DIE LINKE, DER FORTSCHRITT UND DER BAUER

Groupe Révolutionnaire Charlatan

LENIN GEGEN DIE MOUJIKS

“Wie man die Bourgeoisie stürzt, wie man sie unterdrückt, das haben wir gelernt, und darauf sind wir stolz. Wie wir unser Verhältnis zu den Millionen der durchschnittlichen Bauern regeln, wie wir ihr Vertrauen gewinnen, das haben wir noch nicht gelernt, und wir müssen es offen sagen.”

Lenin, Rede auf dem VIII. Parteitag der KPdSU

Im Geschichtsunterricht der öffentlichen Schulen werden die industrielle Revolution, die Landflucht, die Republik gelehrt: All diese großen Etappen des “Fortschritts” werden als eine ununterbrochene Reihe von zweckmäßigen Veränderungen, nützlichen Anpassungen und willkommenen Verbesserungen der Lebensweise rückständiger Bevölkerungsgruppen dargestellt, deren Verwirklichung das philanthropische Werk einer tapferen und guten städtischen Elite sei, die in den Methoden der wirtschaftlichen Rationalität geschult sei. Von dieser Sichtweise, die im Großen und Ganzen derjenigen entspricht, die man einst von der Kolonialisierung hatte, sind wir noch heute geprägt, wenn wir von der bäuerlichen Welt sprechen.

Die Realität der primitiven Akkumulation, der erzwungenen Entwurzelung der Bevölkerung, des Massakers an der ländlichen Lebensweise sowie an der Region, dem Dialekt und der bäuerlichen Lebensweise wird in vielen linken Kreisen noch heute als positive und notwendige Etappe des menschlichen Fortschritts angesehen, der mit der Entwicklung des Maschinenwesens zu einer Gesellschaft des Teilens und der freien Entscheidung über die Produktionsmodalitäten führen sollte. Kurz gesagt, die Sozialisierung der Lebensgrundlagen, bei der die Industrie als notwendiger Schritt dargestellt wurde.

Der Moujik – der seine Bojaren getötet und ihr Land gleichmäßig verteilt hatte, Tausende von Beschwerdeheften an den Petrograder Sowjet geschickt und massiv für die linken Sozialrevolutionäre gestimmt hatte – wusste nicht, dass man in einem Moskau, das vom Zarismus befreit war, aber nun von der modernisierenden ideologischen Verwirrung des Bolschewismus bewohnt wurde, immer noch gegen ihn intrigierte. Was es brauchte, waren 100.000 Traktoren, und der Bauer würde sich aus dem einzig möglichen historischen Kampf – Proletariat gegen Bourgeoisie – heraushalten. Der Rest seiner Gesellschaft, seiner Existenzweise, seiner Revolution zählte nicht allzu viel, und ein Jahrzehnt später konnte man die als “Kulaken” bezeichneten Bauern, die das Unglück hatten, zwei Kühe zu besitzen – ein unerträgliches Zeichen “kleinbürgerlicher” Loyalität -, zu Tausenden verrecken lassen.

Dieses bedeutungsschwere Erbe lässt keine Parallelen zur heutigen Situation zu, da die Bauernschaft in Frankreich so gut wie verschwunden ist; es ist jedoch aufschlussreich für das Ausmaß, das die blinden Flecken der Linken annehmen können, und für die anhaltende Koexistenz mehrerer Gesellschaften, die sich gegenseitig ignorieren. Wir sind der festen Überzeugung, dass der “Revolutionär”, wenn es ihn überhaupt gibt, derjenige ist, der die Revolution macht, unabhängig von seiner Vorgeschichte, seinen Überzeugungen für einen Tag oder für immer; derjenige, der, wenn die Gesellschaft den Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt, eine entschlossene Partei für eine neue Welt ergreift.

Wir halten es daher für sinnvoll, ein flüchtiges Bild der ländlichen Welt in der Moderne in Frankreich zu zeichnen, um es dann auf die aktuelle politische Situation zu beziehen. Die revolutionäre Theorie verkündet nicht abstrakt und von oben herab allgemeine Ziele, die einem alten theoretischen System entsprungen sind; sie steigt in die Massen hinab, versucht, die heimlichen Versprechungen der Emanzipation und die unterdrückten Wünsche nach einer gleichberechtigten Welt zu verstehen, die im Herzen eines jeden Menschen wohnen – und indem sie diese geheime Rede in ein System, in ein Vokabular umsetzt, bietet sie allen die Mittel an, die Sprache der Revolution zu sprechen.

