Die Gilets Jaunes sind immer noch da – das Jahr fängt schlecht an für Macron

Atréju

„Mit dem Verlust der Geduld, mit der Ungeduld, beginnt im Gegenteil eine Bewegung, die sich auf alles erstrecken kann, was vorher hingenommen wurde[…] Im Augenblick, da er den Befehl seines Oberen zurückweist, weist der Sklave auch sein Sklavendasein zurück. Die Bewegung der Revolte trägt ihn über den Punkt seiner einfachen Weigerung hinaus. Er überschreitet sogar die Grenze, die er seinem Gegner gezogen hat[…]. Was zuerst ein unbeugsamer Widerstand des Menschen war, wird nun der ganze Mensch, der sich mit ihm identifiziert und sich darin erfüllt. Diesen Teil seiner selbst, dem er Respekt verschaffen wollte, stellt er nun über den Rest und verkündet laut, ihn allem, selbst dem Leben, vorzuziehen. Er wird für ihn das höchste Gut.“

Albert Camus – Der Mensch in der Revolte

Graue Wolken hängen über dem Place de Breteuil, an dem sich um die 300 Menschen versammelt haben. In einer Stunde soll es losgehen. Die Kastenwagen der flics säumen die Straße entlang des Parks. Während ich die Straße überquere, um mich dem Demonstrationszug zugehörig zu zeigen, beginnen die Bullen damit ihren Wanderkessel, oder wie er von den Franzosen genannt wird, la „nasse mobile“, entlang der Straße Richtung Süden aufzuziehen. Irgendwo knallt ein Böller und ein älterer Mann in der Nähe kommentiert schmunzelnd: „Il faut que jeunesse se passe“.

Zwischen den Menschen völlig unterschiedlicher Couleur, schlängelt sich ein junges Mädchen Richtung Denkmal. Klettert über das niedrige Geländer, das den sandigen Platz in der Mitte des Kreisverkehrs von dem Monument à Louis Pasteur  trennt. In der Hand hält es eine schwarze Fahne. Unter Beifall klettert es auf die Schulter der steinernen Bäuerin. Minutenlang schwenkt sie dort oben die Fahne. Ihr Augen leuchten vor Stolz und für einen kurzen Moment scheint sich der kühle Wind zu legen. Vergessen ist das Polizeiaufgebot und der Himmel klart ein wenig auf.

Kurz darauf werde ich von einer Frau enttarnt, nachdem ich ihre Frage nicht verstehe. Während ich versuche, in gebrochenem Französisch zu erklären, warum ich heute hier bin, unterbricht sie mich und sagt: „Français ou pas, le soutien est merveilleux, chéri!“. Zum Abschied klopft sie mir auf die Schulter und setzt dann ihren Weg fort. Kurz darauf beginnt sich die Demonstration aufzustellen. Es sind mittlerweile ein paar Hundert Menschen mehr. Vorne sind die Jungen, hinten die Alten. Kämpfen tun sie beide.

Nachdem die Bullen nach wenigen Minuten die Demonstration anhalten, kommt es vorne zu den ersten Auseinandersetzungen. Der Frontblock schiebt die Schweine einige Meter zurück. Diese antworten mit Pfefferspray. Glasflaschen entdecken das Fliegen für sich und ein Feuerwerkskörper explodiert vor den Füßen der flics, die noch während ihnen grüne und rote Funken um die Ohren fliegen, hastig damit beginnen ihre Helme aufzusetzen. Nach ein paar Minuten geht es weiter, wenn auch nur langsam. Die Polizei hält die Demonstration immer wieder ohne erkennbaren Grund an. Die unfreiwilligen Pausen werden dafür genutzt, den Menschen an den Fenstern zu grüßen und sie aufzufordern, sich anzuschließen. „Descendez. Marchez avec nous!“ hallt es durch das 15 Arrondissement. Viele folgen diesem Aufruf. Nachdem wir für die ersten hundert Meter fast eine halbe Stunde brauchen, zeigt die Demo, dass sie sich nicht alles gefallen lassen muss.

An der Abzweigung auf den Boulevard Pasteur werden die Bullen an einigen Stellen mit Leichtigkeit umflossen. Panisch eilen die Schlägertrupps im Laufschritt links und rechts an der Demonstration vorbei, bloß nicht zum Jahresbeginn schon blamieren, vorgeführt werden oder die Kontrolle verlieren. Auf der anderen Seite der Metro und hinter der Demo begleitet uns eine schier endlose Karawane an Mannschaftswagen. Auf halber Strecke Richtung Place de Catalogne klettert ein Mann auf einen Transporter und schwenkt eine palästinensische Fahne. Das würde in Deutschland wahrscheinlich für Schnappatmung in den sozialen Netzwerken sorgen. Durch den leichten Anstieg der Strecke kann man das Ausmaß der Demonstration überblicken. Es sind nun ca. 2000 Menschen, die sich durch die französische Hauptstadt bewegen. Gleichzeitig wird BFMTV in einer Kurzmeldung die Mobilisierung der Gilets Jaunes in Paris für schwach und gescheitert erklären. Dass es sich dabei nur um eine „fayotage“ bei Macron handelt, ist allen klar. Als es zu regnen beginnt, haben die Bullen keine Lust mehr auf das Stop-and-Go der vergangenen zwei Stunden.

Vorne gibt es trotzdem immer noch einzelne Auseinandersetzungen mit den flics. Links und rechts werden in regelmäßigen Abständen tränende Augen ausgewaschen. Als es auf den Place d’Italie geht, empfehle ich mich. Setze mich an den Straßenrand und beobachte bei einer Zigarette zum Abschied die vorüberziehende Masse. Als die Gesänge, Trommeln und wilden Rufe in der Ferne verklingen, beginne ich die Kälte und Nässe, die durch die Straßen wabern, wieder zu spüren. Ich fange an zu verstehen, dass die Stärke dieser Bewegung nicht allein in den physischen Manifestationen ihrer Wut und ihres Kampfgeistes liegt, sondern auch in der Gemeinschaft, die sie auf der Straße bildet. Und ein Gefühl lässt sich nicht mit Tränengas und Knüppel bekämpfen.

Der siebte Januar war eine Warnung, ein erstes Abtasten. Tausende Menschen auf über 50 Versammlungen im ganzen Land zu mobilisieren, war erst der Anfang. Am 14. Januar sollen es 200 „rassemblements“ werden. Auch wenn die Medien das Potential des gestrigen Tag herunterspielen, ist einem Großteil der Franzosen (79% laut einer Studie des Institut français d’opinion publique) klar, dass eine „explosion sociale“ in den kommenden Monaten bevorsteht. Und die Gilets Jaunes werden ein wichtiger Teil dieser Kämpfe sein.

Au revoir.

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