BRICS-Staaten und multipOlare Weltordnung

Auf dem Gipfel der BRICS-Staaten in Südafrika wurde festgelegt, dass zu den fünf ursprünglichen BRICS-Mitgliedern – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – im nächsten Jahr Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, der Iran, Äthiopien und Argentinien ghinzukommen. Auffallend ist hier die Ausrichtung auf den Nahen und Mittleren Osten. Ägypten, Iran und Saudi-Arabien sind politische, militärische, wirtschaftliche und kulturelle Machtzentren in Regionen, die auf dem internationalen geopolitischen Schachbrett ebenso unbeständig wie wichtig sind. Der Zusammenschluss von zwei der weltweit größten Ölproduzenten – Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate – bedeutet, dass auf die BRICS-Mitglieder mehr als 40 % der weltweiten Ölproduktion entfallen werden. Die Tatsache, dass zwei der treuesten Verbündeten Amerikas am Persischen Golf beschlossen haben, einem von China geführten (und zunehmend politisierten) Bündnis beizutreten, veranschaulicht einen sich vollziehenden Paradigmenwechsel. In den 1970er Jahren vereinbarte Saudi-Arabien mit den USA, sein Öl auf dem Weltmarkt in Dollar zu notieren; die Dollar, die Saudi-Arabien für seine Ölverkäufe erhielt – die so genannten Petrodollars – flossen in Form von Einlagen und Käufen von US-Staatsanleihen wieder in die USA zurück. In Verbindung mit der Tatsache, dass jedes Land, das Öl kaufen will, dazu Dollar kaufen muss, hat dies den USA jahrzehntelang ein massives Handelsdefizit ermöglicht, ohne dass der Dollar an Wert verloren hat. Der Dollar war einer der Grundpfeiler der globalen Hegemonie Amerikas in der Nachkriegszeit, der es Washington ermöglichte, ein Regime ständiger Kriege aufrechtzuerhalten und darüber hinaus die finanzielle Vorherrschaft über einen Großteil der Welt auszuüben.

Die neuen BRICS-Staaten werden 46 Prozent der Weltbevölkerung stellen und 37 Prozent des weltweiten BIPs. Die G7-Länder insgesamt tragen etwa so viel zur weltweiten Produktion des verarbeitenden Gewerbes bei wie China allein. Da höhere Wachstumsraten der BRICS-Staaten als bei denen des Westens prognostiziert werden und wahrscheinlich noch mehr Länder beitreten werden, könnten die Zahlen sich noch weiter zugunsten der BRICS verändern. Berichten zufolge haben mehr als 40 Länder ihr Interesse an einem Beitritt bekundet, und 22 von ihnen haben bereits einen formellen Aufnahmeantrag gestellt.

