Imagination und Realität – Psychoanalyse vs. Baudrillard

Die neue Phase des Spätkapitalismus zeichnet sich weniger durch Produktion als durch Zirkulation aus. Mit ihr wurde eine enorme Inflation des Bildes, der Musik und allgemein des Imaginären eingeleitet. Es handelt sich, wenn man die Subjekte betrachtet, um eine äußere und innere Überflutung durch eine imaginäre Technizität, die durch den Mangel an Sprache und sozialen Bindungen, ja durch den Mangel am Symbolischen erzeugt wird. Ein spiegelndes Glaslabyrinth der Technizität verbindet sich mit einem überquellenden ozeanischen Gefühl – die Intensität intensiviert sich. Menschliche Wahrnehmung besteht eigentlich aus symbolischen Formen, die als Muster im Erfahrungsfeld abstrahiert werden. In dieser Sichtweise ist das Fühlen dann als eine Kontinuität zwischen den materiellen Kräften und der begrifflichen Kraft zu verstehen. In der Kunst kann zum Beispiel der Schein einer gelebten Vitalität Formen von Gefühlen symbolisch zum Ausdruck gebracht werden. Allerdings kommt es oft zu einer Verwechslung des Symbols mit dem Symbolisierten. Gerade Technologien können Wirkungen hevorbringen, die so sehr Gefühle sind, dass wir sie mit diesen verwechseln. Und dies ermöglicht dann eine Mythologie von Gefühlen, die man als das Imaginäre bezeichnen kann.

Zum Beispiel macht die Metastasierung der musikalischen Produktion, Zirkulation und Technik die Musik heute immer verfügbar und lässt jede Unterscheidung zwischen Hintergrund- und Vordergrundmusik kollabieren. Musik simuliert eine vitale Aktivität, ist allgegenwärtig und damit hyperhörbar. Musik wird als ein permanentes Dröhnen verabreicht und wird damit auch wieder unhörbar. Es gibt ein Szenario von Musik, Klängen und Geräuschen, dem man nicht unbedingt zuhören muss. Der Lärm, der durch Radio, Internet und Smartphones entsteht und der durch unsichtbare Transformatoren subtil in alltägliche Routinen integriert wird, treibt die Musik wie das System, so Baudrillard, über ihr eigenes Ende hinaus, sodass einfach kein Grund mehr besteht, dass Musik noch hört oder wahrnimmt. Für Baudrillard ist schon die Hifi-Musik mit einer Säuberung von Klängen und der scheinbaren Befreiung vom Rauschen verbunden und verkommt zur integralen Musik. Makellos in ihr eigenes Modell übergehend befreit sich Musik von der Musik, gerade indem der Klang in technischer Perfektion wiederhergestellt wird. Diese technische Perfektion bedeutet, dass dem Signal ein künstliches Rauschen hinzugefügt wird, um es wieder musikalischer zu machen. Darin liegt die Gefahr einer Glitch-Musik, die lediglich Frequenzen moduliert, Fehler verwertet und Signale korrumpiert.

In der Psychoanalyse bedeutet das Imaginäre ein Reich der glänzenden Oberfläche und der Illusion, das sich aber durch Brüche verflüchtigen kann – zerbrochenes Glas und unüberbrückbare Differenzen. Der Psychoanalytiker Jacques Lacan postuliert das Imaginäre, das Symbolische und das Reale als drei unterschiedliche, aber voneinander abhängige Ordnungen der psychischen Erfahrung. Dabei bleibt die Domäne des Subjekts stets mit einem objektiven Bereich des Sozialen korreliert. Das Imaginäre ist das Register der Bilder, Identifikationen, Ganzheiten und Projektionen; das Symbolische ist das Register der Sprache, Institutionen, Gesetze und Ordnungen; das Reale ist das Register dessen, was das Imaginäre katalysiert und sich dem Symbolischen entzieht – das Unmögliche, das nicht-Darstellbare, das Materielle oder das Unbedeutende. Es gibt eine Überschneidung dieser drei grundlegenden Bereiche, denn das Subjekt des Unbewussten ist vielgestaltig und divergent.