DIE BÄUERLICHE WELT SEIT DEM ZWEITEN WELTKRIEG

“Der Mann auf seinem eisernen Sitz sah nicht menschlich aus: Handschuhe, Brille, Gummimaske über Nase und Mund, er war Teil des Monsters, ein Roboter auf seinem Sitz.”

“Und er war stolz auf die geraden Linien, die er gezogen hatte, ohne dass sein Wille eingegriffen hatte, stolz auf den Traktor, den er weder besaß noch liebte, stolz auf diese Macht, die er nicht kontrollieren konnte.”

John Steinbeck, Die Früchte des Zorns, 1939

Wenn man sagen kann, dass der Bauer buchstäblich der Bewohner des Landes ist, der von seinem Boden lebt und durch seine Bräuche, seinen Dialekt und seine Siedlungsweise die soziale und kulturelle Einzigartigkeit seiner Region manifestiert, muss man gleich zu Beginn klarstellen, dass diese Realität nicht die ist, die sich die Rechte vorstellt. Dieser Bauer – der verschwunden ist – lebte in seiner eigenen Zivilisation, durch seine Sprachen, Traditionen, Familien- und Landbesonderheiten, originellen symbolischen und religiösen Systeme. Es war die Dichte dieses Gewebes aus Partikularismen, die das Handeln des Staates, des Steuerprüfers wie des Soldaten, in gewisser Weise blockierte: Wie sollte man sich in einem Raum zurechtfinden, der nicht dieselbe Sprache wie die Verwaltung sprach, nicht dieselbe Methode der Aussaat des Landes praktizierte und die Familiennamen nicht von einem Dorf zum anderen auf dieselbe Weise vergab?

Die Modernisierungsbemühungen bestanden also darin, diese inkongruente Rasse auszurotten, indem man ihr ihre Eigenheiten nahm, ihr Landkatastrisierte, den Familienvater zum obligatorischen Vertreter der Gruppe machte und ihre Söhne durch die Einberufung in den Krieg zum Krepieren schickte. Aber das Land ist zäh, und erst nach dem Zweiten Weltkrieg erreichten diese Vereinheitlichungsbemühungen ihre Endphase.

Die materiellen und sozialen Grundlagen dieser sehr speziellen Welt wurden zur Zeit des Marshallplans durch eine Reihe von Strukturveränderungen und intensiver Maschinisierung hinweggefegt: Hecken und Heckenlandschaften wurden abgeschnitten, Gräben zugeschüttet und riesige Parzellen abgegrenzt, die nun von Traktoren bearbeitet wurden, gesteuert von einer neuen Generation von Landwirten, die von modernisierenden Jesuiten und Dominikanern in den Zentren für landwirtschaftliche Technikstudien ausgebildet worden waren. Der Staat investierte Milliarden in diese Richtung. 1954 gab es in Frankreich 230.000 Traktoren; 1963 waren es 950.000. Die Folge dieser Expansion war die endgültige Enthauptung eines Teils der landwirtschaftlichen Bevölkerung, die nicht in der Lage war, zu expandieren und zu mechanisieren und somit im Wettbewerb mitzuhalten.

Rationalisierung der Arbeit, Produktivitätssteigerungen, Zerschlagung kleiner Unternehmen durch die Konkurrenz, die ein solides Wachstum und eine Umverteilung an die Bevölkerung im Konsum sicherstellten: nichts Schädliches, wenn man sich ein beliebiges Lehrbuch der liberalen Wirtschaft ansieht.

