Post-Globalisierung und Gaza

Wenn man heute von Multipolarität spricht, womit vor allem ökonomische und insbesondere geopolitische Verschiebungen auf dem Globus gemeint sind (BRICS), dann muss man auch konstatieren, dass die USA mit ihrem globalisierten Finanzsystem, dem Dollar und dem industriell-militärischen Komplex bis auf Weiteres die führende Hegemonialmacht bleiben. Es kündigt sich dennoch etwas an, was man vielleicht im Zuge einer Post-Globalisierung den fünften Weltkrieg nennen könnte. Deleuze/Guattari hatten vom dritten Weltkrieg als einem technologischen Krieg gesprochen, bei dem die Politik die Verlängerung eines kriegerischen Friedens ist, und Baudrillard von einem vierten Weltkrieg, der durch den Krieg gegen den Terror entfacht wurde. Im Zeichen von “Unipolarität gegen Multipolarität” wurde bereits der Krieg in der Ukraine verhandelt, und es ist nicht auszuschließen, dass der neue Krieg um Gaza ungeahnte internationale Dimensionen annehmen wird. Gleichzeitig ist vom zweiten kalten Krieg die Rede, der sich vor allem zwischen den USA und China abspielt. China hält sich im Gaza-Konflikt derzeit auffallend zurück, was nicht bedeutet, dass China hier nur als passiver Beobachter zu sehen ist. Längst zeichnen sich neue und gegensätzliche Projekte der Governance im globalen Rahmen ab. Wir verstehen darunter staatliche, ökonomische und in Netzwerken organisierte Prozesse, die wir an anderer Stelle beschrieben haben.

Auch das Massaker der Hamas muss in die aktuelle geo-ökonomische Situation gestellt werden. Die von den USA geförderten regionalen Integrationsprozesse setzten in den letzten Monaten auf eine Normalisierung der wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und einer Reihe von arabischen Ländern in Nordafrika, dem Nahen und Mittleren Osten. Parallel dazu gibt es chinesische Bemühungen, die verfestigten Beziehungen zwischen dem als “schiitisch” bezeichneten Block (Iran-Libanon-Syrien-Irak) und dem  “sunnitischen” Block aufzutauen. Diese beiderseitigen Bemühungen sind ohne Verschärfung von Divergenzen nicht möglich.

Die Anschläge der Hamas zeigen, dass diese von den USA und China initiierten Prozesse der Normalisierung ohne die Beachtung der palästinensischen Frage nicht zu haben sind.  Für die Hamas ist der Aufbau einer islamistischen politischen Bewegung mit mittelfristigen Klasseninteressen verbunden, dem Aufstieg der Kleinbürger von Gaza zu einer überschaubaren palästinensischen Kapitalistenklasse, einer Wiederbelebung der kapitalistischen Verhältnisse in einem relativ kleinen, aber dicht mit jungen und gebildeten Arbeitskräften bevölkerten Gebiet. Zu leiden hat darunter das palästinensische Proletariat.

Indem die Hamas die Gewalt gegen israelische Zivilisten in einem noch nie dagewesenen Ausmaß entfesselt und Israel in einen groß angelegten Krieg hineinzieht, zeigt sie auf grausame Art und Weise die Grenzen eines rein repressiven oder militärischen Ansatzes zur Lösung der Palästinafrage auf. Für Israel bedeutet die “Ausrottung der Hamas” nicht nur, Truppen im Rahmen einer technisch schwierigen Militäroperation mit ungewissem Ausgang nach Gaza zu schicken. Es bedeutet, sich der Wahrscheinlichkeit massiver Unruhen im Westjordanland und der Eröffnung einer weiteren militärischen Front an der Grenze zum Libanon (Hisbollah) auszusetzen.

