WEITERE NOTIZEN WÄHREND DER ABSCHAFFUNG DER DEMOKRATIE (UND WAS DER FALL GRIECHENLAND DAMIT ZU TUN HAT)

Die Voraussetzung jedweder Demokratie ist die Bereitschaft, uns gegenseitig grundsätzlich von gleich zu gleich ernst zu nehmen. Das andere dazu ist, dass wir uns grundsätzlich darüber im klaren sind, dass jeder Mensch für das, was er tut, gleich verantwortlich ist. (Die wenigen Ausnahmen, die es geben muss, sind Gegenstand von immer wieder neuen Aushandlungen.)

„Das Volk“ und „die Regierung“ nehmen einander ernst. So fängt das an. Tun sie das nicht oder nicht ehrlich und offen genug, dann ist zwar noch Populismus, aber keine Demokratie mehr möglich. Eine Regierung, die dem Volk nach dem Mund redet, nimmt es offensichtlich nicht ernst, genau so wenig wie ein Volk, das glaubt seine Regierung sei dazu da, die eigenen Wünsche zu erfüllen. Dafür, dass sich die Regierung und das Volk gegenseitig ernst nehmen, hätten, unter anderem, die Medien der politischen Öffentlichkeit zu sorgen. Dafür, dass sie es nicht tun, sorgen sie tatsächlich. Denn die Medien in Postdemokratie und Neoliberalismus funktionieren marktförmig. Je weniger sich Regierung und Volk gegenseitig ernst nehmen, desto größer ist der Markt von Meinung und Geschmack. Die Kunst des marktförmigen Mediums besteht darin, sich von beiden Seiten (wenn auch in unterschiedlichen „Währungen“) bezahlen zu lassen.

„Die Regierung“ ist ein ebenso schillernder und wandelbare Begriff wie „das Volk“. Wir könnten uns mit einer Beziehung zwischen einem strukturierenden Strukturierten und einem strukturierten Strukturierendem behelfen, hätten uns aber schon wieder furchtbar entfernt von einem historischen und biografischen Erleben. Leute, die sagen, was gemacht wird, auch wenn sie es nie ganz ohne jene machen können, mit denen es gemacht wird, und Leute, die machen, was man ihnen sagt, auch wenn man ihnen nicht alles sagen kann. Das Einverständnis zwischen Volk und Regierung mag ausschlaggebend für das Funktionieren eines Systems sein (und sei dieses ein faschistisches), ein Beleg für Demokratie ist es nicht. Menschen, die an einem Einverständnis zwischen Volk und Regierung arbeiten, arbeiten an allem möglichen, gewiss nicht an Demokratie.

Demokratie ist für beide Seiten so anstrengend, dass die Versuchung groß ist, sie durch Einverständnis zu ersetzen.

Ein Volk, das sich an ein Medium der Niedertracht, wie die Bild-Zeitung, bindet, will keine Demokratie, sondern Einverständnis. Es will gleichsam auf eine bestimmte Weise wollen dürfen. Zum Beispiel gegen „Ausländer“ und „Asylanten“ sein, oder gegen „faule Griechen“. Ein Bild-Zeitungsvolk nimmt seine Regierung nicht ernst. Es fühlt (bzw. lässt sich fühlen machen) eine eigene Macht, wenn die Regierung ihm zu Willen ist, nicht in der positiven Gestaltung der Politik, sondern in den Negationen. In der „gemeinsamen“ Aggression gegen Feindbilder (wohl gemerkt: Bilder) und gegen Sündenböcke. Eine Regierung, die mit einem Medium der Niedertracht wie der Bild-Zeitung regiert (anstatt es mit allen Mitteln von Aufklärung und Demokratie zu bekämpfen), nimmt das Volk nicht ernst. Ein Medium der Niedertracht wie die Bild-Zeitung ist daher die Voraussetzung für die Abschaffung der Demokratie.

