Das Weltspiel

Aua dem kommenden Buch: Im Delirium der Simulation. Baudrillard Revisited

Die englische Version kann man hier kaufen: https://forceincmilleplateaux.bandcamp.com/merch/in-the-delirium-of-the-simulation-baudrillard-revisited-by-achim-szepanski

Es ist ein Nichts, das die Theorie sowohl sichtbar macht als auch ersetzt, offenbart und überdeckt. Es ist als eine Bedingung der Möglichkeit transzendental, das heißt, das Nichts ist weder positiv noch negativ zu denken, sondern gibt die Garantie für die Ambivalenz. Butler hebt diesen zentralen Begriff der Ambivalenz in Baudrillards Werk hervor. Eigentlich ist von einem Begriffskomplex zu sprechen, der Umkehrbarkeit, Heterogenität und Verdopplung umfasst. Die Verdoppelungsthese, die Butler immer wieder einbringt, wäre zu untersuchen und durch den Begriff der Virtualisierung zu ersetzen. Die Ambivalenz, die zugleich poetisch und logisch, ästhetisch und strukturell ist, ist aber in gewissem Maße selbst noch eine kritische Strategie, eine Kritik der Gleichwertigkeit und Austauschbarkeit sowie der Identität (in Repräsentation und Kommunikation). Dabei gilt es stets zu bedenken, dass sich die Ambivalenz nicht auf die Intentionen eines Individuums oder einer Gruppe bezieht, sondern ein Synonym für das Spiel oder das Ritual selbst ist. Das Spiel zeichnet sich hier gerade dadurch aus, dass es im Gegensatz zur ökonomischen Spieltheorie keine Strategien kennt (gäbe es eine Zweckgerichtetheit des Spiels, dann wäre der Falschspieler der beste Spieler). Der Sinn des Spiels liegt im Spielen selbst, womit es zugleich im Vorspielen den Anschein erweckt und somit der Simulation nahekommt. Es war Heidegger, der das Sein in die Nähe des Spiels rückt, das spielt, weil es spielt, ohne Reim oder Grund, ohne Grundlage – als das In-der-Welt-Sein als ein archaisches Spiel der Transzendenz. Er ist dann Kostas Axelos, der in seinem Buch Game of the World über die Welt als das Spiel der Spiele schreibt, eine Welt, in der sich heterogene Arten von Spielen und verschiedene Modalitäten des Spiels entfalten. Das Spiel der Welt ist die offene und unbegründete Totalität all dessen, was stattfindet, und alle Unterschiede hervorbringt, ohne jemals auf einen von ihnen reduzierbar zu sein. Regionale Spiele, unterschiedliche Regeln, diese oder jene Aktivität des Spiels werden durch das Spiel der Welt auf eine nicht-reduktive Weise artikuliert.

Im Spiel sind Spontaneität und Organisation untrennbar miteinander verbunden und bilden den Kern eines Regelwerks. Das Spiel bedarf aber nicht unbedingt der Regeln (bei Baudrillard ist es allerdings die stets arbiträre Spielregel, die das Spiel vom Gesetz befreit), hat oft einen Bezug zum Als-ob des Erfindens und ist deshalb durch Offenheit gekennzeichnet (Offenheit heißt hier nicht Unendlichkeit, sondern Transendlichkeit).  Das Spiel ist auch ein Glücksspiel, eine Bewegung des Spielens, die sich durch ihre Nicht-Definierbarkeit auszeichnet, was Baudrillard mit Borges lange ausführt. Glücksspiele, taktische und strategische Spiele, die kodifiziert sind und Regeln gehorchen, können aber auch auf dem Austausch von Informationen beruhen und auf einen Gewinn abzielen. Diese Spiele können von der Berechnung, Wahrscheinlichkeiten und eine aleatorische Kombinatorik erfasst werden, und dennoch bleibt jede Annäherung an Spiele stochastisch, und jede Entscheidung aleatorisch. Das, was von den Spielern abhängt, und das, was nicht von ihnen abhängt, treffen aufeinander und verflechten sich, um den Knoten des Spiels zu bilden. Die Relationen des Spiels in Bewegung sind letztendlich größer als die Relata, die Spieler. Skeptisch bleibt Baudrillard aber gegenüber der Freiheit und Kreativität, die das Spiel charakterisieren soll, denn weder die totale Freiheit noch die totale Indetermination könnten den Sinn zerstören, der eigentlich im Wesen des Spiels liegt. Vielmehr könnten beide, wie eben auch der Zufall oder die Deterritorialisierung zeigt, selbst wieder Monstren erzeugen. Letztlich lässt sich dem Sinn nur durch eine radikale Simulation, etwa die der Spielregel, entgehen. (Baudrillard 2012a: 159) Die Frage an Baudrillard wäre hier, ob sich mit den Regeln nicht lediglich ein Typus des Spiels beschreiben lässt, aber eben nicht das Wesen des Spiels selbst. Freiheit kommt im Spiel nämlich auch darin zum Ausdruck, dass Regeln verletzt werden können. Ähnlich wie sich eine Zukunft nicht aus der Gegenwart erschließen lässt, womit der deterministische Kausalnexus unterbrochen wird, wird der Bruch als Freiheit erfahren. Zudem lässt sich auch ein Spiel ohne Regeln vorstellen, wenn nämlich das Spielen das Spiel definiert. Allerdings können die Unterscheidungen des Spiels im Spiel – Zug und Wahl, Regel und Strategie – mit der Kybernetik mathematisiert und technisiert werden, um potenzielle Strategien zu ermitteln und zu bewerten und rationale Ergebnisse zu maximieren. Obgleich der gemeinsame Spielraum damit ein strukturierter Raum ist, kommt die Matrix von Spielzügen und Strategien am Ende vielleicht doch einer Beraubung der ordnenden Struktur des Spielraums gleich. (Brodbeck 2012: 258) Axelos fragt, ob man nicht eher spielt, um zu riskieren, als um zu gewinnen? Man will gewinnen, aber gleichzeitig liebt man die Gefahr zu verlieren. Das Spiel, so Axelos, sei auf den Erfolg ausgerichtet und sei zugleich vom Scheitern fasziniert. (Axelos 2023: 136) Das Spiel ist von freien Bewegungen und Substitutionen durchzogen, die auch den spielerischen Aspekt selbst betreffen. So ist das Spiel als eine Bewegung gegen den impliziten Stillstand von streng definierten Objekten zu verstehen. Das Spiel enthält sowohl eine Methodik als auch eine Aktivität, die mit einer zielgerichteten Absicht ausgeführt wird, wobei aber in der Interaktion andauernd Intensitäten ins Leben gebracht werden, die jeder Statik und Finalität spotten können.

In diesem Kontext ist die Ambivalenz als eine Hypothese zu verstehen, die für das Unbekannte und das Umkehrbare der Welt plädiert, ja für die (relative) Unbestimmtheit, und steht daher in jeder Hinsicht im Gegensatz zur Kapitalisierung mit ihrem Gebot der Vorhersehbarkeit, der Berechnung und ihren unumkehrbaren, linearen Wert- und Geschichtsakkumulationen. Einerseits ist auch die Simulation ein Spiel, weil, wie Baudrillard sagt, nichts auf dem Spiel steht. Wenn die Realität vollständig in das Spiel der Realität qua Simulation übergegangen wäre, dann gäbe es allerdings auch kein Spiel mehr. Und doch ist die Simulation auch kein Spiel, weil sie keine Distanz oder Ambivalenz hat, sondern an einem Zustand der Immanenz teilnimmt, in dem alles gleichzeitig präsent ist.

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