Aber was wird aus dem Menschen auf seiner eisernen Maschine? Die Familienbetriebe sind verschwunden, seine Nachbarn sind zu Landarbeitern geworden oder in die Stadt gezogen, und nun muss er das Tier füttern: Um in der kapitalistischen Wirtschaft wettbewerbsfähig zu sein, darf man nicht stagnieren. Mehr Land, mehr Dünger, mehr Maschinen. Mehr als bei jedem anderen Thema sind sich die verschiedenen Modernisierungsideologien darin einig, dass die Arbeit auf dem Land eine Knechtschaft ist, eine undankbare Aufgabe, die den Menschen fesselt, ihn auf seinem Stück Land festhält und ihm die Lichter der modernen Welt vorenthält; Die Welt, von der man später herausfand, dass ihre technischen, energie- und wirtschaftspolitischen Bedürfnisse den Planeten ins Verderben stürzten und inzwischen eine Klasse von Lohnarbeitern und Verbrauchern mit einem tristen, repetitiven Leben geschaffen haben, das dem der Arbeiter von einst wahrscheinlich in nichts nachsteht – die gleiche Abhängigkeit, nur mit technischen Spielereien und chemischen Nahrungsmitteln. Auch der moderne Landwirt hat in den agroindustriellen Methoden eine neue Versklavung seiner selbst entdeckt.

Diese neue Abhängigkeit von den Maschinen ist dreifach: Abhängigkeit durch die gigantischen Schulden, die der Kauf von Maschinen und Land mit sich bringt; Abhängigkeit von den agroindustriellen Kreisläufen, die alle weiteren Produktionsschritte steuern und die Landwirtschaftskammern kontrollieren; und schließlich Abhängigkeit von der Maschine und ihrer Eigendynamik. Denn wenn der Nachbar sich einen größeren Traktor kaufen, das Land der Kleinen aufkaufen und übermäßig düngen kann, wie soll er dann zum gleichen Preis verkaufen? Mit dem Wettbewerb und dem Privateigentum konnten die Landwirte wie der Rest der Gesellschaft zu gegenseitigen Henkern werden.

Diese Logik verschärfte sich mit dem Eintritt in die Europäische Union und den Gemeinsamen Markt. Während die Anfänge der Agrarindustrie im wettbewerbsfähigeren Frankreich erfolgreich waren, geriet dies ab den 1980er Jahren ins Stocken; der europäische Markt wurde mit billigeren Produkten aus anderen Ländern überschwemmt, während gleichzeitig die Gründung der WTO und die Unterzeichnung mehrerer Verträge das Ende des Schutzzolls besiegelten.

Artikel 135 des Vertrags von Lissabon verbietet schlicht und einfach die soziale Harmonisierung, sodass es für die Mitgliedsländer unmöglich ist, europaweite kollektive Standards zu fordern, damit die Arbeitsrechte von einem Land zum anderen übereinstimmen. Dies wäre nicht wettbewerbsfähig!

Man kann die Modernisierung also als diese Mischung aus miteinander verknüpften Elementen zusammenfassen: Flurbereinigung, Rückgang der Anzahl der Landwirte, Anstieg der Anzahl der Betriebe, Ende der Mischkultur/Viehhaltung zugunsten von Monokulturen, Abhängigkeit von Maschinen, Betriebsmitteln und Chemie.

Dieser ganze Weg führt uns zur heutigen Situation: Von 2 500 000 Betrieben im Jahr 1955 sind heute nur noch 400 000 übrig, von denen die neuen europäischen Normen breite Scheiben abschneiden werden. Dieser Rückgang ist auch und vor allem der Rückgang der bäuerlichen Landwirtschaft; vor allem aber ist es der Fortschritt eines Systems, das die französischen Böden erobert hat und jeden Tag das Unglück und die Not von Tausenden von Landwirten nährt.

DAS AGRARGESCHÄFT UND DIE FNSEA

Wie bei den Bullen sind diejenigen, die aus den Selbstmorden im Beruf medial Kapital schlagen, oft die ersten, die sie durch die Arbeitsbedingungen und die Geselligkeit, die sie dort installieren, auslösen – eine reaktionäre Gewerkschaft wie Alliance (rechte Polizeigewerkschaft, d.Ü.) ist ebenso wie die FNSEA, die die Firmen und die großen Getreideproduktionen im Norden verteidigt, auch und vor allem dazu da, Karrieren zu verwalten, schmutzige Wäsche in der Familie zu waschen und eine Lobbyarbeit zu organisieren, die den weniger Skrupellosen in der Institution zugute kommt. Die FNSEA ist in dieser Hinsicht besonders mafiös.