Die Beziehung zwischen der Regierung und dem Volk in der Postdemokratie ist zugleich marktförmig, und damit (sozusagen unendlich) in Sinn-Angebote, Events, Entertainment zu cracken, und prekär. Zugleich mit dem demokratischen Respekt voreinander nämlich wurde in der Postdemokratie auch jede Verlässlichkeit, die Idee eines Volkes als „Solidargemeinschaft“ und von der Regierung als Instanz des sozialen Ausgleichs aufgegeben. Die postdemokratische Regierung muss – es sei wiederholt: sie muss! – das eigene Volk verraten, wenn sie ihren Einfluss in den höheren ökonomischen Sphären nicht verlieren will. Sie ist eine Instanz, die den kontrollierten Bürgerkrieg erzeugt (und weiß, dass sie diese Kontrolle allein nicht behalten kann, weshalb sie schon einmal mit ihrer Privatisierung begonnen hat); sie gewinnt Zeit, indem sie den Bürgerinnen und Bürgern noch Ersatzfeinde und Ersatzschuldige liefern kann, indem sie den Bürgerkrieg exportiert, indem sie das Volk, das sie nicht nur nicht mehr ernst nimmt, sondern das ihr zunehmend lästig wird (vor allem, wenn es sich den „alternativlosen“ Geldbewegungs- und Weltvernichtungsmaschinen in den Weg zu stellen wagt), tranquilisiert.

Die postdemokratische Regierung, die sowohl den Respekt zwischen Regierung und Volk als auch den Auftrag von sozialem Ausgleich und Fürsorge noch viel sorgloser absentiert als dies schon früher „bürgerliche Regierungen“ taten, die sich ganz im Auftrag eines Klasseninteresses verhielten, erzeugt ihre eigenen Gespenster: Alles, was Solidarität, Respekt, „ideale Einheit“ verspricht – mit den krudesten Feindbildern, versteht sich– wird von einem Teil des getäuschten und enttäuschten Volkes gerne angenommen. So gehen die einen zum Dschihad, die anderen gehen zu den Nazis. Das einzige, was eine postdemokratische Regierung diesem selbst erzeugten Monster entgegen zu setzen hat, ist: mehr Kontrolle. Noch mehr Kontrolle. Noch weniger Demokratie. Die Abwärtsspirale beschleunigt sich, ohne dass es ein Subjekt geben könnte, das der Bewegung Einhalt gebieten kann.

Neoliberalismus bedeutet, unter vielem anderen, dass mögliche Opponenten erst in letzter Instanz „brutal“ bekämpft werden; viel bedeutender ist es, die Subjekte einer möglichen Opposition möglichst auf ökonomische Weise so zwischen Verheißung und Drohung zu spalten, dass sie als Einheit verschwinden. Es gibt keine „Arbeiterklasse“ mehr. Es gibt keine „Studenten“ mehr. Es gibt keine „Intellektuellen“ mehr. Es gibt keine „Bohème“ mehr. Es gibt keinen Maquis mehr, keinen möglicherweise im entscheidenden Augenblick den Dienst versagenden „Beamtenapparat“, keine unkontrollierten Arbeitsverhältnisse, keine wirkliche Gewerkschaftsbewegung usw. Alle diese möglichen Subjekte der sozialen Unruhe wurden in eine Minorität der „Gewinner“ und eine Majorität der gelähmten Verlierer gespalten. Was vor allem gecrackt wurde, durch die simple aber durchschlagende Macht der ökonomischen Erpressung, ist ein Bewusstsein der möglichen Subjekte sozialer Opposition. In einer Welt, in der es auf diese Weise so schwer, und manchmal unmöglich geworden ist, zu sagen, wo man hin gehört, haben die Demagogen und „Hassprediger“ leichtes Spiel. Sie sind nicht die „bösen“ Nachfolger der Opponenten des Neoliberalismus; sie sind die Ausgeburten des Neoliberalismus, und deswegen verwundert es dann doch nicht, dass, nur zum Beispiel, in Italien das größte Kontingent der Dschihadisten (in der Mehrzahl der Fälle: pures Kanonenfutter) eben aus jener Stadt, nämlich Ravenna, stammt, die nicht nur den höchsten Lebensstandard, sondern auch die geglückteste „Integration“ vorzuweisen hat.

Vielleicht ist es ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen, ernst genommen zu werden: vom „nächsten“ wie von der Regierung (was immer an Macht das sein mag, das sich eine äußere Form gibt). Die Medien der Niedertracht und die deutsche Regierung waren sich darin einig: Wir nehmen das griechische Volk ebenso wenig ernst wie die griechische Regierung. Diese fundamentale Entwürdigung, als Begleitmusik zur ökonomischen Herbeipressung eines Krieges einer Regierung gegen das eigene Volk, ist einer der großen anti-humanistischen und anti-demokratischen Akte auf dem Weg zu einem deutschen Europa, in dem das Volk nichts mehr zu sagen haben wird (man wird durch weitere Niedertracht sein Einverständnis kaufen oder erzwingen). Wir sehen gerade dem vorletzten Akt der Abschaffung der Demokratie in Europa zu. Der letzte Akt wird blutig, so viel ist sicher.

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