Innerhalb der BRICS ist wirtschaftlich bisher China (mit einem Anteil von 17,6 Prozent am weltweiten BIP) führend, gefolgt von Indien mit großem Abstand (7 Prozent), während Russland (3,1 Prozent), Brasilien (2,4 Prozent) und Südafrika (0,6 Prozent) zusammen nur 6,1 Prozent des weltweiten BIP ausmachen. Es handelt sich also schon beim alten BRICS-Staatenkomplex keineswegs um eine gleichmäßig verteilte Wirtschaftsmacht. Während die chinesische Staatsökonomie durch neue Krisentendenzen gekennzeichnet ist (Immobilienblase, Überschuldung, Deflation, US-Sanktionen, Investorenflucht etc.), scheint die russische Wirtschaft derzeit stabil zu sein. Allerdings ist der militärisch-industrielle Komplex der einzige inter­national konkurrenzfähigen Industriezweig Russlands. Der Krieg in der Ukraine wirkt als eine Art Konjunkturprogramm, mit dem sich auch die Nachfrage nach Arbeitskräften ausweitet, wobei das Angebot aufgrund des Krieges und der Flucht vieler Arbeitskräfte knapp ist. Zudem bringt die hohe Nachfrage nach Rohstoffen, Energieträgern, Nahrungsmitteln und Dünger auf dem Weltmarkt Deviseneinnahmen. Allerdings haben wir es auch mit einer Talfahrt des Rubels zu tun, als 2022 Sanktionsregelungen in Kraft traten – das EU-Ölembargo und die von der (G7) im Dezember 2022 verhängte Ölpreisobergrenze. Direkte europäische Käufe von russischem Öl wurden gestoppt, und Russland akzeptiert hohe Preisnachlässe für den Verkauf von Öl über Terminals in der Ostsee und im Schwarzen Meer, die früher europäische Käufer belieferten. Dies hat zur Folge, dass die Preisobergrenze, die Teil der Sanktionen ist, an Bedeutung verliert. Da die Preise an den Terminals in der Nähe Europas deutlich unter 60 $ pro Barrel liegen, können die Anbieter von Schifffahrtsdiensten aus der G7/EU, darunter Schiffseigner und Versicherungsgesellschaften, weiterhin aktiv am russischen Handel teilnehmen und Öl an nichteuropäische Kunden liefern. Russland findet zahlreiche Möglichkeiten, die Sanktionen zu unterlaufen, aber die Auswirkungen auf seine Öleinnahmen sind gravierend, was sich din der Handelsbilanz und auf den Devisenmärkten bemerkbar macht. Die Preisnachlässe für russisches Öl haben zu einem erheblichen Rückgang der Exporterlöse geführt. All dies hätte sich nicht auf Russlands Leistungsbilanz oder den Wechselkurs auswirken müssen, wenn sich die Importe in gleicher Weise angepasst hätten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Importe haben sich stark erholt, sodass der russische Handelsbilanzüberschuss – der Überschuss der Exporte gegenüber den Importen – von 124 Mrd. USD im Zeitraum Januar-Mai 2022 auf 23 Mrd. USD im gleichen Zeitraum 2023 zurückging.

Nicht nur der Export und Vertrieb von Energieträgern wie Gas und Öl, sondern auch der Export von Grundnahrungsmitteln wird von Russland als geopolitische Strategie eingesetzt. Getreide und Rohstoffe könnten angesichts der Klimakrise die Funktion einnehmen, die die fossilen Energien bislang innehatten.

Es wird erwartet, dass das diesjährige El-Niño-Wetterereignis die Auswirkungen des indischen Reis-Exportverbots und des Ausstiegs Russlands aus dem Schwarzmeer-Getreideabkommen auf die weltweiten Lebensmittelpreise verstärkt und die Inflation in den Schwellenländern anheizen könnte. Das Wetter-Phänomen unterbricht in der Regel die Erntezyklen und dürfte die weltweite Nahrungsmittelproduktion und die Preise weiter belasten, nachdem schwere Regenfälle Indien gezwungen haben, die Ausfuhr von weißem Nicht-Basmati-Reis zu verbieten, und Russland die ukrainischen Getreideterminals bombardiert hat. Zusammengenommen könnten diese Ereignisse die Inflationserwartungen der Haushalte in den ärmeren Ländern in die Höhe treiben, wo Lebensmittel in der Regel etwa 30 Prozent der typischen Ausgaben für Konsumgüter und Dienstleistungen ausmachen – doppelt so viel wie in den Industrieländern. Die Auswirkungen eines großen El Niño auf die globale Inflation könnten sogar über die Nahrungsmittel hinausgehen.

Russlands Krieg in der Ukraine, die damit verbundenen Sanktionen, die Verschiebung der globalen Machtverhältnisse, die Vormachtstellung des US-Dollars im globalen Finanz-, Handels- und Kreditwesen und der technologische Wettbewerb mit China lassen Moskau und Peking in dem Glauben, mit einer Erweiterung der Mitgliedschaften die Sanktionen besser umgehen zu können.

Es ist kein Zufall, dass die meisten Länder im globalen Süden sich nicht den Sanktionen des Westens gegen Russland angeschlossen haben, sondern begannen, ihre Beziehungen zu Russland und China zu verstärken, um ihre Abhängigkeit vom Dollar-System zu verringern.  Die Entdollarisierung hat viele Formen, aber drei sind besonders leicht zu erkennen: die Abwicklung internationaler Transaktionen in anderen Währungen als dem Dollar, vor allem dem chinesischen Yuan, die Verringerung des Anteils des Dollars an den weltweiten Devisenreserven und der Rückgang der ausländischen Bestände an US-Staatsanleihen.