Aber der Aufbau des institutionellen und korporativistischen Universums der Landwirtschaft ist mindestens genauso kompliziert wie diese flutwellenartige Umwälzung ihres mentalen und physischen Universums. Die Hektik der Linken, die so schnell wie möglich ihre Kategorien – extreme Rechte, Opposition Basis/Zentrale, Konvergenz, RN-Stimmen und andere voreilige Vergleiche – aufstellen wollen, offenbart eine tiefe Unfähigkeit, die soziale Dynamik bestimmter Sektoren zu erfassen, und das Vorhandensein von Ideen und Beziehungen zum Staat, die sich von den ihren unterscheiden.

Was sagt uns diese Fieberhaftigkeit? Dass ihre verächtliche – und verachtenswerte – Unkenntnis der landwirtschaftlichen Welt, ihrer Brüche und Widersprüche sie daran hindert, sich auf die gegenwärtigen Ereignisse zu beziehen, ohne sich den verkürzten Kategorien einer städtischen und moralisierenden Linken anzuschließen.

Seien wir uns darüber im Klaren: Die FNSEA bleibt mächtig, katalysiert viele Erwartungen und behält viele Hebel in der Hand. Aber wenn es um Revolutionen geht, und erst recht in unserer Zeit des totalen Rückzugs der Klassenpolitik, geben uns die Stimmabgabe oder die Mitgliedschaft in Gewerkschaften nur abstrakt Auskunft über die tatsächlichen politischen Dispositionen der jeweiligen Gruppen. Zahlreiche Kämpfe in der Vergangenheit haben bereits gezeigt, dass die intellektuelle Software der Linken nicht in der Lage ist, die Wünsche, Empfindlichkeiten und Leiden bestimmter sozialer Gruppen zu verstehen. Das galt zum Beispiel lange Zeit für die Jugendlichen in den Vorstädten.

Für Stadtbewohner, die nichts von den verschiedenen “Gesichtern” der Landwirtschaft wussten, war es schwierig, zwischen dem Bewirtschafter einer kleinen Parzelle, dem Großgrundbesitzer und dem “bäuerlichen” Geschäftsmann zu unterscheiden. Dies wurde besonders deutlich an der Figur von Arnaud Rousseau, der nicht nur an der Spitze derselben Firmen steht, die das Ausbeutungssystem der Landwirte von A bis Z organisieren, sondern sich auch im Fernsehen als Verteidiger ihrer Interessen aufspielt, um schließlich Maßnahmen zum Schutz eines Wirtschaftsmodells zu fordern, zu dessen Profiteuren er selbst gehört.

Dieses sehr mächtige Agrobusiness ist die notwendige Folge der durch die Flurbereinigung gewollten Größenvorteile: Wenn man riesige Monokulturen anlegt, um nicht eine zu große Vielfalt an teuren Maschinen kaufen zu müssen, verfügt man nicht mehr über die Widerstandsfähigkeit einer Polykultur und hat nur noch zwei oder drei Arten von Produkten, die man auf den Markt bringen kann. Der einzige Absatzmarkt für unsere Produktion findet sich also in der Lebensmittelindustrie. Wenn wir dieses Schema auf allen Ebenen wiederholen, sind wir auch von der Logistik- und Chemiebranche, von Saatgut- und Jungviehlieferanten, von Schlachthöfen usw. abhängig. Überspezialisierung bedeutet zwangsläufig Abhängigkeit von der Industrie auf mehreren Ebenen; und die FNSEA, die in den Landwirtschaftskammern dominiert, hat den Charakter eines mafiösen Arrangements zwischen allen Industriesektoren, vom Zulieferer bis zum Großvertrieb, um aus dem Landwirt maximalen Profit herauszuholen.

Der Bodenarbeitende hingegen ist nun ein in Schulden versinkender Unternehmer-Arbeiter – im Durchschnitt 200.000 Euro. Eine paradoxe Doppelsituation: proletarische Arme mit Kapitalistenschultern, Anschluss an die Technologie und den Welthandel für eine Welt, die als ländlich und abgelegen erlebt wurde. Proletarisiert im Sinne von Marx, weil enteignet von seinem Produktionswerkzeug, im Sinne von Wallerstein, weil ohne die Möglichkeit des lokalen Verkaufs und des Eigenverbrauchs, im Sinne von Debord, weil ohne den Arbeitsplatz seines Lebens. Der Zerfall der lokalen Gemeinschaften erreichte die ländlichen Gebiete und führte, wie in der übrigen modernen Gesellschaft, zu einem Rückgang der direkten Solidarität, zum Aufstieg von Konsumindividualismus, Karrierismus und Mittelschichtdenken, wobei das Bewusstsein einer Entvölkerung die dadurch verursachte soziale Isolation noch weiter verschärfte.

