Lifestylekapitallegastheniker – Die ökonomisch letzte Ölung – Das Lebenskapital.

Baudrillard spricht von einem Leben als Akkumulationsprozess, der insbesondere im Zuge der Ökonomisierung der Wissenschaften und der biomedizinischen Techniken  einer zunehmend quantitativen Bewertung unterliegt, womit der Übergang vom Leben zum Lebenskapital tatsächlich gelungen ist. Jeder trägt nun, wie Baudrillard in Der symbolische Tausch und der Tod schreibt, sein kleines Lebensschema, seine Lebenserwartung und sogar einen Lebensvertrag in der Tasche, und besitzt damit anscheinend einen sozialen Anspruch auf eine bestimmte Lebensqualität. Dabei ist die Gabe des Lebens als ein Akkumulationsprozess in erster Linie als die Gabe der Arbeit zu verstehen, die im Kapitalismus nun regelrecht zur gekrönten Lebensweise mutiert. Dem fügt das Kapital den imaginären Wahn als Supplement hinzu, nämlich sich im Leben ganz mit seinen individuellen Interessen identifizieren zu können, um sich damit, wie Baudrillard sagt, zum kapitalistischen Buchhalter seines eigenen Lebens zu machen. Die imaginäre Macht schreibt sich aber nicht nur als eine Form des Überlebenswillens in die Subjekte ein, wie Baudrillard annimmt, sondern sie realisiert sich als das ökonomisierte Hyper-Realitätsprinzip, dessen gelungenste Anwendung darin besteht, die im günstigsten Fall finanzialisierte Arbeit in das Design des Lebens zu integrieren, das wiederum durch die Arbeit, die nun auf Teufel komm raus auch noch sozial und kreativ zu sein hat, ausbuchstabiert wird. Der im Gegenzug zur Arbeit erhaltene Lohn oder die erzielte Rendite müssen natürlich wieder ausgegeben werden, was im Konsum nur eine andere Form der Arbeit freisetzt. Wenn nicht nur die Arbeit, sondern auch die Freizeit zu einer Investition gerinnt, die ohne eine permanente Mobilisierung nicht zu denken ist, dann lässt sich in der Tat von einem Lebenskapital sprechen, einer akkumulierenden Generalmobilmachung, die aber vom Überleben nicht zu trennen ist, und dessen endgültiger Zweck darin besteht, den Tod so lange wie möglich aufzuschieben.

Der Preis für die Akkumulation des Lebens als positiver Wert findet sein Korrelat in der Tötung des Todes als eine End-Lösung für das Leben – etwas, was letztendlich das rätselhafte Nichts des Todes auslöschen muss. Die Trennung von Leben und Tod zeigt für Baudrillard das Leben in Begriffen des Überlebens an, mit Bedürfnissen, die befriedigt werden müssen, um das Leben aufrechtzuerhalten, das wiederum zugleich in den operativen Begriffen des Kalküls und der Kapitalisierung gelesen werden muss. Harney/Moten sprechen von einem sich selbst verbessernden und gleichzeitig selbst akkumulierenden Individuum, das sein Eigentum in der Form der Eigenschaften des Selbst zum Einsatz bringt und ständig verbessert, während sie zugleich als absolut gesetzt werden.[1] (Harney/Moten 2022: 55) Und dafür werden wiederum Formen und Institutionen der Vorbeugung gegen den Tod benötigt, ein umfangreiches Arsenal von Sicherheitsvorkehrungen, die von der Lebensversicherung über die Sozialversicherung bis zur Medizin reichen, um den Menschen, wie es die Corona Pandemie zwingend gezeigt hat, zu einem Beefsteak in der Plastikfolie des Homeoffice zu machen, und zugleich zu einem Arbeitsmannequin, das nur in der kreativen Arbeit oder in der Benutzung von Produkten im Konsum temporär entweichen kann, um schließlich wieder fixiert zu werden, am häufigsten heute vor dem Home-Bildschirm, vor dem der Arbeitende dann zudem noch gnadenlos zum User degradiert wird. Wir fühlen uns sicher, weil wir bereits tot sind. Für Baudrillard ist dies das Geheimnis der Sicherheit, wie eben ein Steak unter Zellophan: dich mit einem Sarkophag zu umgeben, um zu verhindern, dass du stirbst. Wir sehen einen lebenden Leichnam, der in die technologisierte Panik des Lebens verstrickt ist, und diese als finanzialisierten Erfolg genießen will, wodurch die frühere Endgültigkeit des Todes verwässert werden soll, infiltriert von dieser nur allzu offenkundigen Angst vor dem Tod, die den Körper als endgültige Ablehnung seines eigenen notwendigen Untergangs intakt hält. Nach dem lebenden Menschen, der dem Untoten um verwechseln ähnelt, ist der tote Körper gar nichts mehr. Die Verwerfung des Todes läuft auf den Tod des Todes hinaus. Dies versetzt uns in den Kadaver des Todes, der gehäutet und zu einem Möbiusband verdreht wird. (Shipley 2021: 11) Wir kodifizieren damit den Tod und töten ihn dann.

