Baudrillards Maximimierungshypothese (das alles verschlingende system) und die Flucht in die Ungewissheit (1)

Baudrillard schreibt im und durch die Systeme hindurch. Er unterlässt es wohlweislich Alternativen zu ihnen vorzuschlagen oder bunte Utopien auszupinseln, sondern er argumentiert gegen sie innerhalb ihrer eigenen Bedingungen und Logiken. Baudrillard zufolge muss man dies tun, weil das System dadurch funktioniert, dass es den anderen und die anderen ständig vereinnahmt. (Eine Frage wäre, ob es den Dritten oder den Fremden, so wie ihn Kurt Röttgers konzipiert, zurückgewinnen kann, weil es im Rahmen der intersubjektiven Anerkennungstheorien (Habermas etc.), die die Avantgarde des Systems in Hinsicht Subjektivierung darstellen, nicht möglich ist, den Dritten überhaupt in den Blick zu bekommen.)  Eine Alternative zum System vorzuschlagen, bedeutet für Baudrillard nur, es noch mehr zu bestätigen und affirmieren.

Vielleicht gab es Alternativen vor dem kapitalistischen System, nach ihm gibt es sie nicht mehr, weil das System einfach so ist, wie es ist; es hat für Baudrillard jenen maximierten Zustand erreicht, der anzeigt, dass alle Alternativen nur deshalb möglich sind, weil es das System gibt. Das klingt fatal und ist es auch, aber es zeugt von keinerlei Notwendigkeit. Denn das Gespenst der Kontingenz sucht wie den alten Althusser auch Baudrillards Texte heim, ein Gespenst, das ihm einflüstert, dass er in seiner Analyse zu weit geht, dass es letztendlich keine Notwendigkeit für diese Maximierungshypothese gibt.

Die Geschichte ist nur wegen des Endes der Geschichte (der totalen Totalisierung des Systems) möglich, gleichzeitig hat aber die Geschichte diesen Zustand nie erreicht und wird ihn nicht erreichen. Wenn das System tatsächlich diesen totalisierenden Zustand des Endes erreicht hat, von dem Baudrillard glaubt, dass es ihn erreicht hat, dann ist es immer auch möglich, dass diese Aussage immer nur eine Funktion dieses Systems ist, und dass das subtile Spiel des Gespenstes, das Baudrillard im Nacken sitzt, dass es nämlich doch noch Kontingenz gibt, nur die Logik des bereits existierenden Systems wiederholt, weil dieses nämlich die Unsicherheit in ein handelbares Risiko (Derivat) umwandeln kann. Vielleicht geht Baudrillard selbst nicht weit genug, indem er anstatt dem System ein wirkliches Anderes entgegenzusetzen, letztlich nur eine einfache Alternative zu ihm vorschlägt, eben jene Art von Opposition, die dazu dient, es erst recht zu beweisen.

Es scheint also unmöglich, die Richtigkeit von Baudrillards Maximierungshypothese gegenüber dem System, das sie vielleicht sogar maximiert, zu behaupten. Das Ende der Geschichte, von dem Baudrillard spricht, das die Geschichte möglich macht (eine Perversion des Endes der Geschichte, das Marx im Kommunismus sieht), ist nicht die endgültige Erklärung der Geschichte, die ihm vorausgeht und es möglich macht. Einerseits geht die Hypothese zu weit, weil es uns nur offen steht, gegen das System in seinen eigenen Logiken zu argumentieren, wenn dieses nach der Maximimierungshypothese  von Baudrillard wahr ist, als auch geht sie nicht weit genug, weil sie auch nur ein Effekt des bereits maximierten Systems sein kann. Aber jetzt kommt das große Aber: Wenn es denn schließlich unmöglich ist, den Vorrang der Maximierungshypothese gegenüber dem System zu behaupten, dann ist es auch unmöglich, den Vorrang des Systems gegenüber dieser Hypothese zu behaupten. Oder um es auf die Geschichte anzuwenden: Wenn es stimmt, dass das Ende der Geschichte nur aufgrund der Geschichte möglich ist, dann ist es auch denkbar, dass die Geschichte nur aufgrund des Endes der Geschichte möglich ist. Die Entscheidung, ob es zuerst die Geschichte oder das Ende der Geschichte gibt, bleibt unentschieden. Und so verhilft Baudrillard ein genialer Trick dazu, die Affirmation des Systems für die Geschichte gegenüber dem Ende der Geschichte zu schwächen, nämlich, dass der Art und Weise, dass es die Geschichte ist, die zum Ende der Geschichte führt, immer entgegengesetzt werden kann, dass es schlichtweg umgekehrt ist. Gegen die Totalisierung des Systems (das System wird immer durch ihr Anderes gesehen, aber dieses Andere ist schließlich nur durch das System möglich; die Geschichte ist zu Ende aufgrund dessen, dass es Geschichte des ewig Gleichen gibt) schlägt Baudrillard eine gleiche und zugleich entgegengesetzte Logik vor (die Geschichte wird nicht enden, es gibt immer mehr Geschichte, aber nur, weil die Geschichte vorbei ist).