Den Zusammenbruch dieser Welt und den moralischen Schock, die Verlassenheit, die dadurch ausgelöst wurde, zu verstehen, ist unerlässlich, um die Forderungen der Landwirte besser zu begreifen. Die Gelbwesten waren die Peripherie der Mittelschicht: Menschen, denen man denselben Lebensstil versprochen hatte wie den Verbrauchern der oberen Schichten, vor allem in den Städten, und die mit Bitterkeit mit ansehen mussten, wie die Wirtschaftsflaute diese Hoffnungen hinwegfegte. Die Landwirte stammen aus dieser Welt, mit ganz anderen Arbeitsbedingungen: Schließlich ist es zwar möglich, einen Menschen auf den Takt einer Lohnroutine einzustellen – dafür sind die Städte mit ihren Verkehrsflächen, Wirtschaftszonen und riesigen Schlafstätten da -, aber es ist schwierig, dem Land denselben Rhythmus aufzuzwingen. Selbst wenn die Landwirtschaft zu Tode industrialisiert ist, hängt sie immer noch von einer Menge natürlicher und biologischer Parameter ab, die sich nur schwer an die Bedürfnisse des Marktes und der Verwaltung nach Ertrag und Kontinuität anpassen lassen – auch wenn viele Ingenieure das in ihren kranken Träumen anders sehen.

Ein Versuch, dies wieder gut zu machen, findet sich bei einem Teil der Linken, die nun die gleiche Unterscheidung treffen will wie bei den “Muster”-Proletariern der Arbeiterklasse. Es gäbe gute Arbeiter und böse Bosse, gute, aufstandsbereite Gewerkschafts-“Basen” und reformorientierte, verfilzte “Zentralen”. Und dann die zwangsläufig verhasste RN-Stimme, die in Wirklichkeit in der Verantwortung der Reichsten läge, denn das Gewissen beschränkt sich bekanntlich immer auf die Brieftasche.

Auf Seiten der institutionellen Linken, die ein Meister in der Kunst der Vereinnahmung ist, ist es das Thema Euroskeptizismus, bei dem das Problem liegt. Da die Kritik an der Europäischen Union weitgehend der souveränistischen Rechten und Teilen der extremen Rechten überlassen wurde, sieht sich die institutionelle Linke gezwungen, ihre Argumente auf die Forderung nach Nahrungsmittelsicherheit und besseren Löhnen in der Landwirtschaft zu beschränken. Die Europäische Union zahlt Subventionen an acht von zehn Landwirten – 400.000 von 500.000. Das Projekt der Progressiven stützt sich auf die Landwirtschaftskammern, die vor 100 Jahren als nationale Akteure in der Verwaltung der Landwirtschaft gegründet wurden. Es geht darum, sie zu Stellvertretern der GAP zu machen, um das Überleben der Landwirte zu sichern. Die Umverteilungspolitik wird auf nationaler Ebene vor dem Hintergrund eines tendenziellen Rückgangs der Zahl der europäischen Landwirte verstärkt.

VON DEN GELBWESTEN ZU DEN ‘AUFSTÄNDEN DER MÜLLTONNEN’

Wir versuchen in diesem Text aufzuzeigen, dass es keine Überraschung ist, dass die Minderheitensektoren der Ultralinken angesichts dieser Art von Ereignissen systematisch ultrakonfus sind, unfähig, deren Sinn und Tragweite zu erfassen; und dass einige Grundlagen überdacht werden müssen, damit dieser Sektor, der sich revolutionär nennt, den Aufgaben, die er sich selbst stellt, gewachsen ist. Wir wollen nicht einmal auf das hilflose Gestikulieren der parlamentarischen Linken eingehen, die bereit ist, auf jedem Strohhalm zu reiten, um sich als Verteidigerin eines Volkes aufzuspielen, das sie nicht mehr erkennt. Wir erinnern höchstens daran, dass der ständige Alarmismus in Bezug auf die extreme Rechte ein Bestandteil des verzweifelten Diskurses der Wählerschaft ist, die das Wunder eines aufmüpfigen Wahlsiegs als einziges Mittel verkaufen will, um uns vor der Gefahr der extremen Rechten zu retten. Für uns ist genau diese Entmachtung der Bürger durch die Stimmabgabe ein Hindernis für den Aufbau einer Gegenwehr.

