Be Water My Friend

Die Dunkelheit fällt über die Stadt, im Minutentakt Sirenen am Kotti, ein Bullenhubschrauber steht über den Dächern, der übliche Partymob ist heute woanders unterwegs. Der Himmel beginnt sich in allen Farben des Feuerwerks zu färben und es sind noch fast sechs Stunden bis Mitternacht. Wer nichts hat oder alles verloren hat, vertreibt die Geister der Armut für ein paar Stunden. Mit jedem Schuss in die Sterne, die kein Versprechen halten.

Am Zickenplatz ist der Kinderspielplatz von den Bullen mit Flutlicht geflutet, jeder Strauch ein potentieller Verbrecher. Am Kottbusser Damm zirkulieren jetzt die Wannen im Minutentakt, in der dunklen Seitenstraße die mattgrauen Transporterkolonnen der Bundespolizei, Warlords auf fremdem Territorium. 

An der Mündung zur Sonnenallee die Festung der Besatzungstruppen. Absperrgitter, Flutlicht, Wannen und Bullen so weit das Auge reicht. Der Bürgermeister und die Innensenatorin machen ihre Aufwartung, die Koalition der Willigen. Das jugendliche Surplusproletariat kümmert sich einen Scheiss um die Checkpoints, über Seitenstraßen und Hinterhöfe füllt sich der nicht mit  Flutlicht geflutete Abschnitt der Sonnenallee und um Mitternacht erleuchtet ein fulminantes Feuerwerk die ganze Strecke bis weit hinaus zur High Deck Siedlung, wo mehrere Hundertschaften auf der Lauer liegen.

Einige Unentwegte versuchen die Tradition zu wahren und in der Sanderstraße eine Barrikade zu bauen, was von den omnipräsenten Bullenkräften unterbunden wird, denen in Neukölln auch eine Gruppe in die Hände fällt, die wohl gerade ein paar Molotows improvisiert hat. Was sofort zu spontanen Pressekonferenzen der Polizeipräsidentin auf offener Straße führt, die im Schutze einer Hundertschaft die neue Normalität von 5.000 Bullen im Einsatz als Erfolg verkauft.

In der Sonnenallee fliegt das Feuerwerk jetzt zunehmend horizontal, in der parallel verlaufenden Weserstraße joggt eine Einheit der Bundespolizei wie auf Droge eine Stunde lang die Straße hoch und runter, sieht und jagt Gespenster. Inzwischen laufen im Ticker im Minutentakt Meldungen über Beschuss mit Pyrotechnik auf Bullenkräfte ein, verteilt über die halbe Stadt. Hermannstraße, Turmstraße, Grunerstraße, Müllerstraße, Knobelsdorffstraße, Dolgenseestraße, Silbersteinstraße, Hasenheide… In Siemensstadt baut eine größere Gruppe eine Barrikade auf der Hauptstraße und zündet sie an, während eine Einheit der Bullen in der Thermometersiedlung in Lichtenrade einrückt und von den Dächern aus beschossen wird. Aus Moabit und der Gropiusstadt wird der Einsatz von Molotows gemeldet. Bis in die Morgenstunden rummst und kracht es in der Stadt, den Schlusspunkt setzt die Rigaer wo eine brennende Barrikade errichtet wird, die letztendlich von den Bullen im Schutz von Schilden mit dem Equipment der Feuerwehr gelöscht wird, weil von den Dächern unentwegt Feuerwerk abgeschossen wird.

Am Ende ist die politische Klasse und die Ordnungsmacht nur mithilfe eines stadtweiten Ausnahmezustandes und der Etablierung polizeilicher Besatzungszonen in der Lage Kontrollverluste wie im letzten Jahr zu verhindern, das rebellische Surplusproletariat agiert taktisch geschickt mit kurzen, gezielten Angriffen, ohne sich auf eine größere Konfrontationen mit einem übermächtigen Gegner einzulassen. Taktisch mag das Empire aus der Silvesternacht als Sieger hervorgegangen sein, strategisch und politisch ist aber auch dieser Jahreswechsel eine schallende Niederlage, weil es keine wirkliche Befriedigungsstrategie zu generieren in der Lage ist und angesichts der sich zuspitzenden sozialen Widersprüche nur eine paramilitärische Antwort für jene Klassensegmente parat hat, die dabei sind, sich jenseits des trügerischen Friedens in der Metropole zu verorten.

Sebastian Lotzer aus dem Nebel des Feuerwerks der Nacht des 1. Januars 2024

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