Über Quarantänen, Oikonomia und das Clinamen

Einleitung

Im Folgenden finden sich zwei Texte. Der größte Teil des ersten, «Gegen Quarantäne» wurde Ende Januar geschrieben und Mitte Februar erstmals im New Inquiry publiziert. Der zweite, viel kürzere Text wurde Mitte März als Postskriptum zu Contract and Contagion: From Biopolitics to Oikonomia (2012) geschrieben.[1] 

Der erste Text befasst sich mit dem zunehmenden Rückgriff von Regierungen auf Quarantänemaßnahmen. Er thematisiert, dass Quarantänen in der Verlangsamung der Ausbreitung des Virus unwirksam sind, aber durchaus wirksam darin, ein rassifiziertes Verständnis von Gesundheit und Krankheit zu fördern, und darüber hinaus eines, das gleichzeitig mit privatisierter Gesundheitsversorgung und autoritärer Regierung einhergeht.

Der Schwerpunkt auf Grenzschließungen und Reiseverbote diente als Ablenkung von wirklich wirksamen Maßnahmen, wie weitangelegten Tests, Fallisolation, Erhöhung der Kapazität und Abdeckung der Gesundheitsversorgung, Information bezüglich Händewaschen, Distanzierung und dem Verwenden von Masken. Dass eine Reihe von Regierungen diese Maßnahmen nicht priorisierte, ist nichts anderes als rassistisch-bedingte Selbstgefälligkeit; so als ob Europäer*innen gegen das immun wären, was als «chinesisches Virus» wahrgenommen und beschrieben wurde.

Was ich zu der Zeit, als der erste Text geschrieben wurde, bei aller Differenzierung im Text nicht vorhergesehen habe, ist das Ausmaß, indem einige darauf bestehen, Fallisolation und Quarantäne durcheinander zu bringen. Fallisolation ist abhängig von weitangelegten Tests und Infrastrukturen der Sorge. Quarantänen behandeln Geographie als Stellvertreterin für die Identifikation von Infektionen. Die schrecklichen Umstände auf Kreuzfahrtschiffen (wie der Diamond Princess vor Yokohama) oder diejenigen von Menschen in Gefängnissen und Internierungslagern sollen als eindringliche Warnung davor dienen, die Isolation und Pflege bestätigter Fälle nicht mit Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung von Infektionen zu verwechseln.

Zu den Details in diesem Text: Inzwischen weiß man, dass die Anzahl der Patient*innen mit vorhergehenden Gesundheitsproblemen im Jinyintan-Spital in Wuhan auf etwa 90% angestiegen ist (gegenüber den unten genannten 50%). Zudem ist Gegenstand laufender Debatten, wie lange, bevor sich Symptome zeigen, eine mit dem Virus infizierte Person ansteckend ist.

Es ist wichtig, in der Unterscheidung zwischen Quarantäne und Fallisolation genau zu sein, nicht zuletzt, weil der Hauptgegensatz derzeit zwischen denen liegt, die Leben retten wollen, und denen, die einen Lebensstil verteidigen oder das Leben anderer für «die Wirtschaft» opfern wollen.

Das einzige, was im ersten Text gegenüber dem Original geändert wurde, ist die Übernahme einer aktuelleren Nomenklatur: Sars-CoV2 (das Virus) hat Covid-19 (der Name der Krankheiten, die mit dem Virus in Verbindung gebracht werden) ersetzt.

Der zweite Text – das Postskriptum – mag für diejenigen, die das Buch Contract and Contagion nicht gelesen haben, opak erscheinen, unterstreicht aber nichtsdestoweniger das Ausmaß, in dem viele Regierungen zunehmend versuchen, die Risiken von Krankheiten und die Lasten der Gesundheitsversorgung auf private Haushalte zu verschieben – das heißt: eine Beschleunigung der endogenen Umkehr vom Neoliberalismus zum Faschismus, wie sie in Contract and Contagion beschrieben wird. Die Abflachung der epidemiologischen Kurve (der Infektionsrate) ist entscheidend, aber dies ohne wachsende Infrastrukturen der Sorge umzusetzen bedeutet einfach, die Last auf die ungleichen Grundlagen ererbter familiärer Vermögen zu verschieben, ganz zu schweigen von den vergeschlechtlichten und rassifizierten Arbeitsteilungen, die dem zugrunde liegen, was des Öfteren als die Arbeit der sozialen Reproduktion beschrieben wird.