Und kann man im eigenen Land über die hochtechnologisierten militärischen und kontrolltechnischen Potenziale  hinaus Jugendliche für den Krieg gewinnen? Jugendliche mit Doppelpass, für die Tel Aviv nur eine von vielen Unterhaltungsmetropolen ist, oder die russischsprachigen Juden, die kaum Hebräisch sprechen, die Haredim, die Subventionen saugen, aber von der Wehrpflicht befreit sind, die israelischen Araber, die immer noch und immer wieder als Bürger zweiter Klasse behandelt werden? Die Vertreibung der palästinensischen Arbeitskräfte, die stillschweigende oder ausdrückliche Unterstützung neuer Siedlungen, die administrative Aufteilung des Westjordanlandes haben den inneren Zusammenhalt in Israel nicht unbedingt verstärkt. Es gibt für Israel neben der externen Bedrohung des Existenzrechts, das aber uneingeschränkt zu gelten hat, durchaus die weitere reale Bedrohung, dass es nicht mehr in der Lage sein wird, den inneren Zusammenhalt herzustellen, der notwendig ist, um sich nach außen zu projizieren. Es besteht die Gefahr, dass es trotz der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung (die massive Ungleichheiten und eigene Kapitalinteressen inkludiert, siehe die Analyse von Bichler/Nitzan), so ohne weiteres eine innere Einheit nicht herstellen kann. Deshalb sollte eigentlich der externe Konflikt von geringer Intensität und überschaubaren Ausmaßen bleiben. Dies steht nun zur Debatte.

Die Idee einer palästinensischen Nation, eine blasse Erfindung des britischen Kolonialismus, die sie zur Zeit des Mandats Palästina war, erreicht jetzt viel einen neuen Aufschwung. Zudem ist die politische Strategie der Hamas zumindest indirekt mit einem Teil desjenigen palästinensischen Proletariats verknüpft, für das Israel immer weniger ein Kapital-Arbeitgeber und immer mehr eine repressive. kontrolltechnische und militärische Kraft ist. Dies bringt uns zu Dilemma, vor dem Israel steht: in Gaza einmarschieren, aber was tun?  Die Art von asymmetrischem Krieg, der geführt (und gewonnen) werden müsste, um “Gaza zu säubern”, würde eine Reihe von Bedingungen erfordern, die derzeit nicht erfüllt sind, in erster Linie die Neutralität oder die Duldung eines großen Teils der lokalen Bevölkerung. Natürlich schließt der unrealistische Charakter der Operation nicht aus, dass sie durchgeführt wird, mit allen völkerrechtswidrigen Konsequenzen. Bombardierungen aus der Luft und willkürliche Verhaftungen, Grenzkontrollpunkte und Wirtschaftsblockaden, unbefristete Inhaftierungen, Bulldozer und Tränengas gehören längst zum Tagesgeschäft.

In den letzten Jahren haben sich also die Konstellationen und Variablen, die auf dem Spiel stehen, verändert. Die globale Konfrontation zwischen den USA und China ist der wichtigste Knackpunkt im Szenario Unipolarität vs. Multipolarität. Beide haben auch im Nahen Osten verschiedene Strategien und Interessen, die mit dem Krieg einerseits variieren und andererseits fortbestehen werden.

Die größte wirtschaftliche Gefahr nach dem Gaza-Krieg besteht nach Ansicht des IWF in einer Eskalation der Kämpfe in Israel und Gaza zu einem größeren regionalen Konflikt. Dies könnte zu einem neuen Inflationsschub in den Volkswirtschaften führen, die sich gerade erst von einer Reihe von Preisschocks zu erholen beginnen. Der IWF geht davon aus, dass ein 10-prozentiger Anstieg der Ölpreise die weltweite Inflation um etwa 0,4 Prozentpunkte erhöhen würde. Das globale Wirtschaftswachstum könnte auf 1,7 Prozent sinken, was einen Vermögensverlust von einer Billion US-Dollar bedeuten würde. Zugleich könnte der Ölpreis auf 150 US-Dollar pro Barrel steigen. Konflikte im Nahen Osten erschüttern immer die Welt, da die Region ein wichtiger Energielieferant ist und wichtige Handelsrouten durch sie verlaufen. Der arabisch-israelische Krieg von 1973, der zu einem Ölembargo und einer jahrelangen Stagflation in den Industrieländern führte, ist ein anschauliches Beispiel dafür. Der jetzige Konflikt muss in seinen Ursachen, Dimensionen und Auswirkungen immer auch in diesen Kontexten gelesen werden.

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