Bilder stellen einen nicht unwesentlichen Teil des medialen Imaginären dar. Für Lacan ist die Sichtbarkeit oder das-im-Bild-sein ein wichtiges Merkmal der Subjektivität. Das Subjekt sieht, aber es immer auch sichtbar, es wird immer gesehen, und das Angeschautwerden ist Teil der Subjektivität. Zwischen dem Blick und dem Subjekt befindet sich heute ein nicht mehr zu überschauendes Bilderuniversum, das den Subjekten vorgibt, wie sie zu sehen und wie sie auszusehen haben. Es sind heute die Bildschirm und seine Bildtechnologien, die eine konstitutive Rolle für den Blick und die Sichtbarkeit des Subjekts spielen.
zu bestimmen. Bildtechnologien sind sich wandelnde historische Formationen, in denen Regime des Blicks sich materialisieren. Man könnte sich die Frage stellen, ob es heute so etwas wie einen digitalen Blick gibt. Wenn man das Digitale mit Lacans diskreter symbolischer Ordnung und den Blick mit dem Kino oder das mit dem Imaginären verbindet, könnte es wahrscheinlich keinen digitalen Blick geben. So einfach scheint es aber nicht zu sein: Mit der operationalen Like-Kultur, die ständig Bilder anordnet, wird der Einzelne zu einem kommodifizierten Datensatz und zugleich in eine visuelle Zirkulation integriert, wobei der Wunsch verstärkt wird, ständig gesehen zu werden. Es ist ein zirkulativer Blick. Der zweite Blickt schreibt darüberhinaus das digitale System ultrabrutal und ultraliberal zugleich in den Einzelnen ein.

Die Millionen von immer lächelnden Selfies, die in den sozialen Medien oder der Online-Werbung zirkulieren, erzeugen eine endlose Oberfläche von Bildern, die durch Likeability organisiert werden. Dabei macht sich der User freiwillig mittels Photoshop sichtbar, wobei das Selfie sein Verlangen repräsentiert, für den Blick zu posieren, insofern er sich als derjenige, der sich selbst fotografiert, unter das Blickregime sowohl der anderen als auch des digitalen Systems selbst stellt. Die Akkumulation von Likes lässt die Kapitalakkumulation in den Bildschirm einsickern und produziert auf ihm gewisse Schönheitsstandards. Die User offerieren sich dem Blick des digitalen Regimes und stellen schamlos eine fluide jouissance aus, ohne zu wissen, dass das Regime die Kontinuität zwischen jouissance und Kapitalisierung und Vermarktung ständig nue inszeniert. Mit den vernetzten Bildern des digitalen Systems kommt nun zudem der Blick on überall her und lässt daher kaum noch eine Möglichkeit zur Anonymität. Er läuft auf die totale Sichtbarkeit und den totalitär überwachenden und quantifizierenden Blick des Staates und des Kapitals hinaus.

Heute haben wir es mit einer Überbetonung der unmittelbaren und flüssigen Kommunikation in den Netzwerken, einem Übermaß an Bildern, einer Übergewichtung der Präsenz und einer Überbewertung der Identität zu tun – Faktoren, die allesamt das Funktionieren des Symbolischen verhindern oder gar ausschließen. Dabei löst das Eintauchen in das Imaginäre alle Arten von psychischen Störungen, Selbstbehauptungsfantasien und egomanen Wahnvorstellungen aus. Jede dieser Affekte fließt in die zeitgenössische Medienkultur und algorithmische Logik ein oder wird von ihr hervorgebracht. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die Bilder immer wieder auch mit Narrativen und Mythemen (Roland Barthes) gespeist werden – man denke an das blutige Steak, das Kraft verspricht, oder an Redbull, das dich fit macht und deine Leistung steigert. Es handelt sich um eine Art abstrakt zu leben, aber es ist zugleich eine Form der Erfahrung, die unter den berauschenden Wirkungen ihrer eigenen Verzauberung leidet, ihrem eigenen Drang, mehr von der Welt in ihr affektives Imaginäres zu assimilieren.

Das Spiegelbild ist die elementare Trope des Imaginären, wobei Spiegel aber auch Risse bekommen können. Das Glatte und das Zerbrochene sind die Polaritäten des Imaginären. Wie die Spiegeltrope unterstreicht, ist das Imaginäre primär ein visuelles Register des Alltagswissens. Je mehr Bilder in unsere Lebenswelt eintauchen, je glänzender der Schwenk zum Video, je profaner die Selfies – desto effektiver treibt das Medium ein immenses Imaginäres voran.

