zur Ekstase der Spekulation problematisiert (Szepanski 2023)

Auszug aus dem kommenden Buch: Im Delirium der Simulation. Baudrillard Revisited.

Nach oben scrollen