Baudrillard widmet sich in vielen seiner Schriften eindringlich der medizinischen und technologischen Verarbeitung des Todes, der Kapitalisierung des Todes, den Leichen als ausgestopften Simulakren sowie der Virtualität und der Verdrängung des Todes, die als Tranquilizer des Sozialen zu verstehen ist, sodass die radikale Andersartigkeit des Todes eliminiert werden kann.

Der im Zeitalter des Posthumanismus lebende letzte Mensch, ein weit über Nietzsches Begriffsperson des letzten Menschen hinausreichendes Monster, das in seiner Unersättlichkeit nicht nur alles haben, sondern es auch sofort haben will, lebt vollkommen angekommen in der dehnbaren Kaugummiechtzeit der Gegenwart und deswegen können ihn zukünftige Einkommen, auf die er heute spekulieren muss, auch nur halbwegs für das dadurch entgangene Mehr-Genießen entschädigen, fällt dieses doch scheinbar mit seiner Existenz zusammen. Der letzte Mensch muss aber im Zuge der Diskontierung, mit der seine zukünftig erwarteten Einkommen durch Abzinsung auf seinen heutigen Existenz-Wert herunter gerechnet werden, weiterhin auf die Zukunft spekulieren. Damit verliert der zukünftig zu realisierende Wert des Lebens, oder, um es anders zu bezeichnen, der zukünftige Performancelebenszeitwert keineswegs an Bedeutung, aber das Leben bleibt gleichzeitig an den Gegenwartswert und an das aktuelle Genießen gebunden. Es ist wirklich nur noch eine Frage der Zeit, und es kommt zur Schätzung der auf die Zukunft bezogenen Einkommensströme eines Säuglings und daraufhin wird man die erwarteten Einkommensströme diskontieren und damit exakt den Ausgangspreis des Säuglings erhalten. Es ist deshalb überhaupt kein Zufall, wenn der französische Unternehmensverband vorschlägt, jedem Franzosen von Geburt an eine Umsatzsteuernummer zuzuteilen.

Der letzte Mensch ist als lebende Finanzanlage eine Relation, die einen materiellen Träger bzw. einen Basiswert besitzt, der in einer zeitlichen Beziehung zum spekulativen Wert steht, nämlich zu einem auf die Zukunft ausgerichteten Performancelebenszeitwert, der sui generis auf monetäre Vermehrung und das entsprechende Mehr-Genießen drängt – die lebende Finanzanlage ist eine Surplus-Falte, der nichts anderes übrig bleibt, als sich hinsichtlich seines Performance- und Monetarisierungspotenzials zu entfalten. Dabei folgt das so gestaltete »Humankapital« – als ein Modus der Subjektivierung – weniger der utilitaristischen Logik des Warentauschs als einem Prozess der »Asset Appreciation«, wobei hier die Person selbst als das universelle Asset funktioniert. In Zukunft wird jedes Bedürfnis, jedes Begehren und insbesondere jedes Verhalten Anlass zu institutionalisierten, punktuellen und punktierten Quantifizierungen und Bewertungen, zu vielfältigen Evaluationen und Ratings geben – der letzte Mensch wird sich zu diesen Bewertungen in Beziehung setzen und sie in seiner Zukunft verbessern müssen, und schließlich wird er dazu aufgeteilt in Komponenten, die der Optimierung bzw. der Effizienz der Vermehrung des kleinen Ich-Kapitals x dienen. Das dermaßen monetarisierte Leben, das ohne Wenn und Aber einen Performancelebenszeitwert zugesprochen bekommt, ist also ein Spread, der ständig von der Person und von den Institutionen der Ökonomie und des Staates beobachtet wird.

