Breaking the Waves

Der im Juni 2023 bei Ill Will erschiene Essay Die Wellen brechen von Nicolò Molinari widmet sich detailliert einigen zunächst recht unterschiedlichen Aufstandserscheinungen der letzten 5 Jahre. Die Herangehensweise ist weitgehend immanent und die Sprache mitunter sperrig, aber im Ganzen beweist der Autor gute Kenntnisse der revolutionären Alchemie. Man mag einwenden, daß er sehr an der Form der verschiedenen Aufstände hängt, weniger ihren Inhalt behandelt. So werden bei den jüngsten Auseinandersetzungen um das Rentengesetz in Frankreich kaum die Fragen gestellt: Will man tatsächlich 60 statt 62 Jahre arbeiten oder vielleicht doch das Lohnsystem selbst angreifen? Will man die Formen der alten Demokratie vor übermäßigem Autoritarismus bewahren oder doch den bürgerlichen Staat und seine biopolitische Verfügungsgewalt über seine Subjekte im Ganzen verneinen? Tatsächlich verwundert es, daß von radikalen Kräften Frankreichs keine offensive Agitation in diesen Fragen geführt wird, was schließlich ihrer mitunter überbordenden Aktion etwas Substanz verleihen könnte. Aber manches ist verwunderlich an den französischen Radikalen. Ein Text wieder, der explizit in solche Kämpfe eintaucht, ohne ihnen gleich alternative Losungen unterschieben zu wollen, da ein solches Unterfangen doch schnell zum Immergleich der verschiedenen linken Vereinahmungsversuche führen würde, kann nicht anders, als den Abstraktionen der wirklichen Kämpfe zu folgen, während die ersehnte Überwindung der bestehenden Produktionsverhältnisse implizit oder angedeutet bleibt und in diesem Essai in der vagen Phrase von der „Schaffung neuer Formen des Lebens“ verschwindet. Und eine offensive Agitation prinzipiellen Inhalts in allen Ehren: Jede Wahrheit braucht zunächst ein gewisses eruptives Moment, um als solche erscheinen zu können. Im Moment der Eruption selbst ist sie wieder unmöglich zu formulieren, da man dann in der Regel Besseres zu tun hat, und so lassen sich erst nach wirklichen Auseinandersetzungen alle Fragen besser stellen, auch die nach dem Sinn und Unsinn von Lohnarbeit oder des Staates. Je stärker der augenblickliche Bruch mit den gegebenen Formen, desto offener wird dabei jemand sein, die überkommenen Kategorien der alten Welt abzulegen und auf Ideen zu kommen, die im akzeptierenden Alltagstrott nur albern wirken. Daher das momentan überwiegende Interesse des revolutionären Alchemismus an strategischen Fragen. Im Zentrum steht dabei weniger, wie überhaupt Brüche mit dem Bestehenden erzeugt werden können, da diese inzwischen an allerlei Orten quasi spontan und momentan besseren Falls ohne politisches Zutun entstehen und vorausgesetzt werden können. Vielmehr geht es darum, wie man ihnen eine gewisse Dauer verleihen kann. In diesem Zusammenhang wird in dem Text neben der „Strategie der Zusammensetzung“ und der „territorialen Basis“ gesellschaftlicher Kämpfe auch die Strategie der „Destitution“ oder vielleicht besser der „Entsetzung“ entfaltet, die insbesondere den Rückzug einschließt, um falsches Märtyrertum zu verhindern und Raum für Pausen zu gewähren und damit Platz zur Besinnung.

Et al., September 2023

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