Ein Exkurs über “legitime” Gewalt

Für Serge D., seine Eltern und Genossen,

Und für alle Verstümmelten, Verletzten und Traumatisierten von Sainte-Soline.

Die wahrscheinlichste Hypothese ist, dass die politische Argumentation so vollständig zusammengebrochen ist, dass jeder Minister, Staatssekretär oder Abgeordnete heute seine Schandtaten zur Schau stellen kann, ohne vor Scham zu erröten, und sie zudem mit einer Vielzahl von Lügen untermauern kann. Die apokalyptische Sequenz, die wir gerade erleben – von den Renten bis zu den Mega-Bassins – zeigt, dass, um es mit den Worten eines “tonton flingueur” zu sagen, “die Arschlöcher alles wagen, man erkennt sie sogar daran”. Und man erkennt sie in der herrschenden Macronie so gut, dass ihr Anführer als deus ex machina eines verlängerten Nichts in die Geschichte eingehen wird.

In meinem politischen Gedächtnis – und meins ist ziemlich lang – wurde diese Hypothese nie so überzeugend bestätigt. Das geht so weit, dass die vom Innenminister am laufenden Band vorgetragenen Lügen zwar ebenso belehrend sind wie die Wahrheiten, doch stinken diese so sehr nach Fälschung, Übertreibung und Dummheit, dass sie neben dem Pinocchio-Effekt, den sie erzeugen, schließlich auf vulgäre Weise die Essenz dessen verkörpern, was diese Macronie auszeichnet: Ihre Einzigartigkeit, jeden zu beschmutzen, zu erniedrigen, auszugrenzen und zu misshandeln, der auch nur friedlich versuchen würde, ihr klarzumachen, dass ihre Welt eine Schweinerei ist.

Es wurde bereits alles oder fast alles über diese finstere Figur gesagt, die von Beauvau aus die Geschicke und die Entwicklung der Sicherheitskräfte des CAC 40 [franz. DAX, d.Ü.] und der Oligarchen leitet. Es wurde alles über seine Taten als “erster Polizist Frankreichs”, sein Verhalten als schäbiger Kleinkrimineller, sein Umdrehen der Jacke, seinen Sinn für Humor, der der  eines Panzerkommandanten ist und sein Charisma, das eines Gartenzwerges würdig ist, gesagt. Alles wurde so vollständig gesagt, dass man zwar seinen Rücktritt fordern sollte, aber dabei daran denken sollte, dass Pinocchio Castaner ersetzt hat, der seinerseits vor keiner Schurkerei zurückschreckte. Denn Innenminister in der Macronie zu sein bedeutet, sich – wer immer man auch ist und woher man auch kommt – in der “unendlichen Unendlichkeit”, wie Spinoza es nannte, der Niedertracht und der krummen Dinger zu suhlen. Selbst wenn er wie ein Notar aus der Provinz gekleidet ist, wie Colomb, ein ehemaliger sozialistischer Sekretär, der unter Macron zur Jagd auf Migranten und ZAD’isten übergegangen ist und ein würdiger Nachfolger des “Hollandisten” Cazeneuve ist, der als an erster Stelle und nie bereuender Verantwortlicher für den Tod von Rémi Fraisse in Sivens im Jahr 2014 benannt werden muss. Man könnte natürlich noch weiter zurückgehen, aber wir belassen es dabei und stellen fest, dass der Macronismus nichts anderes ist als die Verewigung des Schlimmsten in allen Dingen.

Die guten Seelen der Theorie, die die Gelbwesten-Bewegung radikal übersehen haben [1] ,werden mir wieder einmal sagen, dass keine Analyse der real existierenden kapitalistischen Ordnung sich damit begnügen kann, sich auf die konjunkturelle Lage zu beschränken und um dann zu präzisieren, dass der Macronismus letztlich nur ein Epiphänomen ist, das zwar monströs, aber logisch ist und vor allem die Krise des gesamten “Systems” der Ausbeutung und Herrschaft aufzeigt.