Der Text spielt kurz auf das wachsende Selbstverständnis von malthusianischen und ökofaschistischen Antworten an – Rufe nach einer «Auslese» der Schwächeren, für Opferungen im Namen «der Wirtschaft» oder für Entvölkerung und totale Verfügbarkeit. Solche Anrufungen müssen zurückgewiesen werden, aber man sie nicht entschieden bekämpfen, wenn man in oikonomische (nationalistische, rassifizierte oder vergeschlechtlichte) Lesarten zurückfällt, die ihre Annahmen darüber teilen, was unter «der Wirtschaft» zu verstehen ist. Dies erfordert eine andere Art von Abweichung und eine Erinnerung daran, dass kein Streik eine Massendemonstration erfordert, um effektiv zu sein.


Gegen Quarantäne. Wie Reaktionen auf das neue Coronavirus Krankheiten territorialisieren und von einem Virus profitieren (Januar 2020)
Die genetische Identifizierung eines neuartigen Stammes des Coronavirus (2019-nCoV) im chinesischen Wuhan anfangs Dezember 2019 scheint einen weltweiten Rückgriff auf Quarantänemaßnahmen etabliert zu haben. Wuhan, eine Stadt mit mehr als 11 Millionen Einwohner*innen, wurde in eine Ausgangssperre versetzt, Grenzen wurden geschlossen und etliche Regierungen haben selektive Reisebeschränkungen und verbote auf Grundlage der Staatsbürger*innenschaft und des rechtlichen Status eingeführt – einschließlich der Aussetzung von Visa für alle mit einem chinesischen Pass.

NCoV – inzwischen umbenannt in Sars-CoV2 – ist ein ernsthaftes Gesundheitsproblem, insbesondere für diejenigen, die bereits an chronischen Erkrankungen und Atemwegsbeschwerden leiden. Die Effektivität von Quarantänen ist jedoch zweifelhaft und wirft die Frage auf, welchen Wert Quarantänen haben, wenn nicht denjenigen der öffentlichen Gesundheit.

Es liegt ein politischer Wert in der Quarantäne für diejenigen, die unbedingt glauben, dass die Reinheit der biologischen «Rasse» ein gesunder Zustand wäre. Es liegt aber auch ein finanzieller Wert darin, einen sozialen Ansatz für Gesundheit und Krankheit durch ein selektives, nationalistisches Modell zu ersetzen, das der Entwicklung patentierter Behandlungen und privater Krankenversicherungen förderlich ist.

Bei einigen dient die Quarantäne als Instrument zur Popularisierung von Xenophobie und dem Ruf nach ethnonationalistischer Spaltung. Die Regierung der Vereinigten Staaten hat ein Reiseverbot verhängt, oder genauer gesagt, sie hat ihre Besessenheit, die Bewegungen nicht-weißer Menschen einzuschränken, erheblich ausgeweitet. Ausgehend von einer langen Geschichte antichinesischer Ressentiments hat die australische Regierung die Einreise von Nicht-Staatsbürger*innen aus China verboten und vorgeschlagen, australische Staatsbürger*innen, von denen viele nach China gereist sind, um Neujahr mit Verwandten zu feiern, direkt zu deportieren und für eine gewisse Zeitspanne im Internierungslager auf Christmas Island einzusperren. Während große Spitäler auf dem Festland dafür ausgerüstet sind, mit schweren Krankheiten und Pandemien umzugehen, ist das im Internierungslager auf der Insel nicht der Fall. Wer da in Quarantäne erkrankt, muss zur Behandlung in jedem Fall in ein großes städtisches Krankenhaus geflogen werden. Die Auswirkungen dieser Politiken auf rund 200.000 Studierende (von denen ein Teil für das neue akademische Jahr in Australien aus China zurückkehrt) sind unklar, werden aber enorm sein. Einige Universitäten auf der Welt haben eine Zeitspanne der Einsperrung im Wohnheim vorgeschrieben; andere, wie die UC Berkeley, gaben Warnhinweise heraus, die Xenophobie als verständliche Reaktion nahelegten (diese Warnhinweise wurden inzwischen unter Druck zurückgenommen).