An dieser Stelle kommt es bei Baudrillard zum ersten Einspruch gegen die Psychoanalyse. Baudrillard hat den Spiegel und seine Verdopplungen mit Verweis auf Lacans Spiegelstadium als einer anderen Epoche als der heutigen Epoche der Simulation und Spekulation zugeordnet. Baudrillard schreibt, dass die Realität heute nicht mehr mit der reflexiven Wahrheit des Spiegels verbunden sei, sondern sie beruhe auf der manipulativen Wahrheit des Tests, der teste, des Lasers, der taste und schneide, der Matrizen, die Sequenzen speicherten, des genetischen Codes, der Kombinationen steuere, der Zellen, die ein sensorisches Universum informierten, und man muss hinzufügen, der Spekulation, die das Geld vervielfacht. (Baudrillard 1976) Es geht also gerade nicht mehr um die Verdopplung des Realen/Realität im Imaginären, sondern um die Transformation, Generierung und Neukonstruktion von Realität durch die Simulation, und exakt diese Hyper-Realität erscheint dann besonders real, weil sie auch schon die Wahrnehmung und Handlungen als Konstruktionsfaktoren der Realität enthält. Mit diesem Einwand erfindet Baudrillard auch einen anderen Begriff der Realität und des Realen als die Psychoanalyse.

Die aktuelle Psychoanalyse zieht heute in ihrer Kritik der Medien oft Lacans Ausarbeitungen zum Narzissmus heran, die sich auf Bildtechnologien stützen. Die Hypervisibilität zwingt zur akribischen Selbstmaniküre. Der Narzissmus bezieht sich grundlegend auf das Bild; das Subjekt investiert libidinös nicht in eine Substantialität wie das »Ich«, sondern in Effekte der Technologie des Spiegels. Ein Selfie ist nie genug. Selbstbehauptung bedeutet hier endlose Präsentation: always on, hyper-stilisiert, selbst-identisch, ständig im Blick. Das zirkulierende Selbstbild gibt zudem auch das Bild des anderen vor, insofern die Selbstverliebtheit eines Narzissten den Anderen einfängt, und zwar in einer Weise, die eng mit Sadismus (Instinkt zur Beherrschung) zusammenhängt. Der Sadist glättet den anderen und konstruiert die Zufügung von Leid, während er jegliche Reaktion verbietet. Die Rekrutierung des anderen für die sadistische Bestätigung zeigt zumindest das Bemühen des Narzissten um Kontakt mit einer Zone der Andersartigkeit an, wobei diese Bemühungen durch Technologien kanalisiert werden, die die bewusste Beziehung kurzschließen, und zwar durch immer mehr Bilder und immer schnellere Zirkulation.

Auch hier erhebt Baudrillard einen gewissen Einspruch. Er spricht von einem Phantomsubjekt. Dieses deliriert als eine Art selbstgenießender Egoman, der sich nicht wie der Narziss auf die (misslingende) Verdopplung des eigenen Ichs konzentriert, sondern sein Ego im Digitalen ausstellt, um unentwegt Kontakt und Feedback einzufangen, und zwar als eine Art sendender und zugleich absorbierender Bildschirm. Die Alterität verschwindet hier im verfluchten Fluss der Selbstkonstruktion. Lacans Aussage, dass das, was ich will, das Wohl der anderen ist, vorausgesetzt es bleibt in meinem Bild, läuft jetzt ins Leere, denn sie verbleibt noch in der narzisstischen Figur, während das, was Baudrillard Look nennt, keinen Narzissmus mehr inhaliert, sondern eine offensive Selbstausstellung als Videobild in Pose bringt, eine Art des Egoismus, der mit seinen bebilderten Selfies alltäglichen  Formen von Individualitätsprogrammen ins Spiel bringt, die das Ego aber nicht lediglich als post-kreativen Produzenten ausweisen, sondern vor allem als einen Endverbraucher der sozialen Medien. (Baudrillard 1992: 31) Man könnte dies auch als selbstoptimierenden Existenz-Striptease bezeichnen. Dabei sind Egoisten auf die (virtuelle) Außenwelt unbedingt angewiesen, sie brauchen andere, die sie bestätigen und die nicht als bloße Anhängsel ihres delirierenden Egos fungieren. Die gegenwärtige urbane Subjektivität ist flüchtig oder flüssig.