Abgesehen davon, dass man bezweifeln kann, dass diese Art von Verallgemeinerung uns in irgendeiner Weise helfen kann, regt alles im Gegenteil dazu an, über die Einzigartigkeit des Macronismus nachzudenken und darauf hinzuweisen, inwiefern und wie die krasse politische Armseligkeit der herrschenden Kaste in jeder Hinsicht zu der überwältigenden Epoche der Mittelmäßigkeit passt, die sie hervorgebracht hat. Im Klartext heißt das, dass man verstehen muss, was dieses Regime der radikalisierten extremen Mitte auszeichnet: die wahnsinnige Arroganz, mit der es sich aus freien Stücken dem ständigen “chamboule-tout” hingibt, und die Tatsache, dass seine Machtausübung notgedrungen vollständig auf seinen Polizeikräften beruht, die ihrerseits unter starkem Einfluss der extremen Rechten stehen.

Gibt es eine macronistische Besonderheit im Umgang mit der polizeilichen Ordnung? Die halbwegs seriöse Expertise stellt dies fest und illustriert es, die internationalen Institutionen geben ein irritiertes Echo, die letzten unabhängigen Journalisten bestätigen es. Von unten betrachtet ist das, was seit der Massenrepression gegen die Gelbwesten ins Auge springt, seitens der Machthaber der erklärte Wille, der jedes Mal noch deutlicher zum Ausdruck kommt, mit Schlagstöcken in unsere hohlen Köpfe hineinzuprügeln, dass die Gewalt, der sie uns aussetzen, “legitim” sei. Mit anderen Worten: Wir haben noch lange nicht genug, bis wir verstehen: 1) dass der Staat das “Monopol der legitimen Gewalt” besitzt; 2) dass jede Gegengewalt von Natur aus illegitim ist; 3) dass die Polizei, wenn es heiß hergeht, alle Rechte hat; 4) dass es so ist, weil Max Weber es so gesagt hat. Ansonsten gilt: Weitergehen, nichts zu sehen. Ansonsten: Fresse halten und richtig Gas geben. Und zwar völlig legitimiert.

Max Weber (1864-1920), ein ehrenwerter Soziologe aus vergangenen Zeiten, muss sich im Grabe umgedreht haben, als er von dem Faschisten Zemmour, dem finsteren Darmanin, dem vorgetäuschten sanften Präfekten Nuñez, dem behelmten Soziologen Dominique Reynié und anderen als Zeuge herangezogen wurde, um in seinem Namen zu behaupten, dass der Staat lediglich das “Monopol der legitimen Gewalt” ausüben würde, auf das er naturgemäß als einziger Anspruch hätte. Wenn das so “alt wie Max Weber” ist, wie diese Phalanx von falschen Zeugen trompetet, ist es vor allem dumm wie der Mond. Und es beweist, dass diese Schwachköpfe, die Max Weber nie gelesen haben, und ohne dass ihnen jemals ein Präfekturjournalist widerspricht, einen absoluten Widerspruch in sich selbst begehen. Denn Max Weber, meine Herren Fanatiker des Ordre éborgneur, hat nie geschrieben, dass staatliche Gewalt legitim sei, sondern dass jeder Staat für sich selbst dieses Monopol beansprucht und versucht, seine staatliche Legitimität durchzusetzen, was alles in allem etwas anderes ist. Bei Max Weber findet sich kein normatives Urteil, sondern eine Tatsachenfeststellung: Diese Gewalt, deren einziger Verwahrer der Staat ist, weil er es ist und sein will, ist nicht legitim in dem Sinne, dass sie gerecht wäre, im Gegensatz zu dem, was Zemmour, Darmanin, Nuñez oder Reynié induzieren, sondern sie wird vom Staat legitim durchgesetzt, wenn seine eigene Existenz ihm bedroht erscheint. Indem der französische Staat, wie es unter Macron offensichtlich geworden ist, systematisch eine völlig illegitime Gewaltanwendung vornimmt – alle Bilder der Repression belegen dies -, reiht er sich, natürlich könnte man sagen, in einen Prozess ein, der seit Pinochet und den Chicago Boys bekannt ist: der Prozess, der zur physischen Zerschlagung jedes sozialen oder politischen Protests führt, der sein Dogma gefährden könnte, und zwar mit allen Mitteln, über die der marktwirtschaftliche Staat verfügt und die er missbräuchlich anwendet. Daher wird das Mantra des “Monopols der legitimen Gewalt” verwendet, um den Fisch zu ertränken. Ein Mantra, das, wie die ausgezeichnete Catherine Colliot-Thélène – eine profunde Kennerin Max Webers und Übersetzerin seines berühmtesten Werkes, ‘Der Gelehrte und der Politiker’ – anmerkte, nur “das pseudogelehrte Kabarett von Politikern ist, die nach Argumenten suchen, um die repressiven Auswüchse der Republik zu rechtfertigen” [2].