Damit bezieht sich der Performancelebenszeitwert also auf einen Basiswert, dem gegenwärtig ausgepreisten Leben, das als eine Investition anzusehen ist, das heißt auf das ein Anlagevertrag im Hinblick auf die monetäre Effizienz des zukünftigen Lebens zu schreiben ist, und auf dessen Fluktuationen eifrig und enthusiastisch spekuliert werden soll, um die Spekulation denn auch zu erfüllen. Und für jeden gilt es diese Spekulationswellen und -welten unbedingt auszuhalten, mehr noch, man hat der Spekulation und ihren Vorgaben nicht nur zu folgen, man hat sie am besten auch outzuperformen.

Die Lohnarbeit besitzt heute bekanntermaßen nur dann noch Glamour, wenn sie unter der Vorherrschaft der Kreativität steht, deren kaum noch zu erkennender Gebrauchswert immer stärker durch den Tauschwert der Potenziale und Kapazitäten des Kreativen, die permanent aktualisiert werden wollen, stimuliert wird. Im Zuge der Spekulation mutiert analog zur Kapitalisierung des finanziellen Kapitals selbst noch die Subjektivität zu einer sich selbst verwertenden Finanzanlage, was dem possessiven Individualismus regelrecht Flügel verleiht. Die spekulative Form des Kapitals ist das neue Movens sowohl der Grenzenlosigkeit des Kapitals als auch der Kreativität bzw. der Subjektivität des letzten Menschen.

Neben dem Performancelebenswert ist heute dem Kundenlebenszeitwert, der im Englischen als »Customer lifetime value« (CLV) bezeichnet wird, Beachtung zu schenken. Um ihn zu ermitteln, lassen diejenigen Unternehmen, die an den klassischen Konsumgütermärkten tätig sind, anhand der persönlichen Daten ihrer Kunden berechnen, welche Geldsummen diese über ihr gesamtes Konsumentenleben hinweg an das Unternehmen noch zahlen werden. Ein hoher CLV garantiert dann für den Kunden eine Reihe von Zusatzleistungen des Unternehmens, etwa Rabatte, Hochstufungen, persönliche Hotline-Ansprechpartner und andere Sonderleistungen, während ein Kunde mit niedrigem CLV ein nichtsdestotrotz aufreibendes Konsumentenleben in der Telefonwarteschleife führen muss.

Alle möglichen Unternehmen (Modeunternehmen, Mobilfunkanbieter, Kreditkartenfirmen, Hotelketten, Fluggesellschaften, Autohändler etc.) führen heute umfassende Datenbanken über das Konsumverhalten jedes einzelnen Kunden, wobei sie die persönlichen Daten oft genug an spezielle Analyseunternehmen weitergeben, damit diese die Daten auswerten, gewichten und daraus individuelle Kundenlebenszeitwerte berechnen. Es handelt sich dabei um Profile, die auf Tausenden von Einzelinformationen beruhen. Der Marketingdienstleister Zeta Global etwa, das jüngste Start-up-Unternehmen des früheren Apple- und Pepsi-Chefs John Sculley, verkauft Profile, die pro Person auf mehr als 2.500 Einzelinformationen beruhen, von 700 Millionen Menschen. Insbesondere finanzkräftige Kunden werden aufgrund ihrer außerordentlich guten Profile mit zielgerichteten Angeboten zu weiterem Konsum gelockt, und manche Analysten gehen sogar so weit zu behaupten, dass die Addition der Kundenlebenszeitwerte aller Kunden eines Unternehmens dessen wahre Zukunftsaussichten am besten dokumentiere, womit der Kundenlebenszeitwert eine ähnliche Bedeutung wie der Aktienkurs des Unternehmens besäße. Dabei ist davon auszugehen, dass heute die meistens Einwohner in den USA, die zumindest ein Bankkonto und einen Handyvertrag besitzen, mehrere verschiedene CLVs ihr Eigen nennen dürfen, ohne dies allerdings genau zu wissen. Und je mehr man reist, shoppt und ausgeht, das heißt die Treppenleiter des Allround-Konsumenten nach oben besteigt, desto mehr wie von unsichtbarer Hand zugewiesener CLVs besitzt man, die man größten Teils selbst ja nicht kennt, allenfalls bemerkt man, dass mit steigendem CLV die Unternehmen fieberhaft versuchen, einem eine Reihe von Vergünstigungen anzubieten, etwa eine attraktivere Kreditkarte, teure Ersatzwagen oder eine bessere Klasse in Flugzeugen.