Was auf den Straßenblockaden geschieht, entzieht sich sowohl der Wahllogik als auch der üblichen Funktionsweise des sozialen Dialogs und seiner Vermittler – trotz ihrer Unterminierung durch die Ausübung der macronschen Macht. Wenn ein François Purseigle auf die soziologischen Unterschiede zwischen Landwirten und Gelbwesten hinweist, verfehlt er das Geschehen. Dass erstere eher den CSP+ als den CSP- nahestehen, interessiert uns nicht: Entscheidend ist, dass ein zusätzlicher Sektor der Bevölkerung das institutionelle Monopol der Politik tastend ablehnt.

Vergleiche mit den Gelbwesten machen nur bedingt Sinn: Die Revolte im Winter 2018 ist kein redundantes Element, das dazu gebracht wird, sich zu wiederholen, sondern die Eröffnung einer neuen Sequenz in der französischen Politik. Zu identifizieren und zu vergleichen, ohne die Entwicklungen zu sehen, zeugt von einem gravierenden Mangel an Vorstellungskraft. Nichts wiederholt sich; Trends eröffnen sich, entwickeln sich weiter und verändern sich selbst. Vergleiche sind nur in diesem Rahmen von Interesse, ansonsten nähren sie nur einen defätistischen Fetischismus wie z. B. den der Einnahme der Champs-Élysées, der zwar nicht völlig in den Papierkorb geworfen werden sollte, uns aber in der Regel Zeit und Energie kostet. Es war die ständige Erneuerung, die Fähigkeit, überall aufzutauchen, die die Stärke der Gelbwesten ausmachte. Muss man daran erinnern?

In diesem Fall wiederholt sich die Unmöglichkeit, den Unmut in die gewerkschaftliche Schablone zu pressen, die Kämpfenden in einige vordefinierte Sektoren aufzuteilen und der Bewegung anerkannte Sprecher mit ihren Parolen aufzuzwingen. Diese verselbständigt sich, wie zu Beginn der Gelbwesten, ausgehend von einem auslösenden Punkt und weitet sich auf verschwommene Weise zu einem allgemeinen “Ras-le-bol” (Überdruss) aus. Dieses verschwommene, aber starke Gefühl ist ein sehr wichtiger Marker: Es verweist auf die Unfähigkeit des Systems, sich selbst zu reproduzieren, auf einen unerträglich gewordenen Widerspruch. Ein Teil der Bevölkerung kann nicht mehr wie früher leben: Das ist bekannt, aber noch radikaler ist, dass sie sich nicht mehr vorstellen können, wie früher zu leben, und dass die Erkenntnis dieses Umschwungs einen Schock auslöst.

Gehen wir noch einmal von der Sequenz 2023 aus: Wir konnten in einem Text zu dieser Zeit [1] sagen, dass das, was sich in den Methoden und in dem diffusen Gefühl eines Umbruchs geändert hatte, sich in den Köpfen und Reden nur schwer ändern ließ. Was die Stärke der Gelbwesten ausmachte – das gemeinsame Gefühl, alles von vorne beginnen zu müssen, um erfolgreich zu sein, die Revolte, die ausbrach, sobald der Wunsch entstand, die Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen, der ständige Erfindungsreichtum, die Wiederaufnahme alter, veralteter Kampfformen -, gelang bei den ‘Mülltonnen-Unruhen’ nicht. Denn der Erfindungsreichtum war aus der Ausweitung der Parolen entstanden: Jeder erkannte etwas Neues in dem ‘Concorde-Ereignis’ und verstand instinktiv, dass das gemeinsame Gefühl eines totalen Überdrusses hinsichtlich unserer Passivität neue Möglichkeiten schuf; eine Menge bislang unmöglicher Dinge hörten auf, unmöglich zu sein. Es war das Gegenteil von einer Krise, von einem Moment der Blockade: Es war ein Momentum. Daher die wilden, verstreuten Demonstrationszüge, die neuen Parolen, die unerwarteten Konvergenzen, die enorme Motivation.