In der heutigen Zeit dient dieser Verweis auf die “Legitimität” im Übrigen dazu, jede Art von Gewalt zu rechtfertigen: Die einer ohne Konsultation durchgesetzten Rentenkonterreform, die einer 49-3-Klinge, mit der jede Debatte beendet werden soll, die der BRAV-M und anderer Söldnerkorps, jene Gewalt, die missbräuchliche Polizeigewahrsamsmaßnahmen durchsetzt, jene der polizeilichen Reusen, obwohl diese verboten sind, die eines ungepflegten, dickbäuchigen Stadtpolizisten, der sich darauf stürzt, einen Jungen auf dem Schulhof eines Gymnasiums in Conflans-Sainte-Honorine zu ersticken. In der Macronie ist alles legitim, was Demonstranten terrorisiert oder verstümmelt. Dass keiner von Macrons Handlangern, Anhängern, Leitartiklern und Beratern den öffentlichen Mut oder die einfache Klarheit hat, sich von diesen abscheulichen Praktiken zu distanzieren, zeugt von der fortgeschrittenen Fäulnis der “neuen Welt”, die sie ihren erbärmlichen Wählern verkauft haben, ohne sie zu warnen, dass unter der Tugend ihres obersten TV-Evangelisten das Laster und die systematische Zerstörung jedes gemeinsamen Anstands und hinter seinem “en même temps” die Arroganz und der Ständer lauern.

Die Barbarei der Repression, die am 25. März in Sainte-Soline auf ausdrücklichen Befehl von Darmanin-la-Honte gegen eine Demonstration der “Soulments de la terre” (Aufstände der Erde) ausgeübt wurde, deren einziges Ziel symbolisch war, nämlich auf einen Hügel zu klettern und ein leeres Loch zu umzingeln, das als Mega-Becken für die Aneigner des Gemeinguts schlechthin, nämlich des Grundwassers, dienen sollte, ist unbestreitbar und wird von der unabhängigen Presse weitgehend belegt. Ja, ein leeres Loch, das den Monopolisten des Agrobusiness als Vorratskammer dienen sollte, denselben, die die Erde mit ihren Schweinereien verwüsten und sich an all den Übeln, die sie ihr zufügen, mästen, wurde militärisch von Gendarmen geschützt, von denen man annehmen kann – zumindest hofft man das -, dass einige sich fragten, was sie dort mit 3000 Mann machen. Gehorcht der Niedertracht, Panduren, da dies euer Beruf ist, schmutziger Beruf. Bis wohin, bis wann, das weiß niemand. Wer hat den Krieg in Sainte-Soline geführt? Wer hat in zwei Stunden 5.000 Granaten geworfen, tödliche Verletzungen in Kauf genommen, verstümmelt, zertrampelt, verwüstet? WER? Die Demonstranten oder die Polizei? Die Gegner dieser abwegigen, todbringenden Flucht nach vorn oder die Schurken, die dem Treiben nur ein Ende setzen werden, wenn sie dazu gezwungen werden. Die Antwort liegt in der Frage. Und die Frage stellt sich jeder, außer den zustimmenden Leitartiklern: Warum dieses staatliche Massaker?