Die Subjektivität in der Großstadt wird heute in einem Dutzend von Anwendungen auf digitalen Geräten wie dem Smartphone festgezurrt. Es existiert ein Taschensubjekt, das mit Gadgets bepackt ist, die anzeigen, wie Produktion, Zirkulation und Konsum zu Phasen der Kontrolle, der Imagination und der Verhaltenssteuerung geworden sind. Was die Soziologin Eva Illouz als »skopischer Kapitalismus« bezeichnet, ist ein unablässiger Konsum des Bildes in einer Ökonomie der Reputation, die durch Internetplattformen aufgebläht wird. Avatar-Fetischisten konsumieren ständig Bilder, die das selbstpersönliche »Präsenz«-Management als spontanes Schimmern erzeugen, ohne einen Gedanken an Minenarbeiter, Chip-Mikroprozessoren und Serverfarmen zu verschwenden.  

Auf dem skopischen Terrain gewinnt, so die Psychoanalyse, das Imaginäre an Bedeutung, während das Symbolische schwindet. Eine solche Konstellation erzeugt tendenziell ein Gefühl der Unmittelbarkeit: Ohne eine gemeinsame Sprache gibt es nur noch den Spiegel der alternativen Fakten und der grässlichen Gesichter, der Verzerrungen und Ausbrüche.

Schließlich gilt es noch Folgendes festzuhalten: François Laruelle hat behauptet, dass die Philosophie die Kapitalform des Denkens ist, und man kann annehmen, dass die Psychoanalyse die Kapitalform des Bildes ist. Die Psychoanalyse beinhaltet eine Reihe von Operationen, die einen Überschuss aus den Konten der Träume, Bilder und Fantasien in einer Weise extrahieren, die oft die Singularität eines Bildes oder einer Fantasie verrät. Dieser Verrat ist die Reduktion des Traums, des Bildes oder der Phantasie auf die psychische Arbeit der Produktion des Überschusses, der vom Analytiker interpretiert wird.

Um nun zur Frage der Realität zu kommen. Was versteht Baudrillard unter (Hyper)realität? Baudrillard geht ähnlich wie Michel Serres davon aus, dass heute die Triade Real, Imaginär und Symbolisches ins Virtuelle bzw. Simulative übergegangen ist, womit das Imaginäre als gepixelt im digitalen Raum erscheint, als phantasmatisch und objektiv. Das Virtuelle, nicht mit dem Virtuellen von Deleuze zu verwechseln, generiert qua Simulation die phantasmatischen Phänomene als neue Realität und huldigt zugleich dem digitalen Code. Das Cogito des transzendentalen Subjekts wird durch das Cogitat der virtuellen Apparaturen ersetzt, schreibt Kurt Röttgers.

Die imaginäre Illusion wird also durch eine virtuelle Realität ersetzt; es entsteht eine Scheinhaftigkeit, die durch zeichen- und bildgebende und je schon codierte Verfahren installiert wird. Wenn Computersimulationen Erkenntnisse erlauben, die in der wirklichen Realität nicht zu machen sind, so werden nicht nur die virtuelle Realität und die wirkliche Realität im Zuge der technischen Machbarkeit eines Übergangs von einer Realität zur anderen zunehmend ununterscheidbar, sondern es wird auch die Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit gekappt. Was in der virtuellen Realität möglich ist, setzt sich auch wirklich um, wobei es die simulativen Maschinen sind, die sich zunehmend selbsttätig regulieren und den Menschen tendenziell überflüssig machen. Während die simulative Scheingebung andauernd mehr Sichtbarkeit und Transparenz als Reflektion und nicht nur als Reflexion (Bilder, Statistiken und Zeichen) erzeugt, bleibt der Code des Binären unsichtbar und klebt am Geheimnis, das der Simulation eigentlich fremd bleibt.

Der Unterschied zwischen Simulation und Realität scheint nun aufgehoben, insofern die Simulation sich als Realität realisiert und die Realität als Simulation realisiert wird. Das System ist in seine »fatale« Phase eingetreten, die Baudrillard auch eine »Integrale Realität« nennt. Baudrillards Simulationshypothese besagt auch, dass die metaphysische Aussage über eine Grenze, die die Realität durch alle Vermittlungen hindurch vom Schein trennt, durch die Simulation gekappt wird. Die perverse Figur der Unentscheidbarkeit von Realität und Simulation schließt die Dialektik der klassischen Metaphysik von Realität/Wesen und Schein kurz.

