Baudrillard und die Quantentheorie

aus dem kommenden Buch: Im Delirium der Simulation. Baudrillard revisited.

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Wenn an einem Teilchen eine Messung vorgenommen wird, so verändert sich sofort der Zustand des anderen Teilchens – unabhängig davon, wie weit sie auseinandergelaufen sind. Wenn die Beschreibung mit »zwei Teilchen« zutreffend wäre, so müsste zwischen ihnen aufgrund der Zustandsveränderung eine Wechselwirkung stattfinden. Aber eine Wechselwirkung, die eine augenblickliche Änderung zu Folge hat, also sofort und vor allem über beliebige Entfernungen hinweg, steht im Widerspruch zur Relativitätstheorie. Nach dieser kann sich eine Kraftwirkung nur mit Lichtgeschwindigkeit im Raum ausbreiten. Die sofortige Änderung war es, die Einstein so empört hatte, denn damit wird sein Axiom der Lichtgeschwindigkeit angegriffen, weswegen er die Verschränkung auch als geisterhaft bezeichnete. Das Verhalten von entfernten Photonen lässt also darauf schließen, dass es unmittelbare Interaktionen auf Distanz gibt (Verschränkung). Auch hier offenbart sich für Baudrillard ein Paradoxon: die Trennbarkeit und Untrennbarkeit von Teilchen: »Die Teilchen sind untrennbar, aber Lichtjahre voneinander entfernt« (Baudrillard 1996: 89). Mit der Quantentheorie wird es möglich, die Einheit von Differenzierung und Ganzheit zu denken. Baudrillard zufolge kommunizieren die Teilchen nicht, tauschen aber vereinzelt Effekte aus, die auf ihrer Wechselbeziehung beruhen. In Anbetracht der Untrennbarkeit der Phänomene, respektive von Subjekt und Objekt, betont Baudrillard die Unmöglichkeit einer Wahrheit. Dieser Umstand zieht wiederum die Unmöglichkeit eines perfekten Wissens sich. Guillaume schreibt zu Baudrillard, dass für diesen der Forscher ein Sünder und die Wahrheit sein Gott sei. (Baudrillard 2005: 237)

In Bohrs Interpretation lassen sich allerdings die ultimativen Objekte weder als Wellen noch als Teilchen verstehen. Der Begriff »Quantenobjekt« bezieht sich stets auch auf Entitäten, auf die keine spezifischen Eigenschaften oder Vorstellungen anwendbar sind. Dies ist ein Grund, warum die Welle-Teilchen-Komplementarität von Bohr nie besonders favorisiert wurde, obwohl sie wohl das berühmteste und am häufigsten angeführte Beispiel für Komplementarität ist.

Vor der Messung gibt es nur (positive Potenziale), aber keine Fakten oder Ergebnisse. Auch was zwischen den Messungen stattfindet, wissen wir nicht. Quantensysteme sind demnach keine Objekte, die wir in der Realität vorfinden. Es handelt sich um relationale Beziehungen oder um Potenzialräume, die aufgrund von weiteren Relationen, denen der Messung, zu Ergebnissen führen können. Wahrscheinlichkeitsfunktionen oder solche der Wellenfunktion stellen deswegen auch nur (objektive) Tendenzen dar, die durch (subjektive Beobachtungen oder Messungen unstetig bzw. durch Quantensprünge aktualisiert werden. So findet die Verbindung der Funktionen mit der Wirklichkeit statt. Es handelt sich hier weder um eine objektivistische noch um eine subjektivistische Position, vielmehr reichen alteuropäische Positionen, die sich auf das Sein oder das Nicht-Sein kaprizieren, nicht mehr aus, um eine polyvalente und polykontexturale Quantenwirklichkeit von Virtualitäten zu beschreiben, die jenseits des Gesetzes vom ausgeschlossenen Dritten in Richtung einer wesentlichen komplexeren Logik des »sowohl als auch« zu erschließen ist. Hier öffnet sich die Lichtung für eine transklassische Logik (G. Günther), die unterschiedliche Referenzperspektiven eröffnet, von denen jeweils andere Sachverhalte aufscheinen und gleichzeitig die jeweiligen Perspektiven nicht ohne weiteres logisch widerspruchsfrei ineinander übergehen können. Über die Superposition und Überlagerung hinaus ist noch auf die Idempotenz zu verweisen, auf das »sowohl als auch, als auch, als auch …«, wobei hinsichtlich der Idempotenz vor allem auf die Funktion des »und« abgestellt wird, also auf die Insistenz von Konjunktionen, und dies führt uns hin zu einer offenen technischen Struktur, in der sich das technische Objekt als ein »Zwischen« je schon mit einer gewissen Verspätung anzeigt sowie als eine unerschöpfliche Reserve des technischen Mediums selbst.

Der Auffassung von der Quantenphysik als einer Ontologie von Objekten will Ladyman nachweisen, dass sie (metaphysisch) unter-determiniert ist. (Ladyman/Ross: 2007) Es lässt sich nämlich nicht sagen, ob Objekte Individuen sind oder nicht. Einerseits können mikrophysikalische Systeme Individuen sein, insofern Eigenschaften immer die von eigenschaftslosen Systemen sind. Verschränkte Systeme derselben Art können Individuen sein, die sich zwar nicht hinsichtlich ihrer Eigenschaften unterscheiden, wobei ihre jeweilige Identität jedoch etwas ist, das über diese Eigenschaften hinausgeht. Andererseits ist ein System nicht mehr als ein Bündel seiner Eigenschaften. Wenn man Individualität in diesem Sinne versteht, dann sind verschränkte Systeme derselben Art keine Individuen. Denn einerseits unterscheiden sie sich nicht durch ihre zeitunabhängigen Eigenschaften wie Masse und Ladung. Andererseits unterscheiden sie sich aber auch nicht durch ihre zeitabhängigen Eigenschaften wie den Spin. Teilsysteme, die verschränkt sind, besitzen keine Spin-Eigenschaften unabhängig voneinander.

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