Unter »Überkapital« wäre nun eine Kapitalform zu verstehen, die auf der Grundlage von Scoring-, Gradierungs- und Rankingmethoden entsteht und die Individuen algorithmisch zugewiesen wird. Wir können uns das Überkapital so vorstellen, dass es aus sämtlichen über eine Person verfügbaren digitalen Informationen besteht und die Gesamtheit ihrer Beziehungen umfasst, die durch digitale Spuren ermittelt und durch Scoring- und Ranking-Methoden geordnet und nachverfolgbar gemacht werden. Jenen, die es fleißig ansammeln, erwachsen daraus Vorteile, wie bessere Preise, bessere Dienstleistungen, mehr Beachtung und eine höhere Stellung auf den Märkten. Zunehmend sieht der Markt Personen von innen, misst ihre Körperwerte und Gefühlszustände und beobachtet, wie sie sich in ihrem Zuhause, im Büro oder im Einkaufszentrum bewegen. Das treibt Firmen weg von einer (selbst höchst zielgruppengenauen) Werbung hin zu einem Modell, das Menschen dynamisch klassifiziert und in dem deren bestehende Klassifikationssituation weitere diverse Anwendungen in der Zukunft ermöglicht.

Zurück zum Performancelebenszeitwert. Um das Leben mit Hilfe einer singulären Performance erfolgreich zu monetarisieren, müssen die eigenen Aktivitäten permanent gehebelt werden, und das heißt auch, dass die Verbindungen zu anderen Personen so gestaltet werden, dass man im Verkehr mit diesen immer mehr zurückbekommt als man als Investition ihnen gegenüber einsetzt. Dies ist eine Art und Weise des Mehr-Genießens, das auf einem gewinnbringendem Konkurrenzverhalten beruht.

Diese Art das Kapitalkalkül auf das eigene Leben (und das der Anderen) anzuwenden, erfordert eine zielstrebige und erfolgsorientierte Performance unter anderem in den sozialen Netzwerken und bietet dann einen Surplus vor allem denjenigen an, die es schaffen, Reputationen, Performancewerte und Referenzen, die irgendwie im Zusammenhang mit der Selbststeigerung stehen, zu akkumulieren, wobei immer darauf zu achten ist, dass man die Ungewissheit gegenüber Anschlussentscheidungen, die den Surplus betreffen, reduziert. So wird das Leverage zu einer Art und Weise, den Projektionen des Egos eine sich selbst erfüllende, performative Qualität angedeihen zu lassen. Es ist dabei keineswegs auszuschließen, dass die Kapazität, die eigenen Risiken erfolgreich zu meistern, zur Gefahr für andere wird. Mehr noch, der Imperativ die Superperformance für das eigene Leben hinzulegen, erfordert die Denunziation der unterdurchschnittlich performenden Personen und bestenfalls ihre Ersetzung durch einen eineiigen Zwilling der Superperformance. Betrifft diese Form der Risikoverarbeitung insbesondere die Eliten und größere Teile der akademischen Mittelklasse, so insistiert das Leben für die einkommensschwache Bevölkerung weiterhin als ein Prozess permanenter Verschuldung, der letzten Endes die Zukunft nicht einmal schließt, sondern in spezifischer Weise sogar öffnet, weil die Kreditgeber die Einkommen der Kreditnehmer, die als Grundlage für die Kreditierung dienen, nicht mehr nur hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit Kredite zurückzahlen zu können, berücksichtigen, sondern hinsichtlich der Möglichkeit und des Potenzials in Zukunft Zahlungen überhaupt bedienen zu können. So wird selbst noch das Leben der verschuldeten Proletarier auf die Erschaffung eines monetären Surplus für das finanzielle Kapital hin ausgerichtet.