Die unentscheidbare Fluxion der durch den Code gesteuerten Bilder und Zeichen, die Baudrillard in beschleunigter Beschleunigung und in reiner und zugleich differenzieller Selbstreferenz zirkulieren sieht, verweist auf den anti-mimetischen Charakter des Simulationsbegriffs, der die Simulation auch als »göttliche Referenzlosigkeit der Bilder« (Baudrillard 1978: 16) kennzeichnet. Die Bilder und Zeichen, die hier immer solche des Codes sind, sind jetzt ihre eigenen Vor-Bilder, die der Realität in Form einer »Präzession der Simulakra« vorausgehen. Das heißt zum einen, dass sie wichtiger als die materielle Realität werden, zum andern, dass sie Teil einer medial vermittelten Realität sind, wobei die Verbindung zwischen diesen beiden Realitäten zu klären wäre. Sowohl das logische als auch das zeitliche Verhältnis von Bild/Zeichen und Realität hat sich nun umgekehrt.[1]

Die Simulation imitiert die Realität nicht, vielmehr geht es in den hyperrealen Räumen um die Simulation der Realität vermittels der Erzeugung und der Vervielfachung ihres Anscheins, ja aber nicht nur ihres Anscheins, wie etwa Žižek annimmt, sondern mehr noch um die Generierung von Zeichen, Codes, Formen und Modellen, die den Anschein materialisieren. Die Simulation desillusioniert und denaturalisiert die Realität gerade mittels von artifiziellen Prozessen, die für ihre eigene Hyper-Realität verantwortlich sind. Sowohl die simulierte Hyperrealität als auch zunehmend die wirkliche Realität sind jetzt Effekte, reine Spielweisen und Kalkulationen des Codes, der nun auch das Reale/Realität ist, zumindest das Reale, das die Simulation selbst erzeugt (nicht das Reale als Grenze des Systems). Hinter den durch den Bildschirm wahrgenommenen Bildern, den simulierten Effekten der Realität, spielt eine subjektlose Kalkulation in Serien von Nullen und Einsen, die des Codes, den Žižek mit Verweis auf Lacan das Reale nennt. Für Baudrillard ist diese operative Kalkulation des Codes aber nur ein Aspekt des simulierten Realen (hinzukommen die durch den Code erzeugten Zeichen und Bilder), während sie das Reale als Grenze des Systems nicht betrifft. Die Simulation versucht das Reale zu »realisieren«, das, was in ihm nur implizit vorhanden ist, herauszuholen und explizit zu machen. Die Simulation ist in diesem Sinne gerade nicht eine Form der Illusion, sondern geradezu ein Gegenentwurf zur Illusion, eine Art und Weise, sich der für Baudrillard grundlegenden Illusion der Welt zu entledigen.

Rex Butler hat eingewandt, dass das Reale bei Baudrillard auszudifferenzieren sei, was m.E. letztendlich auch dazu führen muss, zwischen dem Realem und Realität zu unterscheiden. Es gibt zum einen bei Baudrillard ein Reales (unterschieden vom Realen, genauer der Realität als ein Effekt des Hyperrealen), das die Grenze für alle Systeme darstellt, ein Reales, das kein System jemals vollständig erfassen oder erklären könnte (ein Aspekt, der von den Kritikern und den Kommentatoren Baudrillards kaum wahrgenommen wird). Es gibt eine Art innere Grenze, sodass selbst, wenn sich das System endlos ausdehnt, es nie ganz geschlossen ist, denn etwas bleibt immer außen vor. Und diese innere Grenze, diese Differenz, nennt Baudrillard das (primäre) Reale. Darin liegt eine gewisse Ähnlichkeit zu Laruelles Realem, das auf ewig abgeschlossen und selbst für das System uneinnehmbar bleibt.

Es gibt zum anderen aber auch das (sekundäre) Reale, das durch das System der Hyperrealität selbst hervorgebracht wird (das man nicht als real, sondern besser als Realität bezeichnen sollte). Es ist das, was die Simulation als Realität ständig ausspuckt und generiert. Dabei wird die Realität durch die unaufhörliche Operativität des Technischen und des Virtuellen zugänglich gemacht. Die Simulation arbeitet unaufhörlich an der Vollendung der Hyper-Realität und an der Auflösung des (primären) Realen, das lediglich als eine verwaschene Spür übrigbleiben soll, als ein referenzieller Leichnam, obgleich es als Ideologie in allen nur denkbaren Formen, Reserve-Fetischen und Mythen schillert, gerade um den Einbruch des wirklichen Realen zu vermeiden. 

