Menschenjäger, Schreibtischtäter

Und jetzt lag er hier, gute zehn Jahre später und wusste um all die Zusammenhänge, sah den roten Faden, der sich durch sein Leben zog. Wusste alles und doch nichts. Dachte an alle, die da noch draußen in Illegalität unterwegs waren. Die untergetaucht waren, weil sie etwas grundsätzlich Anderes gesucht hatten oder einfach nur weil ihnen die Bullen dicht auf den Fersen waren. Es machte keinen Unterschied. Für sie alle gab es keinen Weg zurück mehr. Nicht in absehbarer Zeit.”

Die schönste Jugend ist gefangen, S. Lotzer 2019

Blendschockgranaten auf dem Wagenplatz, im Minutentakt überschlagen sich die Meldungen der Medien von der Menschenhatz in der Stadt, die ihre Seele schon vor langer Zeit an den Meistbietenden verkauft hat. Ein paar Worte der Liebe und Verbundenheit auf einer alten Sperrmüllmatraze eine Staatsaffäre. Das System wird jenen, die es gewagt hatten, aufzuzeigen, das der Kaiser wirklich nackt ist, wenn mensch es ernst meint mit dem “alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist”, genau dieses Bloßstellung niemals verzeihen.

Die Hybris der Allmacht angekratzt, man kann eine unendliche Anzahl an Buchseiten mit den Verirrungen, Irrtümern, den Unmenschlichkeiten, auch und gerade unter denen, die aufgebrochen waren in den bewaffneten Antagonismus, später in den Frontprozess, füllen, aber da bleibt diese klammheimliche oder sogar offene Freude über die Sprünge im Panzerglas.

Man kann so tun, als ob das alles nichts mit einem zu tun hatte und hat, sich die falsche Haut der Menschlichkeit anlegen wie einen unechten Nerz, der falsch glänzt und täuscht und nicht wärmt im ewigen Winter des Empire. Jeder Fehler, jede falsche Handlung resultierte doch aus einer gemeinsamen Geschichte, die Gründung der Stadtguerilla inmitten des Nachfolgestaates des NS war eine Tat von einer Handvoll Wagemutiger, resultieren taten ihre Handlungen aber aus den Diskussionen und Analysen von Zehntausenden in diesem Land, eingebettet in eine historische weltweite Konfrontation, in der der das erste Mal seit 1917 wieder die Hoffnung auf einen grundsätzlichen revolutionären Bruch aufschien.

Der vielleicht größte Fehler, den man dem bewaffneten Antagonismus in diesem Land vorhalten muss, ist, dass es nie eine kollektive Aufarbeitung der eigenen Geschichte gegeben hat. Es gab hunderte von Interviews, Stellungnahmen, es gibt ein Dutzend Büchern von ehemaligen Gefangenen, aber die Spaltung, die sich zuerst zwischen der Mehrheit der Gefangenen und den damaligen Illegalen im politischen Prozess ab 1992 auftat, hat bis heute eine kollektive Aufarbeitung der eigenen Geschichte ebenso verhindert wie eine Tatsache, die gleichfalls die Verbitterung des Staatsschutzapparates bei der Hatz auf Daniela Klette, Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg erklärt, dass nämlich der Apparat nicht wirklich weiß nach wem er ein Vierteljahrhundert nach der Selbstauflösung der RAF eigentlich fahnden soll.

Ein Großteil der Menschen, die die letzten Jahre des Bestehens der RAF in eben jener gekämpft haben, sind dem Apparat bis heute nicht bekannt. Trotz tausenden von gesicherten Spuren, DNA Sätzen, dem ganzen aufgepeppten Hochsicherheitspopanz fahnden die Zielfandungskommandos des BKA seit Jahrzehnten nach Phantomen. Deshalb wurden immer wieder ehemalige Gefangene, die teilweise 15, 20 Jahre abgesessen hatten, Jahre später wieder unter abenteuerlichen Konstruktionen vors Gericht gezerrt, deshalb die derzeitige Stimmungsmache nach der Festnahme von Daniela Klette und bei den laufenden Fahndungsmaßnahmen in Berlin.

Eine Linke, die es ernst meint mit ihrer Kritik an der Geschichte des bewaffneten Antagonismus in diesem Lande, müsste also ihre vordringlichste Aufgabe darin sehen, erstens die gegenwärtige Hatz und Eskalation durch die staatliche Seite zu denunzieren und zweitens ein Interesse daran haben, eine politische Situation zu schaffen, in der Menschen nicht für Taten verfolgt werden die über 30 Jahre her sind und die somit überhaupt in die Lage versetzt werden würden, die politische und menschliche Verantwortung für diesen geschichtlichen Abschnitt zu übernehmen. Dass es aber eine solche Situation nicht ohne ein grundsätzliches anderes gesellschaftliches Kräfteverhältnis geben wird, macht alleine die Situation der Menschen aus der damaligen autonomen Szene klar, die immer noch in Venezuela im Exil leben müssen, weil sie 1995 versucht (!) hatten den Neubau eines Abschiebegefängnisses in Berlin in die Luft zu sprengen. 

Die letzte erfolgreiche Aktion der RAF, die komplette Sprengung des Gefängnisneubaus in Weiterstadt, führte nicht zu der damals erhofften Öffnung und Neuausrichtung des Projekts RAF, die spätere Selbstauflösung war ebenso folgerichtig wie unvermeidlich, aber die Aktion skizziert die heutige geschichtliche Notwendigkeit. Das Thema Knast ebenso wie die geschichtliche Aufarbeitung und die Aktualität des grundsätzlichen politischen und sozialen Antagonismus wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Eine ganze neue Generation von antifaschistischen Militanten, die derzeit inhaftiert ist, bzw. nach denen derzeit international gefahndet wird, bestätigt diese dringliche Notwendigkeit ebenso wie die Festnahme von Daniela Klette und die laufenden Fahndungen nach Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg.

“In der moralischen Entrüstung schwingt auch immer Besorgnis mit, vielleicht etwas versäumt zu haben.“

Jean Genet

Sebastian Lotzer aus dem Nebel; Berlin, den 3. März 2024

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