Dabei setzt sich der »Wert« des letzten Menschen nicht einfach als ein Konglomerat aus Merkmalen wie Kompetenz, Performance, Qualifikation, Gesundheit, Effizienz, Wissen, Beziehungsosmose, Kreativität, Wünsche, Arbeitsfähigkeit etc. zusammen, sondern all diese Merkmale sind vom letzten Menschen ständig effektiv auf ihre Kapitalisierung in der Zukunft hin zu behandeln, ohne dass der Wunsch, alles sofort zu genießen, auch nur im Ansatz verschwindet. Dies alles ist nur mittels der Implementierung einer gewissen Rationalität der Performance zu leisten, die allerdings von der Irrationalität nicht mehr zu unterscheiden ist. Rationalität verweist hier nicht nur auf die Motivlagen und Präferenzen des Subjekts, sondern auf die Durchsetzbarkeit von Zahlungsversprechen, auf das Potenzial zum Gläubiger zu werden, was zu möglichst gewinnbringenden Handlungen zwingt, die aber mit irrationalen Individuen ebenso kompatibel wie mit hochbegabten Börsenhändlern sind, die selbst oft genug eher mit »noise« denn mit »information« handeln. Solch eine Rationalität, die sich aus der Kapitalisierung von Allem und Jedem ergibt, gleicht dem Marktverhalten von Süchtigen, deren Überleben jedoch an die Verfügbarkeit bestimmter Ressourcen gebunden bleibt.

Es schlägt jetzt definitiv die Stunde eines neuen Sozialcharakters, nämlich die des funktionellen Psychopathen, der unermüdlich an sich arbeitet, besser wäre es zu sagen, er performt unermüdlich im Medium einer quasi-sportlichen Praxis die Steigerung seines psychomonetären Kapitals, das als die bevorzugte Ressource seines Authentizitätsexzesses gilt, der zur beständig monetarisierten Sorge um sich selbst führt, oder, wenn man es anders sagen will, zu einer glücklichen Vernähung einer entropischen Hochenergiestreuung mit sich selbst. Wird in diesem Rahmen der Kampf um die eigene Karriere immer sportlicher ausgestaltet, so ist der Burnout die Grenze für das Steigerungsverhalten. So ist der funktionelle Psychopath einer, dem das System angegossen wie ein Hugo-Boss Anzug passt, und wenn er dann mal ausflippt, dann nur, um die Immanenz des Systems selbst auf die Spitze zu treiben, oder, um es noch einmal anders auszudrücken: Er ist einer, der gegenüber dem System grundsätzlich affirmativ ist, aber es auch gerne mal auszutricksen versucht, indem er unwahrscheinlich kreativ und brutal egoman zugleich seine Exzentrität auslebt, aber letztendlich doch so leise bleibt, dass die letztendlich eigenartig zahme Übertretung der Regeln zwar dem anderen, aber auf keinen Fall dem System schadet. Der funktionelle Psychopath ist nämlich ein ›kastrierter‹ Psychopath.

Er darf allerdings nicht mit dem klinischen Bild des Psychopathen verwechselt werden, obgleich gerade die Repräsentanten der herrschenden Klasse (Manager, Anwälte, Broker, Politiker, Ärzte etc.) diesem Bild doch inzwischen manchmal gefährlich nahekommen. So ist der Beobachtung des Psychologen Götz Eisenberg durchaus zuzustimmen, dass heute die meisten Psychopathen keineswegs in den Psychiatrien einsitzen, sondern frei auf der Straße herumlaufen und zu allem (Un)Glück die von ihnen selbst gefeierte Erfolge in ihren jeweiligen Berufen nachweisen können. Funktionelle Psychopathen operieren in ihrem Alltag und in ihrem Job meistens hyper-effizient und besitzen Eigenschaften wie unbedingte Fokussiertheit und eine übersteigerte Egozentrik, zudem den unaufhörlichen Hang zur Optimierung der eigenen Selfishness, die von einer subtilen Profilierungsartistik bis hin zur mörderischen Skrupellosigkeit reicht, sie mobilisieren die Anteilnahme anderer als ihr ureigenes Privileg, das rein der eigenen Gewinnoptimierung und dem endlosen Streben nach Singularität dient, welche wiederum aus den Angeboten der Marketingindustrie für die Bezieher höherer Einkommen zusammengeschustert ist; sie leben die Unaufrichtigkeit, die Korruption und das herrische Auftreten bis in die Haarspitzen hinein, bleiben dabei aber eine vielseitige und experimentierfreudige Persönlichkeit, und dies alles geschieht angeblich im Rausch völliger Spontaneität.