Was hat dieses Momentum, diesen Schwung verbraucht? Die Unmöglichkeit, dies in die Sprache zu übersetzen, in die Art und Weise, wie wir untereinander über die Situation sprechen.

Diese neue Situation existierte nur ansatzweise im kollektiven Unterbewusstsein. Die repressive Routine der Gewerkschaftsprozessionen und die Machenschaften der Politiker in den Zentralen, die Termine verlegten, die Koordination von Streiks und Aufständen blockierten und die Verlängerung von Streiks einschränkten. All dies wurde nur durch Zufall überrannt. Es fehlte das Bewusstsein für den Gegensatz zwischen zwei unversöhnlichen Willen, dass sich alles ändern und nichts ändern sollte, und dass keine der beiden Seiten diesen Willen klar formulieren konnte. Hätte man sich ernsthaft daran gemacht, diese neue Situation in Worte und Taten umzusetzen, hätte sich das explosive Potenzial der Situation verdreifacht.

Doch die atavistische mentale Software der Linken blieb 30 Jahre in der Vergangenheit stecken, wiederholte die gleichen Banalitäten und ging mit dem gleichen Repertoire auf die Sache ein. Ohne die Rolle der Gewerkschaften, den Nutzen von Praktiken und die Relevanz von Parolen kritisch zu überdenken, sind wir weniger als drei Wochen nach Beginn dieser großartigen Sequenz wieder in die Apathie zurückgefallen. Die kollektive Verantwortung ist groß; unfähig, den Kopf aus dem Arsch zu ziehen, wiederholte der “revolutionäre” Sektor weiterhin in Endlosschleife seine Slogans, sabberte auf Videos von Krawallen und tolerierte die Anwesenheit des Ordnungsdienstes und der Parlamentarier, die nur darauf aus waren, den Protest zu beruhigen, um ihn besser ausnutzen zu können. Diejenigen, die diese Probleme beklagten, versuchten nicht einmal, sie explizit darzulegen.

WAS UNS DAS ÜBER DIE AKTUELLE SITUATION SAGT

“Vor allem aber: Die Darlegung einer revolutionären Perspektive muss immer darin bestehen, zu beschreiben und zu erklären, was Tag für Tag geschieht; und sie darf sich niemals mit der Lächerlichkeit begnügen, abstrakt allgemeine Ziele zu verkünden.”

Guy Debord, Brief an Afonso Moteiro

Man sollte die Kampfgewohnheiten der Landwirte nicht unterschätzen, die schon immer in der Lage waren, auf spektakuläre Weise zu mobilisieren. Blockaden mit Traktoren, Mist auf Rathäuser, Schweine auf die Autobahn loslassen: Nichts ist völlig neu, außer dem Tempo der Mobilisierung. Die FNSEA wird überholt und kritisiert, die Methoden werden sofort offensiver; was man beobachten kann, ist, dass die Bevölkerung seit den Gelbwesten und in zunehmendem Maße weiß, wie sie mit dem Staat reden muss.

Wir finden einen Teil des Musters der Gelbwesten wieder: Mobilisierung zu einer Aktion, die einer Linken, die von diesem Teil der Bevölkerung völlig abgekoppelt ist, harmlos erscheint; Ausweitung der Parolen auf eine Gesamtforderung zur Lebensqualität, die den Rest der Bevölkerung unisono mitschwingen lässt; teilweise Konvergenz und kritische Überwindung der Gewerkschaften. Wie bei vielen Bewegungen der letzten Zeit kann man schnell beobachten, dass sich der Rest der Bevölkerung von dem Kampf eines einzelnen Sektors angesprochen fühlt, sobald dieser sich aus dem üblichen institutionellen und medialen Rahmen befreit. An diesem automatischen Umschwung zu etwas Kollektivem, diesem informellen Gefühl, dass ein kollektiver Kampf geführt werden muss, müssen Revolutionäre arbeiten; hier müssen sie die Feder führen.