Im internationalen Zahlungsverkehr hat die Rolle des Yuan (und anderer Währungen) im vergangenen Jahr einen Aufschwung erfahren. Das offensichtlichste Beispiel ist Russland, das durch die westlichen Sanktionen praktisch gezwungen wurde, den Yuan für die meisten seiner internationalen Transaktionen zu verwenden. Aber auch mehrere andere große Länder – darunter Brasilien, Argentinien, Pakistan und Bangladesch – haben bereits der Verwendung des Yuan oder ihrer eigenen Währungen für die Abwicklung ihrer internationalen Transaktionen zugestimmt (oder verhandeln gerade darüber).

Betrachtet man die Zusammensetzung der globalen Währungsreserven, so ist die Verschiebung hin zu einer Entdollarisierung nicht offensichtlich. Der US-Dollar dominiert mit einem Anteil von rund 60% an den weltweiten Währungsreserven immer noch, während der Yuan weniger als 3% ausmacht. Den aktuellen Trends zufolge schrumpft jedoch der Anteil des Dollars an den Reservewährungen mit dem 10-fachen der durchschnittlichen Geschwindigkeit der letzten zwei Jahrzehnte. Skeptiker argumentieren aber weiterhin, dass es unüberwindbare technische und institutionelle Hindernisse für den Niedergang des Dollars gibt. Sie weisen zum Beispiel darauf hin, dass es Größenvorteile gibt, die zu einem relativen Monopol beim Reservewährungsstatus führen, und dass der chinesische Yuan nur dann eine echte Reservewährung werden kann, wenn die Kapitalverkehrskontrollen abgeschafft werden und der Wechselkurs flexibler gestaltet wird.

Die Chinesen und Inder haben sehr strenge Devisenkontrollen, und die werden sie nicht aufgeben wollen. Der Yuan und die Rupie, zusammen mit dem schwachen Rubel – diese Währungen können nicht ohne Weiteres die Basis für eine Herausforderung des US-Dollars sein, selbst im Fall einer Cyberwährung oder einer goldgedeckten Zentralbank oder irgendeiner anderen Innovation nicht. Es wird nur mehr Handelsfinanzierung angekündigt, so wie es Indien mit Russland gemacht hat. Das große wirtschaftliche Problem bleiben weiterhin die Ungleichgewichte im Handel innerhalb der BRICS-Staaten.

Zudem liegen die BRICS-Länder in nominalen Dollarbeträgen immer noch weit hinter der G7 zurück. Zusammengenommen hatten die BRICS-Länder im Jahr 2022 ein BIP von 26 Billionen USD, was in etwa dem der USA allein entspricht.  Etwa die Hälfte des gesamten Welthandels wird in Dollar fakturiert, und dieser Anteil hat sich kaum verändert.  Der USD war an fast 90 % der weltweiten Devisentransaktionen beteiligt und ist damit die meistgehandelte Währung auf dem Devisenmarkt.  Etwa die Hälfte aller grenzüberschreitenden Kredite, internationalen Schuldverschreibungen und Handelsrechnungen lauten auf US-Dollar, während rund 40 Prozent der SWIFT-Nachrichten und 60 Prozent der weltweiten Devisenreserven auf den Dollar lauten. Der chinesische Yuan gewinnt dennoch weiterhin allmählich an Wert, und der Anteil des Renminbi am weltweiten Devisenumsatz ist von weniger als 1 % vor 20 Jahren auf heute mehr als 7 % gestiegen.