Der funktionelle Psychopath muss im Fluss des affirmativen at-risk-Seins Erfolgsereignisse am laufenden Band akkumulieren, während diejenigen, die beim Spiel um das at-risk-Sein verlieren, lediglich Enttäuschungen akkumulieren und deshalb in der Depression verenden oder im Kurzschluss gar den Amoklauf probieren. Andererseits könnte man auch das Leben des funktionellen Psychopathen als einen auf Dauer gestellten Amoklauf verstehen, der aber keines blutigen Szenarios bedarf, um seine katastrophalen Auswirkungen auf das Leben der Anderen zu beweisen. Würde man Adorno folgen, so wäre der funktionelle Psychopath ein Egokrat, der die Unverschämtheit auf Dauer mit Erfolg performt. Das so auf Erfolg gestellte und das so authentifizierte Leben fingiert sich selbst als Dressurmittel der autistischen Soziopathie und ist ganz der Funktion der Effizienz des »Ich selbst« unterstellt, eines Ich, das aber von der reellen Subsumtion unter das Kapital im doppelten Sinne betroffen (affiziert und unterworfen) bleibt, und so subsumiert, ist das Leben eine einzige Bewegung nach vorne und zugleich eine ozeanische Katastrophe, die bis zur Verschmelzung des Ichs mit der Funktionalisierung des Hirns für die Zwecke des Kapitals reicht.

Denn auf Gedeih und Verderb muss der funktionelle Psychopath den differenziellen Erfolg, der permanent an verschiedenen Märkten evaluiert, bewertet und honoriert wird, erringen, um noch besser bewertet zu werden und im Ranking aufzusteigen, und dazu reicht eben kein individueller Singularisierungsakt mehr aus, denn meistens bedarf es dazu des intensiven Networkings (mit dem der Erfolg und die Reputation andauernd geprüft und getestet wird), sodass der Authenzitätsperformanzkrüppel »unter Aufsicht« zu dem funktionellen Psychopathen heranreifen kann, welcher von Ökonomie der Kapitalisierung genau erwartet wird. Der Psychopath, den wir meinen, ist eben ein funktioneller Psychopath, der im Unternehmen an das Team und an algorithmische Maschinen angeschlossen bleibt, deren Aufgabe es ist, die erwünschten und zu optimierenden Verhaltensmodifikationen zu prozessieren und diese gewinnbringend für das Kapital einzusetzen, das Verhalten also ganz ökonomischen Zielen unterzuordnen, wobei keineswegs Verhaltensnormen wie Konformität und Angepasstheit angestrebt werden, sondern ein glatter Zynismus und Opportunismus.

So gesehen kopuliert der funktionelle Psychopath energisch und endlos gern mit seinen Wünschen, um schließlich zur lebenden Konsumtionsmaschine zu gerinnen, die die Usurpation des Freizeit-Arbeitsmenschen durch den Kapitalapparat vervollständigt. Durch mein Talent zur Cleverness, durch mein Yoga, durch mein Faible für französischen Wein und durch das ausgezeichnete singuläre Thai-Food, durch mein Gender-Verhalten und das meiner Freunde, durch meine Erfolgskarriere bei der Deutschen Bank gewinne ich an Eigenkomplexität und werde besonders, wobei aber das Besondere gerade ein Produkt des Allgemeinen ist, sodass die Besonderen fast schon zu riechen sind, tauchen mehr als zwei von ihnen in ihren Szene-Restaurants oder Bars auf, in denen sie letzten Endes nicht das Angebot kuratieren, sondern durch das Angebot kuratiert und gesteuert werden, im Konsum noch kreativ gemacht werden, indem sich ein Modul ins andere fügt, das Food, der Drink, die Designerfrauen, das Ambiente und das Selbst. Der funktionelle Psychopath erscheint als der Bandenführer seiner selbst, der vom Unbewussten den Befehl erhält, zu siegen, koste es, was es wolle, und aus dessen Gesicht Anerkennung leuchtet, wenn er für die Vielen spricht, die er selbst ist. Je mehr das Subjekt sein Leben so auf sich selbst eingerichtet hat, um so vollkommener repräsentiert es die systemische Logik. Es gibt nun eine Konjunktion von Wunsch und System, und dessen Metamorphosen sind mit höchstem Genuss verbunden.