Die Folge ist, dass Politiker aller Couleur versuchen, die Proteste in ihre Kategorien einzuordnen, und dass die Wachhunde des Staates und der FNSEA vorübergehend schweigen, da sie sorgfältig abwarten, bis sich die Situation in eine Richtung entwickelt, in der sie besser mit der Zersetzung spielen können. Sie warten ab, aber sie lassen sich nicht täuschen: Wie bei den Unruhen nach Concorde dauert ihre Verblüffung nur eine gewisse Zeit, danach werden sie den kleinsten Moment der Schwäche zu nutzen wissen, um ihre Rede von der Rückkehr zur Ordnung zu entfalten und die Truppen loszuschicken, um sie zu garantieren.

Angesichts dessen ist zu befürchten, dass die Revolutionäre in ihrer üblichen Haltung verharren und die leeren Phrasen der Ideologie aneinanderreihen, ohne zu verstehen, wie sie die Situation für sich nutzen können. Trotz einiger positiver Entwicklungen seit 2018 müssen wir feststellen, dass wir insgesamt unfähig bleiben, unsere Vorgehensweise und vor allem unsere Art und Weise, die Gesellschaft und ihre Aufstände zu verstehen, zu verändern.

Es ist jedoch gerade die Aufgabe revolutionärer Militanter, über die aktuelle Situation nachzudenken, sie zu antizipieren, zu versuchen, ihr Worte zu geben, ihre unsichtbaren Beweggründe und ihre großartigen Möglichkeiten zu verstehen. Wie es in einem Kommuniqué der Antifaschistischen Aktion Paris-Banlieue sehr treffend heißt, ist die militante Untersuchung ein erstes Mittel, das allen zur Verfügung steht: kommunizieren, untersuchen, Zeugenaussagen sammeln, Beobachtungen liefern. Dies erleichtert sowohl das Gesamtverständnis als auch die Kommunikation mit den kämpfenden Sektoren.

GEGEN DIE KONVERGENZ

Dies ist weder ein Aufruf zur Unterstützung noch eine Aufforderung, sich an der ‘Überlauf Aktion’ zu beteiligen. Die Landwirtschaft erwartet nichts von uns, und wir erwarten auch nichts Besonderes von ihr.

Die Linke spricht von Konvergenz der Kämpfe, um das künstliche Zusammentreffen getrennter sozialer Bewegungen, Kollektive und Gruppen zu bezeichnen – künstlich, weil dieses Zusammentreffen keineswegs zur Aufgabe der vom System erzeugten getrennten Kategorien führt, sondern sie in ihrer Trennung verstärkt, indem es sich damit begnügt, sie nebeneinander aufzureihen. Die Konvergenz der Kämpfe beruht auf der Existenz einer zentralen Organisation, die damit beauftragt ist, eine programmatische Synthese der spezifischen Interessen der getrennten Kategorien – Studenten, Angestellte, Landwirte, Landarbeiter, Handwerker, Beamte usw. – herzustellen. Das alte leninistische Prinzip gilt nicht: Die Partei besitzt die Klasse, formuliert ihre Interessen und diktiert ihr Verhalten – der Teil wird zum Ganzen.

Wir haben wenig Interesse an den frommen Wünschen nach Konvergenz und der politischen Vereinnahmung, die sich dahinter zu verbergen versucht. Aus den abgeschotteten Positionen der institutionellen und außerparlamentarischen Linken wird nie etwas hervorgehen. Wir lassen uns nicht täuschen, was die Möglichkeiten angeht, die sich insbesondere durch die Untersuchungsarbeit auf dem Gebiet der Mobilisierung eröffnen, um die politischen Sensibilitäten ihrer Akteure zu beeinflussen. Wir weigern uns jedoch, angesichts der Ausweitung der Forderungen und der Aussicht auf eine Ausweitung der Mobilisierung durch den Eintritt anderer Teile der Bevölkerung und der Klasse in die Bewegung – insbesondere LKW-Fahrer und Beschäftigte des Baugewerbes – passive Zuschauer zu bleiben. Wir müssen dabei sein – wenn wir nicht dabei sind -, um die Art und das Ausmaß dessen, was sich abspielt, zu verstehen.

Groupe Révolutionnaire Charlatan

Januar 2024

[1] Ne pas rester au milieu du gué, veröffentlicht im April 2023 u.a. auf Paris Luttes Info.

Veröffentlicht am 29. Januar 2024 auf Lundi Matin, ins Deutsche übersetzt von Bonustracks.

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