Um ein Exempel zu statuieren, um zu terrorisieren, um von der erneuten Teilnahme abzuschrecken. Das ist einfach und “legitim”, denn nur der Staat hat das Gewaltmonopol und die Mittel, um seine Milizen entsprechend zu bewaffnen. Doch der Staat, und dieser im Besonderen, kann nie genug bekommen. Er will nicht nur unterdrücken, sondern auch beschmutzen, unterstellen, verleumden, beleidigen, diffamieren, Tatsachen verschleiern, sein Gift verspritzen und die Ehre derjenigen beflecken, die sich seinen Vorrechten widersetzen. Daher die Kinnhaken seines Ministers der niederen Werke, die Ordnungsaufrufe an seine Abgeordneten – die es nicht mehr wagen, ohne massiven Polizeischutz in ihre Wahlkreise zurückzukehren -, die Jagd seiner bezahlten journalistischen Sprecher auf die “fichés S”, als ob es in diesem Polizeistaat, in dem so wenig genügt, um in die umfangreiche Datei von “Big Macron” aufgenommen zu werden, ein Verbrechen wäre, ein solcher zu sein. So wie die Dinge in diesem Land der entlarvenden Lügen laufen, könnte die Liga für Menschenrechte, eine respektable Institution, letztendlich sogar wegen Gefährdung der Sicherheit des Staates aufgelöst werden, ihres Staates, des Staates, der durch sein Spiel mit dem Schändlichen den institutionellen Lepénismus schließlich fast süß macht. Und so, von Charybdis nach Skylla, wird der Macronismus seine Mission erfüllt haben: uns in eine endlose Nacht zu stürzen.

Allerdings haben die letzten Monate einige neue Wahrheiten zutage gefördert, von denen die wichtigste, vor allem seit dem 49.3, sicherlich das erstaunliche Engagement der Jugend in einer Bewegung ist, die sie scheinbar nicht so stark betreffen sollte. Diese massive, bunte, aktive, respektlose, festliche und entschlossene Beteiligung, die an sich schon bedeutsam ist, ist vielleicht ein Zeichen für einen Perspektivenwechsel, für eine Repolitisierung. Auch die anhaltenden Blockade- und Besetzungsaktionen, der physische Widerstand gegen Polizeieinsätze, die nicht angemeldeten und nächtlichen Demonstrationen, die verschiedenen Solidaritätsaktionen auf den Streikposten, die Verallgemeinerung der Streikkassen, die Dynamik, mit der sich konsequente Gewerkschaftsbasen der Lauheit ihrer Führungen entgegenstellen, sind allesamt Elemente, die auch hier eine deutliche Zunahme der durch die Gelbwesten erneuerten Praktiken der Autonomie und der direkten Aktion belegen.

Über das punktuelle Gefühl der Niedergeschlagenheit hinaus, das wir angesichts der Unverhältnismäßigkeit der Mittel zwischen dem Staat und uns empfinden können, sollten wir also davon ausgehen, dass die “legitim” ausgeübte Gewalt unsere offensiven Widerstände immer legitimieren wird.

Die schlechten Zeiten werden enden!

Freddy GOMEZ

Anmerkungen:

[1] Neugierige können zu dieser Thematik “Misère de la Théorie en temps d’émeute” (Elend der Theorie in Zeiten des Aufruhrs) konsultieren.

[2] Catherine Colliot-Thélène, “La violence n’est pas nécessairement “légitime” dès lors qu’elle est le fait de l’État”, Le Monde.fr, 19 février 2020.

Auf französisch erschienen am 13. April 2023 auf A contretemps.

taken from bonustracks

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