Damit bestätigt der funktionelle Psychopath ungewollt die unbestreitbare Wahrheit, dass die ökonomische Kapitalisierung heute längst jede Form der kulturellen Wertschätzung überholt hat, sodass noch mit der außergewöhnlichsten und skandalträchtigsten kulturellen Wert-Geste ein Mangel an Kapitalisierung nicht eingeholt werden kann. Die harte Schule der Kapitalisierung setzt dem funktionellen Psychopathen unaufhörlich den Imperativ, auf keinen Fall ökonomisch-performativ zu verarmen.

Der funktionelle Psychopath gleitet ununterbrochen, unruhig am Smartphone klebend, in die absolute Subjektivität hinein und mobilisiert damit gerade seine letzte Verfallenheit an die Motorik der digitalen Technologien. Intelligente Maschinen fabrizieren für ihn kurzfristig möglichst positive Vorhersageprodukte, die exakt berechnen, was er in Kürze zu tun hat. Zwingend ist der Griff nach dem Smartphone, das seine Unruhe auf die Aufmerksamkeitsspannen des funktionellen Psychopathen überträgt. Dessen Wahn gleicht einer Fernsprechanlage mit dreizehn Smartphones. Wer da nicht mitkommen mag oder kann, der wird erst gründlich blamiert und dann psychisch hingerichtet. Clever ist allerdings, wer im Sog seines Social-Media-Charmes andere dazu bringen kann, das zu tun, was man selbst will, wer schnelle Entscheidungen trifft und seine Bindungslosigkeit nutzt, um sich dann doch ganz mit dem Erfolg seines Unternehmens und seinen Teamkollegen zu verschweißen, wobei es zudem noch gelingen muss, diese Art der Enthemmung und Anbindung zugleich als besonders cool auf den Aufmerksamkeitsmärkten zu versteigern. In Zukunft wird man seinen Bewerbungsunterlagen einen Psychopathie-Check hinzufügen müssen, der natürlich positiv ausfallen soll, damit man dann ganz nach den Regeln eines maschinellen Casting-Verfahrens das Rennen im Bewerbungsgespräch machen kann, um den Ego-Porno, der gleich dem kleinen Kapital x ist, in Zukunft möglichst noch outzuperformen.


[1]Die endlose Verbesserung des Menschen, in der die Notwendigkeit als absolute Kontingenz erzwungen wird, ist im europäischen Denken auf das bösartige Erfassen seiner Objekte, einschließlich seiner selbst, fixiert. Die geschichtliche Entfaltung dieser Fixierung auf das Fix(ier)en, das mörderische Wechselspiel von Vereinnahmung und Verbesserung, ist in und als Gewalt der Selbstverbesserung in der Selbstakkumulation gegenüber all dem gegeben, was sich beim Rendezvous von Differenzierung, Unvollendung und Affizierung zeigt. Die sich ständig verändernde Aktivität dessen, was dem, was als das Selbst erscheint, als kontinuierliche Demontage der Idee des Selbst selbst und seiner ewig prospektiven Vervollkommnung-in-Verbesserung erscheint, kann aus der kurzsichtigen und unmöglichen Perspektive des Selbst nur mit einer widerlichen Kombination aus Regulierung und Akkumulation beantwortet werden. Die Rede vom Selbst ist paradox, weil es eine Person geben müsste, die das Selbst besitzt, und dies hieße ein Selbst hinter dem Selbst zu imaginieren. Das Selbst kann auch nicht in der Person sein, denn damit würde die Zeitrelation eines dynamischen Vorgangs so behandelt, als wäre sie ein Gegenstand oder ein statisches Objekt. Selbstmodellierung ist damit auf Selbstakkumulation verwiesen, die verschiedene Teile und Dimensionen dynamisch zu einer unmöglichen Einheit der Identifikation verbindet, die dann als »Ich« bezeichnet wird.

Foto: Stefan Paulus

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