Der Bürger: eine Mischung aus kollektivem Wahnsinn und Verdorbenheit

Etwas ganz Beunruhigendes ist geschehen: Adornos Bürger ist unter Vorzeichen, die Adorno unbekannt bleiben mussten, wieder zum Leben erwacht und nimmt heute die grauenhafteste Form an, die man sich nur vorstellen kann, eine schizoide Form, mit welcher die Bürger einerseits als Dividuen in den Fluss des Kapitals eingegliedert werden, und andererseits organisch ihren Egoismus auszureizen versuchen, womit sie, wie Adorno schreibt, als objektiv bedrohte subjektiv vollends unmenschlich werden. Sie regredieren zu einer Mischung aus kollektivem Wahnsinn und Bösartigkeit. Als Adorno folgende Sätze schrieb hatte er noch den klassischen Bürger im Sinn, der eine bürgerliche Gesellschaft, von der man man so recht weiß, was sie ausmacht und ob sie jemals historisch existent war, repräsentierte: »Was immer am Bürgerlichen einmal gut und anständig war, Unabhängigkeit, Beharrlichkeit, Vorausdenken, Umsicht, ist verdorben bis ins Innerste. Denn während die bürgerlichen Existenzformen verbissen konserviert werden, ist ihre ökonomische Voraussetzung entfallen. Das Private ist vollends ins Privative übergegangen, das es insgeheim von je war, und ins sture Festhalten am je eigenen Interesse hat sich die Wut eingemischt, daß man es eigentlich ja doch nicht mehr wahrzunehmen vermag, daß es anders und besser möglich wäre. Die Bürger haben ihre Naivetät verloren und sind darüber ganz verstockt und böse geworden. Die bewahrende Hand, die immer noch ihr Gärtchen hegt und pflegt, als ob es nicht längst zum »lot« geworden wäre, aber den unbekannten Eindringling ängstlich fernhält, ist bereits die, welche dem politischen Flüchtling das Asyl verweigert. Als objektiv bedrohte werden die Machthaber und ihr Anhang subjektiv vollends unmenschlich. So kommt die Klasse zu sich selbst und macht den zerstörenden Willen des Weltlaufs sich zu eigen. Die Bürger leben fort wie Unheil drohende Gespenster.«

Der Bürger ist sicherlich auch ein Resultat der Statistik, des censors im römischen Sinne, der Bestandsaufnahmen vornimmt, die der Steuereintreibung und der Bemessung der Pflichten und Rechten des Bürgers dienen. In Frankreich wird der Bürger (citoyen), der im Gegensatz zum Untertanen steht, als guter Bürger definiert, als einer, der universell ist, was auch heißt, dass es keine Ausländer gibt, und wenn, sind es schlechte Bürger. Der Bürger ist also zudem eine juridische Einheit, die Pflichten und Rechte zum Staat unterhält, er ist also immer auch durch Rechte definiert und schließlich ist jeder, der von der Verfassung anerkannt wird, Staatsbürger.

Diese Abstraktheit hat der Bürger insofern beibehalten, als er heute ständig eine abstrakte Teilnahme an einem gesellschaftlichen Komplex proklamiert, der vollkommen negativ geworden ist und der mit Vernichtung gegenüber jedem droht, der nur den leisesten Versuch unternimmt, diesen Komplex zu verlassen, um zu überleben. Zu dieser Glanzleistung bedurfte es nicht nur der Juristen, sondern der Statistiker, die unter der Perspektive der Normalverteilung aus der zählbaren und ausgezählten Bevölkerung jene variable und zugleich mehrheitliche Fraktion bedingungsloser Agenten heraussortierten, welche heute die Realität der Biomacht darstellen und die ganz im Wahnsinn ihres verdorbenen Ego Exzesses gefangen alles dafür tun, dass das System und das Subjekt zu einer absoluten Übereinstimmung gelangen.

Dieser Prozess mündet in einer historisch beispiellosen Bürger-Fabrik, deren Implantation in das soziale, politische und ökonomische Feld ganz katastrophale anthropologische Auswirkungen zeitigt. Das ist das dritte Moment, das zur Integration der Dividuen in den sozio-ökonomischen Komplex, der sie gleichzeitig zur Optimierung verpflichtet, die in einem panischen Egoismus mündet, hinzukommt: Jene Form von geradezu irrer Wachsamkeit gegenüber jedem Anflug von Fremdem, das der Bürger wie seine Abfälle sortieren und letztendlich aussortieren will. Und darauf kann sich der Staat und das Kapital insbesondere in Deutschland verlassen, auf die von kollektivem Wahnsinn beflügelte Gruppentherapie, die tagtäglich in der Bürger-Fabrik veranstaltet wird, in der rund um die Uhr Probleme mit dem Ziel diskutiert werden, die nächste Säuberungsaktion noch verlässlicher zu machen als die letzte.

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