Analog zum außergesetzlichen Ansatz der australischen Regierung hat die philippinische Regierung die Nutzung militärischer Einrichtungen auf Caballo Island und Fort Magsaysay als Quarantänezonen vorgeschlagen. Die russische Regierung hat zudem die «Abschiebung von ausländischen Staatsbürger*innen, die so eine Krankheit haben» angedroht. Diese Benutzung des Status der Staatsbürger*innenschaft als Platzhalter für die Erkennung von Sars-CoV2 soll wahrscheinlich Nicht-Staatsbürger*innen davon abhalten, Behandlung für entsprechende Symptome zu suchen – es ist aber jedenfalls unklar, wie Abschiebung die Ausbreitung des Virus minimieren könnte.

Diese Praktiken heben hervor, was Howard Markel als «aggressives Leidpotenzial der Quarantäne » bezeichnet.[2] Das Leid wird – wie Markel in seiner Geschichte der Behandlung osteuropäischer jüdischer Einwanderer*innen in New York Ende des 19. Jahrhunderts zu verstehen gibt – für diejenigen verschärft, die sich zufällig auf der «anderen» Seite einer Quarantänegrenze befinden. Die Ausbreitung kann jedoch nie entlang dieser Linien eingeschränkt werden, da ein Virus weder einer bestimmten Personengruppe entspricht, noch durch ein Reisepass identifiziert werden kann.

Während die Weltgesundheitorganisation Sars-CoV2 als schwerwiegenden Gesundheitsnotstand deklarierte, riet sie von der Schließung von Grenzen als wirksamem Mittel zur Bekämpfung des Virus ab. Sie warnte davor, dass «das Schließen der Grenzen zur Eindämmung der Übertragung des tödlichen, neuartigen Coronavirus aus China vermutlich wirkungslos gewesen ist und dass es sogar seine Ausbreitung beschleunigen könnte», auch weil Strafmaßnahmen es dem Pflegepersonal sehr viel schwerer machen, die Fälle zu behandeln und die Ausbreitung der Erkrankungen zu verfolgen.[3]

Die Internierung von Migrant*innen ging aus den miteinander verflochtenen Geschichten und Techniken der Quarantäne und des Gefängnisses hervor. Während des 20. Jahrhunderts ist die Verwendung des cordon sanitaire als Maßnahme für die öffentliche Gesundheitsversorgung größtenteils verschwunden – sie wurde in landwirtschaftliche Protokolle in Häfen und Flughäfen verbannt, bestand allerdings s metaphorisches Accessoire der Rassifizierungspolitik weiter.[4]

Der cordon sanitaire erscheint seit dem Ende des 20. Jahrhunderts an der Schnittstelle einer Reihe von Veränderungen wieder . Nach Jahrzehnten des Rückgangs der sozialen Begrifflichkeit und Behandlung in Bezug auf Gesundheit und Krankheit, oder auch: nach der Privatisierung des Gesundheitswesens und der Vergesellschaftlichung der Krankheiten taucht er wieder auf. Darüber hinaus hat die Entwicklung der Genomsequenzierung und der Bioinformatik die Identifizierung neuer Virusstämme ermöglicht. Während aber die genetische Identifizierung zur Entwicklung von Therapien für einige Krankheiten wichtig sein mag, impliziert diese Möglichkeit, neue Stämme zu identifizieren und zu kartieren keine postmoderne Beschleunigung mikrobischer Mutationen. Und nicht zuletzt hat das Wiederaufleben der Rechtsaußenpolitik um Ethnonationalismus und anti-migrantische Vorurteile der Einbildung Vorschub geleistet, dass biologische Reinheit eine Bedingung für Gesundheit und Leben sei.