Somit behauptet Baudrillards Maximierungshypothese nicht einfach ihre Richtigkeit gegenüber dem System, sondern kratzt an den Grenzen von Systemen, die sich selbstreferenziell zu erklären scheinen bzw. die kein Anderes haben und denen nichts vorausgeht. Man kann solche Systeme immer umkehren und damit immer etwas angeben, das ihnen vorausgeht und das ihre Totalisierung, d.h. ihre Fähigkeit, alles zu erklären und zu vereinnahmen, ermöglicht und verunmöglicht. Wenn Baudrillard der Logik dieser Systeme folgt, um sie anzufechten, dann durch die Eröffnung einer Möglichkeit, die Hypothese selbst zu verdoppeln, indem angezeigt wird, dass es immer ein bestimmtes Etwas-Nichts gibt, das ausgeschlossen ist und ihre Selbstdefinition erst ermöglicht. Baudrillards Maximierungshypothese entfesselt ein Prinzip der Ungewissheit: Wenn nämlich diese Ungewissheit zunächst nur für die Hypothese selbst gilt, so gilt sie eben aber auch für das System, das sie wiederum zu verdoppeln versucht. Und diese Ungewissheit oder Unsicherheit stärkt die Maximierungshypothese, die ja überhaupt nicht versucht, ihre Priorität gegenüber dem System zu behaupten; aber sie ist katastrophal für das System, insofern es seine Priorität gegenüber der Maximierungshypothese behaupten muss.

Die Ökonomie in Baudrillards Schriften ist duell. Einerseits gibt es diese Tendenz zur maximalistischen Hypothese als eine Art der totalen Erklärung der Art und Weise, wie die Logiken des Systems und die Dinge sind. Die Hypothese wirkt nicht durch Vernunft oder Überzeugung, sondern sie will at once wirksam sein und erzwingt damit entweder sofortige Zustimmung oder Ablehnung. Es ist ein bilderloses Denken, weil nicht ein Gegenstand oder eine Realität ergriffen oder reflektiert wird,  es zeugt vielmehr on einer Gnostik oder einer Art höherer Regel (wie ein pharmakon, das zwei entgegengesetzte Bedeutungen in sich birgt). Andererseits bleibt immer eine gewisse Notwendigkeit zur Beschreibung und Äußerung, d.h. ein bestimmter Gegenstand und Worte, die ihn zu beschreiben versuchen. Wenn die Schrift nur dadurch, dass sie singulär und differenziell in sich selbst ist, in der Lage ist, eine Welt zu beschreiben, die ebenfalls unvergleichlich ist, dann muss man aber auch betonen, dass die Sprache, die zur Schrift führt, nur dadurch so werden konnte, dass sie eine Welt nachahmt, die bereits existiert (die ihrerseits vor ihrer Nachahmung durch die Schrift nicht als solche bekannt sein konnte). Die Schrift hat unter diesem Aspekt also immer einen Referenten. Wenn es ihre gegenseitige Unvergleichbarkeit ist, die es erlaubt, die Welt und ihre Schrift zu vergleichen, dann ist es auch ihr Vergleich, der ihre gegenseitige Unvergleichbarkeit ermöglicht.

Baudrillard sagt, dass das Ende der Geschichte eingetreten ist, weil wir dieses Ende nicht denken können. Und doch will Baudrillard dies genau denken. Damit das Ende möglich ist, selbst jenes Ende, an dem es kein Ende gibt, wie uns das System weismachen will, muss es immer einen Moment danach geben, von dem aus es gedacht werden kann. Baudrillards Ironie besteht darin anzunehmen, dass das Ende, von dem er spricht, nie eintreten wird, weshalb der erste Tag des restlichen Lebens immer morgen oder übermorgen sein wird. Baudrillard will letztendlich keine einfache Endgültigkeit der Geschichte und damit den endgültigen Sieg des Systems behaupten, denn die Möglichkeit, dies auszusprechen, würde das System ironischerweise immer aufschieben. Das Ende der Geschichte als der Sieg des Systems kann also nicht als endgültige Erklärung des Systems fungieren, denn es wäre nur aufgrund des Systems möglich und könnte nur zu einer weiteren Ausdehnung des Systems führen. Vielmehr ist es gerade die Gleichzeitigkeit des Endes und seiner Unmöglichkeit, von der Baudrillard spricht und die das System in die Katastrophe führt. Er benutzt hier ein Moment der differance von Derrida. Es ist unmöglich, von einem Moment zum nächsten überzugehen, um das Ende erreichen, aber dies nur, weil wir bereits von einem Moment zum nächsten übergegangen sind, weil jeder Moment das Ende ist, zumindest vorläufig. Es geht um eine Logik der Zeit, in der es keine identischen Ereignisse gibt jenseits einer Beschreibung, die die Identität nachträgt, aber eben in einer Aktualität, die immer schon Folge ist und die in der Folge erst zu spät sein wird, dass sie etwas für etwas besagt.

Theorie, wie sie Baudrillard betreibt, entsteht weder durch Anhäufung von Beweisen noch durch einfache Diskontinuitäten, sie bewegt sich vielmehr durch eine Reihe von Hypothesen, die die Logik des Systems beschreiben (man bleibt, wenn man vom System spricht, immer Komplize des Systems) und die zugleich darüber hinausgehen und zeigen, dass das System nur als Auswirkung einer umfassenderen Problematik entsteht. Hier doggt Baudrillard an die Konzeption des Problems bei Deleuze an. Wie Deleuze weiß auch Baudrillard, dass die großen philosophischen Systeme singulär und in sich logisch korrekt sind und nie die vorhergehenden Systeme widerlegen. Man kann ihnen allenfalls ein Kind von hinten machen, so Deleuze.  Jeder nachfolgende Denker muss das vorherige System irgendwie verdoppeln, so Baudrillard, und zeigen, dass es so ist, wie es ist, und zwar aus Gründen, die über es hinausgehen. Man betrachtet das vorherige System nur in seinen eigenen Begriffen und beschreibt, dass es notwendigerweise so ist, zeigt aber, dass diese Notwendigkeit nur aus Gründen zustande kommt, die den proklamierten Absichten des Systems völlig zuwiderlaufen.

Fortsetzung folgt

Foto: Sylvia John

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