Durch die unbegrenzte Produktion von Bildern wird die Welt letztlich zum Bild. Von der Welt bleibt nichts übrig. Die Definition des Realen in der Ära der Simulakren dritter Ordnung besagt, dass eine gleichwertige simulative (Re)Produktion das System dominiert. Es gibt nun eine halluzinatorische Ähnlichkeit des Realen mit sich selbst. Wie kann man dann aber von dem Realen als Grenze sprechen, wenn scheinbar alles Simulation ist? Zumindest ist klar, dass heute Modelle nicht nur Hilfsmittel für die Annäherung an das Reale sind, vielmehr wirken sie auf das Reale ein, ja sie verändern das Reale und werden selbst zu einem wichtigen Teil der Realität.

Butler behauptet also, dass Baudrillard »das Reale« in zweierlei Hinsicht verwendet: zum einen ist es die (simulierte) Realität, die von theoretischen oder sozio-ökonomisch-kulturellen Systemen ständig hervorgebracht wird, und zum anderen steht es für dasjenige Reale, das als Grenze für solche Systeme fungiert (das, was letztendlich außerhalb des Systems liegt, aber ständig Gefahr läuft, von der Simulation verschlungen zu werden). (Butler 1999: 17) Das Reale wird damit zu einer besonderen Herausforderung für die Theorie. Baudrillard versucht mit dem (primären) Realen zu denken, was der Simulation entzogen bleibt oder ihr entflieht und was nicht einfach nur verschwindet oder aufgelöst wird. Gerade wenn wie heute das Reale aus der Simulation ausgestoßen ist, sozusagen exiliert ist, kann es zu einem extremen Phänomen werden, das ständig entgleist und nur noch als Illusion erfasst werden kann. (Baudrillard 1992: 151) Baudrillard versucht quasi das »Ding an sich« zu denken, das Objekt vor dem Zeichen, aber natürlich kann er nur durch das Zeichen sagen, was es ist. Es geht um dieses Ding, das ausgeschlossen ist, womit aber  ermöglicht wird, dass die Zeichen sich gegeneinander austauschen können. Und dieses Ding ist eben das Reale, das eine Art von Transzendenz sichert, die man bei Baudrillard nicht vermutet. Das Ding, das zugleich singulär und universell ist, ist quasi vor dem Zeichen, das, was durch jedes von ihnen ausgeschlossen bleibt, und ist doch zugleich ein Effekt desselben. Wir setzen für das zweite Reale, das ein Effekt der Zeichen ist, wie gesagt den Begriff der Realität. Durch eine seltsame Umkehrung ist diese »Realität« von einer unabhängigen Variable zu einer abhängigen Variable geworden. Sie ist abhängig geworden von den Informationen, die sie hervorbringen und die es den Akteuren ermöglichen, auf ihre Ergebnisse und Ereignisse zu setzen. Die Information selbst ist nun die unabhängige Tatsache und hat den Status, den zuvor eine primäre »Realität« innehatte. Sie, die Information, ist jetzt die notwendige Voraussetzung, Grund und Medium für jede Wette auf die Zukunft.

Literatur:

Baudrillard, Jean (1976): Der symbolische Tausch und der Tod. München.

  • (1978): Agonie des Realen. Berlin.
  • (1992): Das perfekte Verbrechen. München.

Beller, Jonathan (2021): The World Computer. Derivative Conditions of Racial Capitalism. Durham.

Butler, Rex (1999): Jean Baudrillard. The Defense of the Real. London.

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[1] Jonathan Beller schreibt die allgemeine Formel für das Kapital um: G-I-C-I’-G’. G steht für Geld, C für Code und I für Bild/Information. Der Code ist hier keine stabile Einheit, sondern ein diskretes Moment in den Abläufen eines Computers – wir könnten sagen, aller vernetzten Computer und des Weltcomputers. Ersetzen wir Marx’ Ware »W« durch I-C-I′, so registrieren wir die Sublimierung der Warenform durch die Matrix der Information. In der Formel G-I-C-I′-G′ steht die erweiterte Schreibweise I-C-I′ für die integrierte, produktive Tätigkeit, die früher mit »W« bezeichnet wurde. Der Bildcode der Netzwerkware ersetzt das, was früher als Ware verstanden wurde. (Beller 2021)

Foto: Sylvia John

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