Im Folgenden möchte ich vier miteinander verbundene Punkte unterstreichen:

Erstens sind Behauptungen, dass Quarantänen die Ausbreitung von Viren wie dem Sars-Cov2 wirksam eindämmen oder die Überlebensraten verbessern, umstritten. Die allgemeine Ansicht ist, dass sie kontraproduktiv sind.

Was die Ästhetik betrifft, die die scheinbare Dringlichkeit von Quarantänemaßnahmen stützt: mathematische Ansteckungsmodelle können dramatische, spekulative Visualisierungen von fraktalen Ausbreitungen liefern, die durch die mutmaßlich dichten Linien der nationalen Grenzen gehemmt werden können – aber das sind keine in der wirklichen Welt in Feldversuchen getestete Übungen. In ähnlicher Weise wurden Begriffe und Zahlen zur Beschreibung neu auftretender übertragbarer Krankheiten zu Quellen von Falschinformationen, wie etwa die Basisreproduktionszahl[5] R0. Von Forscher*innen als nützliche, aber provisorische numerische Schätzung zur Entwicklung von Hypothesen über Infektionsraten gehandhabt, wurde die anfängliche Verbreitung eines solchen R0 auf Socialmedia aufgenommen, als wäre es der Beweis einer sich entfaltenden Apokalypse. Darüber hinaus wurde zwischenzeitlich die Verwendung nicht-symptomatischer Platzhalter (wie die Nationalität) als Mittel, Sars-CoV2 zu entdecken, gefördert. Zentral war hier die Veröffentlichung eines Berichts, in dem suggeriert wurde, dass Übertragung ohne Symptome möglich sei, jedoch hatte die Studie «nachweislich schwerwiegende Mängel und Fehler enthalten» und die Schlussfolgerungen erwiesen sich als falsch[6]

Andere Maßnahmen als die Quarantäne haben sich als weitaus effektiver erwiesen, um eine weite Verbreitung der Ansteckung abzuwenden. In einer ausführlichen Überprüfung der Forschung zur vergleichenden Effektivität einer Reihe von Maßnahmen (abgesehen von Impfstoffen und antiviralen Medikamenten), um die Übertragung von Atemwegsviren zu verhindern – Screening am Zoll, medizinische Isolation, Quarantäne, social distancing, Barrieren, persönlicher Schutz und Handhygiene – erwiesen sich die Verwendung von chirurgischen Masken und reguläres Händewaschen als beständigstes wirksames Set physischer Maßnahmen.[7] Die Untersuchung ergab zudem, dass die medizinische Isolation von Patient*innen mit Symptomen wichtig ist, dass jedoch «globale Maßnahmen, wie das Screening am Zoll nur zu einer nicht-signifikanten, geringfügigen Verzögerung führten».

Wie eine Wissenschaftlerin vom John Hopkins Center for Health Security es ausdrückte: «Niemand soll meinen, dass es keine weiteren Fälle geben wird», nur weil es ein Reiseverbot gibt.[8]

Doch selbst wenn man der zweifelhaften Annahme zustimmen würde, dass die Übertragung von Krankheiten durch territoriale Einschränkungen der Mobilität der Menschen gestoppt (oder in nennenswerter Weise gehemmt) werden könnte, würde die genomische Identifizierung eines neuen Virenstamms – zwar beschleunigt durch die Einführung einer automatisierten Genomsequenzierung – unverändert erst nach seinem Erscheinen auftreten. In jedem Fall stellen der Aufwand und der Fokus auf Restriktionen der Quarantäne tendenziell einen Abzug von Ressourcen weg von Maßnahmen dar, die sowohl unmittelbar als auch längerfristig effektiver sein dürften.