Es gilt jedoch zu beachten, dass der Prozess der Entdollarisierung in erster Linie geopolitischer und nicht wirtschaftlicher Natur ist. Es geht nicht nur darum, ein „effizientes“ System zu finden, sondern darum, die westliche Währungshegemonie herauszufordern. Außerdem bedeutet die Entdollarisierung nicht notwendigerweise die Ersetzung des Dollars durch den Yuan, sondern die Verteilung der Währungsreserven auf mehrere großen Währungen und andere Vermögenswerte, etwa Rohstoffe wie Gold. Für einige Staaten stellen die BRICS einen “geopolitischen Schirm” dar, der angeblich ein gewisses Maß an Schutz vor der aggressiven Außenpolitik des Westens bietet, die in der “dualen Eindämmungsstrategie” der Biden-Administration gegen China und Russland sowie in der Ausweitung der Nato und Nato-ähnlicher Bündnisse auf der ganzen Welt zum Ausdruck kommt. Andere Staaten könnten die BRICS als einen Ort betrachten, an dem Nationen, die nicht an einer Teilnahme am neuen Kalten Krieg oder sogar an einem möglichen heißen Krieg zwischen den Supermächten interessiert sind, sich nicht für eine Seite entscheiden müssen. Für andere wiederum ist die Motivation eher ideologischer Natur: Es geht darum, die 500 Jahre alte Vorherrschaft des Westens in globalen Angelegenheiten in Frage zu stellen und zu schwächen.

Wenn die BRICS auch keine Alternative zum globalen Kapitalismus und der Vorherrschaft des transnationalen Kapitals darstellen, so signalisieren sie doch den Wandel hin zu einem multipolaren zwischenstaatlichen System innerhalb der globalen kapitalistischen Ordnung.  Aber ein solches multipolares System bleibt Teil eines globalen kapitalistischen Weltmarktes, in der die BRICS-Kapitalisten und -Staaten ebenso die Kontrolle und Ausbeutung der globalen Arbeiterklassen betreiben wie ihre Pendants aus dem Norden.

Die antiimperialistische Linke bejubelt die BRICS als eine südliche Herausforderung für den globalen Kapitalismus. Eine solche Behauptung kann man nur aufstellen, wenn Kapitalismus und Imperialismus auf die westliche Vormachtstellung im internationalen System reduziert werden.  Antiimperialismus ist aber nicht unbedingt Antikapitalismus. In der Blütezeit des Kolonialismus waren die lokalen herrschenden Klassen bestenfalls antiimperialistisch, aber nicht antikapitalistisch. Ihr Nationalismus verwischte die Klassen, indem er eine Identität der Interessen der Bürger eines bestimmten Landes proklamierte.  Dieser Nationalismus war insofern fortschrittlich, als alle Mitglieder des betreffenden Landes durch die koloniale Herrschaft, die von ihr auferlegten Kastensysteme und die Unterdrückung des einheimischen Kapitals unterdrückt wurden. Die Lage ist heute anders.

China ist für seine soft-imperiale Investitionspolitik in Afrika bekannt. Aber auch in Lateinamerika haben die chinesischen Banken mehr als 137 Milliarden Dollar an Krediten zur Finanzierung von Infrastruktur-, Energie- und Bergbauprojekten vergeben.  Eine Menschenrechtsgruppe untersuchte die chinesische Investitionspolitik in den verschiedenen Staaten. Dabei wurden Menschenrechtsverletzungen, die Vertreibung lokaler Gemeinschaften, Umweltzerstörung und gewaltsame Konflikte festgestellt, wo immer chinesische Investitionen in Minen und Megaprojekte getätigt wurden.  Befürworter der chinesischen Kreditvergabepraxis behaupten, dass sich diese Kredite von denen des Westens unterscheiden, weil sie nicht wie bei westlichen Kreditgebern an Bedingungen geknüpft sind.  Das ist nicht ganz richtig.  Aber selbst wenn es so wäre, welchen Unterschied macht das für Arbeiter, Bauern und indigene Gemeinschaften, die sich gegen die Ausbeutung und Umweltzerstörung wehren, die das chinesische Kapital in Zusammenarbeit mit transnationalen Investoren aus anderen Ländern und lokalen kapitalistischen Staaten betreibt?