Das heißt: Quarantänen verschärfen häufig die Gefahren des Virus, da sie die Illusion fördern, dass die Isolation eines Virus gleichbedeutend ist (oder zu erreichen ist) mit der territorialen Einsperrung von Personengruppen, deren Einsperrung nicht davon abhängig ist, ob diese Symptome haben oder bei ihnen eine Krankheit diagnostiziert wurde, sondern durch eine angeblich präventive Maßnahme, die Nationalität und Geographie als Platzhalter für Gefährdung benutzt.

Zweitens stützt sich der Rückgriff auf Quarantänen auf das biologisch-«rassische» Verständnis von Nationen als abgesonderte organische Einheiten und verdrängt ein soziales Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Quarantänen befördern die Imagination eines Konflikts zwischen der Erhaltung vermeintlich klar-definierter biologischer Kategorien (der Mensch, die Familie, die Nation, die «Rasse») und der viralen Verbreitung von grenzüberschreitenden Ansteckungen.

Es ist allerdings zweifelhaft, ob sich die Menschheit ohne die Spezies-überspringende, rekombinante Wirkung der durch Virusinfektionen übertragenen bakteriellen Genetik überhaupt hätte entwickeln können.[9] Genauer gesagt beinhalten alle Impfstoffe die modifizierte Verabreichung einer Infektion, und die Immunisierung ist nur auf der breitesten (nicht etwa auf der nationalen) Bevölkerungsskala wirksam.

Während einige Medien Wuhans «wet markets» als Schauplatz des Sprungs von Spezies zu Spezies fokussiert haben, werden die Privatisierung des Gesundheitswesens und die Vergesellschaftlichung von schlechter Gesundheit als mitverantwortliche Faktoren sowohl bei der Infektions- als auch der Sterblichkeitsrate weitgehend ignoriert. Wie eine neue Studie zeigt, hatte etwas mehr als die Hälfte der mit Sars-CoV2 infizierten Personen im Jinyintan-Spital in Wuhan ältere chronische Grunderkrankungen – wie Herzkreislauf- oder zerebrovaskuläre Krankheiten, Erkrankungen der Atemwege oder bösartige Tumore.[10]

Darüber hinaus wurde Chinas öffentliches Gesundheitssystem in den 1980er Jahren demontiert.[11] Das passierte in einer Zeit von schnellen, mit fossilen Brennstoffen angetriebenen wirtschaftlichen Veränderungen – und verursachte einen enormen Anstieg von (unbehandelten) chronischen Krankheiten, insbesondere Atemwegs-, Herzkreislauf- und Herz-Lungenkrankheiten in einer Stadt mit einer der schlimmsten Luftverschmutzungen der Welt.[12] Ihre Luftqualität hat einen Jahresdurchschnitt an PM2.5-Konzentration von über 120μg/m3. Zum Vergleich: die WHO hat einen Jahresdurchschnitt von 10μg/m3 festgelegt, über dem bei einer 95 prozentigen Wahrscheinlichkeit die Sterblichkeit – durch Herz-Lungenkrankheiten und durch Lungenkrebs – erwiesenermaßen zu steigen beginnt.[13]

Etwa 97 Prozent der Todesfälle, die Ende Januar weltweit mit Sars-CoV2 in Verbindung gebracht werden, wurden in Wuhan verzeichnet. Chinas dezentralisiertes, kommerziell orientiertes Gesundheitssystem und die mangelhafte Krankenversicherung haben aller Wahrscheinlichkeit nach die Auswirkung jeder einzelnen Erkrankung verschlechtert, wie einige bereits während des Sars-Ausbruchs argumentiert haben.[14]

Möglicherweise stellt der jüngste Bau von gewissen Spitälern eine Anstrengung von Seiten der chinesischen Regierung dar, die Abdeckung von Gesundheitsversorgung und -Versicherung zu erweitern – wenn auch unter der administrativen Kontrolle des Militärs. Halten wir fest: Auch das ist Teil der Entwicklung eines Systems, worin zunehmend prekäre[15] Bevölkerungsgruppen das, was eine normale Gesundheitsversorgung sein sollte, nur durch Teilnahme an experimentellen Notfallprozeduren erhalten können – was ihre Heilungschancen erhöhen kann oder auch nicht, worin sie aber die größten Risiken tragen für (letzten Endes) patentierte Impfstoffe oder andere Medikamente und biotechnische Erfindungen.[16]

Währenddessen stiegen die Aktien eines US-amerikanischen Biotechnologie-Unternehmens namens Gilead Sciences, nachdem berichtet wurde, dass das Unternehmen eine Studie des antiviralen Medikaments (Remdesivir) an etwa 270 Patienten in China beginnen würde, bei denen sich nach der Ansteckung mit Sars-CoV2 eine leichte oder mittelschwere Lungenentzündung entwickelte. Die WHO hat kürzlich darauf hingewiesen, dass es noch keinen Beweis gibt für die Wirksamkeit von antiviralen Behandlungen. Einige Behandlungen mögen sich noch als wirksam erweisen. Gegenwärtig sind das aber Experimente und spekulative Unterfangen, die die Verzweiflung zu ihrem Vorteil nutzen und sich am Wachstum privater Märkte patentierter Medikamente orientieren. Während die Offenlegung von Daten für das Gesundheitswesen entscheidend ist, gibt es jedoch äußerst wenig Beschränkungen (wenn es sie überhaupt gibt) gegen das Data-Mining für kommerzielle Produkte zu in der Folge tieferen Kosten.

Aufgrund dieser und anderer sich gegenseitig verstärkender Systeme liegt ein großer finanzieller Wert darin, ein soziales Gesundheits- und Krankheitsmodell – das ein komplexes Verständnis von Krankheitsübertragung und den Faktoren beeinhaltet, die zu Krankheits- und Sterblichkeitsraten führen– durch ein reduktives Modell zu ersetzen: Letzeres gehorcht der Logik privater Versicherungen sowie der subventionierten Entwicklung patentierter Medikamente oder Therapien und der fortschreitenden Externalisierung von sinkenden Risiken gesundheitsschädigender Industrien und Praktiken, die zu schlechter Gesundheit und Sterblichkeit beitragen.

Drittens senkt daher die Kombination aus erklärtem Notstand, der Einsperrung in Quarantäne und niedrigeren Regulierungsstandards die Kosten für Medikamententests an Menschen erheblich und bläht den Wert und den Markt für patentierte Medikamente auf. Es gibt einen kommerziellen Wert für Biotechnologie und Pharmaunternehmen in  der (spekulierten) Entwicklung von patentierten Impfstoffen, antivirals oder Breitbandantibiotika durch die räumliche Abgrenzung und Immobilisierung einer Schar von Versuchspersonen.

In der Tat ging der Zusammenbruch des öffentlichen Gesundheitswesens in China mit der Einführung eines Systems einher, mit dem es den Spitalverwaltungen erlaubt wurde, «an neuen Pharmazeutika und medizinischen Technologien Profit zu machen (nach starkem Lobbying der entsprechenden multinationalen Konzernen), mit Boni für die involvierte Belegschaft.»[17] Es gibt eine Reihe von Industrien und Praktiken, die aus Quarantänen Gewinn abschöpfen können – das Militär, Haft- und Sicherheitsunternehmen und diejenigen Organisationen, die diese Dinge mit quasi-medizinischen Notfallteams kombinieren.

Zufälligerweise hat die australische Regierung von jeder Person, die auf Christmas Island interniert wurde, verlangt, eine Verzichtserklärung zu unterschreiben – wahrscheinlich eine, welche die Regierung und die privaten Unternehmen, die die Einrichtung verwalten, für den Fall schadlos hält, dass die Internierung zu Infektionen oder anderen gesundheitlichen Problemen führt. Mit anderen Worten: die Quarantäne auf Christmas Island ist nichts anderes als ein Mittel, Personen zu überwachen, die für die durchschnittliche Inkubationszeit von Sars-CoV2 eingesperrt sind – wenn das Virus unter den Inhaftierten vorhanden ist. Es ist schwer zu erkennen, wie diese Praxis etwas anderes sein soll als Methoden, bei denen ein Virus auf eine Gruppe von Versuchspersonen losgelassen wird, dessen Verlauf auf Daten untersucht werden kann – wenn als gegeben vorausgesetzt wird, dass jede Person, die in irgendeiner Weise krank wird, in ein großes Spital auf dem Festland zur Behandlung überführt werden muss.

Viertens und abschließend liegt – für einige – ein politischer Wert darin, einen scheinbaren Konsens über die angebliche Notwendigkeit und Dringlichkeit autoritärer Maßnahmen zu Bevölkerungskontrolle und Einschränkungen der Mobilität zu schmieden, der auf der Stigmatisierung von Gruppen von Menschen durch eine territorial-nationale und folglich rassifizierte Assoziation mit einer Krankheit sowohl gründet als diese auch befördert.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass diese jüngste Geschichte der Quarantänemaßnahmen den cordon sanitaire früherer Jahrhunderte nicht exakt nachbildet. Die praktische Relevanz der Virologie in der Entwicklung der biomedizinischen und pharmazeutischen Industrie bedeutet, dass Quarantänezonen nicht außerhalb von Wertkreisläufen zu liegen kommen, auch wenn die Quarantäne als Mittel der Segregation auftritt. Die gegenwärtige Quarantäne stellt eine Fusion zwischen der autoritären Regierung der Bevölkerung und der Erleichterung und dem Anstieg von privater, selektiver Gesundheitsinfrastruktur dar. Angesichts der Relevanz von Nichtselektivität und Maßstab für die öffentliche Gesundheit lassen sich nationalistische Ansätze im Gesundheitswesen besser als Weg zur Privatisierung der öffentlichen Gesundheit mit anderen Mitteln beschreiben.


Postskriptum zu Contract and Contagion (Vertrag und Ansteckung) (März 2020)

Wenn jedes Haus zu einer Quarantänezone wird und jede epidemiologische Karte für eine korrekte Darstellung der molekularen Ausbreitung gehalten wird, ist die Konvergenz von Neoliberalismus und Faschismus um ein oikonomisches Verständnis von Gesundheit und Krankheit so gut wie vollständig.

Es nahe der Vollständigkeit auszumachen meint aber nicht, dass ein Apparat, in dem, was er vorgibt zu tun, erfolgreich oder wirksam ist. Er besteht als ein Apparat aus einer Reihe von Regeln, Ansätzen und Annahmen, die auf kategorischen Verständnissen des Lebens, biologischer Prozesse und Lebewesen beruhen, die die Welt prägen, indem sie vermessbar gemacht wird, ungeachtet davon, wie falsch ihre Darstellung des Lebens sein mag. Das heißt, dass systematische «Fehler» für ein bestimmtes System zweckdienlich sind. Viel hängt natürlich von den Definitionen der «Wirksamkeit» ab. Die grotesken Szenen, die offen die Aussicht auf «Auslese» beklatschen, haben einen sehr unterschiedlichen Begriff vom Wert ihres eigenen Lebens und demjenigen anderer – seltsamerweise bieten sie sich niemals selbst als Opfer an ihren malthusianischen Gott an.

Trotz alldem war der Apparat im Umgang mit der Verbreitungdes Sars-CoV2-Virus ausgesprochen unwirksam, eines Virus, das wohl die erste, überwältigende biomolekulare Abweichung (oder clinamen) des 21. Jahrhunderts darstellt, deren Ausgang unbestimmt ist, deren Sammlung von Einsätzen aber zugleich nicht intensiver und globaler sein könnte. Was Verträge betrifft, sind auch wilde Streiks eine Art von Abweichung.

[1] Angela Mitropoulos: Contract and Contagion. From Biopolitics to Oikonomia, Wivenhoe et al.: Minor Compositions 2012, https://monoskop.org/File:Mitropoulos_Angela_Contract_and_Contagion_From_Biopolitics_to_Oikonomia.pdf.

[2] Vgl. Howard Markel: Quarantine! East European Jewish Immigrants and the New York City Epidemics of 1892, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1999.

[3] Agence France-Presse: «Closing borders could allow novel coronavirus to spread faster – WHO», Rappler, 31. Januar 2020, https://www.rappler.com/world/global-affairs/250707-closing-borders-could-allow-novel-coronavirus-spread-faster-who.

[4] Vgl. Angela Mitropoulos: Contract and Contagion. From Biopolitics to Oikonomia, Wivenhoe et al.: Minor Compositions 2012, S. 122 und 131ff.

[5] Vgl. Ed Yong: «The Deceptively Simple Number Sparking Coronavirus Fears», in: The Atlantic, 28. Januar 2020, https://www.theatlantic.com/science/archive/2020/01/how-fast-and-far-will-new-coronavirus-spread/605632/.

[6] Vgl. Kai Kupferschmidt: «Study claiming new coronavirus can be transmitted by people without symptoms was flawed», in: Sciencemag, 3. Februar 2020, https://www.sciencemag.org/news/2020/02/paper-non-symptomatic-patient-transmitting-coronavirus-wrong#.

[7] Tom Jefferson et al.: «Physical interventions to interrupt or reduce the spread of respiratory viruses: systematic review», DOI: 10.1136/bmj.b3675.

[8] Vgl. Judy Stone: «Why Travel Bans Don’t Work During An Outbreak Like Coronavirus», in: Forbes, 1. Februar 2020, https://www.forbes.com/sites/judystone/2020/02/01/why-travel-bans-dont-work-during-an-outbreak-like-coronavirus/#289319f353ea.

[9] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/apm.12488

[10] Nanshan Chen et al.: «Epidemiological and clinical characteristics of 99 cases of 2019 novel coronavirus pneumonia in Wuhan, China: a descriptive study», DOI:https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)30211-7.

[11] Pingan Zheng et al.: «Public hospitals in China: privatisation, the demise of universal health care and the rise of patient-doctor violence», Journal of law and medicine, 2006, https://www.semanticscholar.org/paper/Public-hospitals-in-China%3A-privatisation%2C-the-of-of-Zheng-Faunce/de0ad1968eaac3cea8f69d8c94e41bf44c63a130.

[12] Michal Krzyzanowski et al.: «Air Pollution in the Mega-cities», in: Current Environmental Health Reports 1, 2014, https://link.springer.com/article/10.1007/s40572-014-0019-7.

[13] Arden Pope et al.: «Lung Cancer, Cardiopulmonary Mortality, and Long-Term Exposure to Fine Particulate Air Pollution», DOI: 10.1001/jama.287.9.1132.

[14] Vgl. Yuanli Liu: «China’s Public Health-care System: Facing the Challenges», DOI: 10.1590/S0042-96862004000700011.

[15] https://www.metamute.org/editorial/articles/precari-us

[16] Vgl. Angela Mitropoulos: Contract and Contagion, 2012, https://monoskop.org/File:Mitropoulos_Angela_Contract_and_Contagion_From_Biopolitics_to_Oikonomia.pdf.

[17] Pingan Zheng et al.: «Public hospitals in China: privatisation, the demise of universal health care and the rise of patient-doctor violence», Journal of law and medicine, 2006, https://www.semanticscholar.org/paper/Public-hospitals-in-China%3A-privatisation%2C-the-of-of-Zheng-Faunce/de0ad1968eaac3cea8f69d8c94e41bf44c63a130.

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