Es geht nicht darum, dass chinesisches Kapital schlechter oder besser ist als Kapital aus anderen Ländern.  Kapital ist Kapital, ungeachtet der nationalen Identität oder ethnischen Zugehörigkeit seiner Träger.  Wenn jedoch ein westlicher kapitalistischer Staat und ein kapitalistischer Staat im globalen Süden zusammenarbeiten, um lokalen Gemeinschaften Megaprojekte aufzuzwingen oder die Ausbeutung durch transnationale Konzerne im Bergbau oder in der Industrie zu erleichtern, wird dies vom Imperialismus und den lokalen herrschenden Klassen als Ausbeutung verurteilt.  Wenn zwei kapitalistische Staaten aus dem globalen Süden für dieselben Megaprojekte und die Ausbeutung durch Unternehmen zusammenarbeiten, wird dies als fortschrittliche, antiimperialistische “Süd-Süd-Kooperation” und “entwicklungsfördernd” angepriesen.

Ein anderes Beispiel ist die neue BRICS-Entwicklungsbank, die von den Rating-Agenturen in New York bewertet wird. Diese erwarten, dass die Entwicklungsbank wie jede andere Bank handelt. Und tatsächlich hat sie sich im März letzten Jahres den Finanzsanktionen gegen Russland angeschlossen und diese fortgesetzt.

Der Weltmarkt ist durch die widersprüchliche Dynamik zwischen einer global integrierten Ökonomie und einem nationalstaatlichen System politischer Governance geprägt.  Die wirtschaftliche Globalisierung und die transnationale Integration des Kapitals verleihen dem globalen Kapitalismus einen zentripetalen Impuls, während die politische Fragmentierung einen starken zentripetalen Gegenimpuls erzeugt, der zu einer Eskalation der geopolitischen Konflikte führt.  Die Kluft zwischen der wirtschaftlichen Einheit des globalen Kapitals und dem politischen Wettbewerb zwischen den herrschenden Gruppen, die sich um Legitimität bemühen und verhindern müssen, dass die innere soziale Ordnung ihrer jeweiligen Nationen angesichts der eskalierenden Krise des globalen Kapitalismus zerbricht, wird größer. 

Man schaue sich kurz China an: Der Kapitalismus mit chinesischen Merkmalen hat den Aufstieg mächtiger chinesischer transnationaler Kapitalisten mit sich gebracht, die mit einer von der Reproduktion des Kapitals abhängigen staatlich-parteilichen Elite und konsumfreudigen Mittelschichten verschmolzen sind, angeheizt durch eine Welle primitiver Akkumulation auf dem Lande und der Ausbeutung von Hunderten Millionen chinesischer Arbeiter. Streiks und unabhängige Gewerkschaften sind in China nicht legal.  In dem Maße, wie die Arbeitskämpfe in dem Land weiter eskalieren, nimmt auch die staatliche Unterdrückung dieser Kämpfe zu.  Es stimmt jedoch, dass die staatskapitalistische Entwicklung in China Millionen von Menschen aus der extremen Armut befreit und zu einer raschen Industrialisierung, technischem Fortschritt und moderner Infrastruktur geführt hat. 

Das chinesische Modell stützt sich auf einen Komplex von staatlich-privaten Unternehmen, in denen das Privatkapital drei Fünftel der Produktion und vier Fünftel der städtischen Beschäftigung ausmacht.  China ist aber nicht den neoliberalen Weg zur transnationalen kapitalistischen Integration gegangen.  Der Staat spielt eine Schlüsselrolle im Finanzsystem, bei der Regulierung des Privatkapitals, bei den massiven öffentlichen Ausgaben, insbesondere für die Infrastruktur, und bei der Planung.  Dies mag ein anderes Modell der kapitalistischen Entwicklung sein als die westliche neoliberale Variante, aber es gehorcht immer noch den Gesetzen der Kapitalakkumulation.  Nach der Öffnung für den globalen Kapitalismus in den 1980er Jahren wurde China zu einem Markt für transnationale Unternehmen und zu einem Sammelbecken für überschüssiges akkumuliertes Kapital, das von einem riesigen Angebot an billigen Arbeitskräften profitieren konnte, die von einem Überwachungsstaat kontrolliert wurden.  Doch um die Jahrhundertwende wuchs der Druck, neben dem rasanten Aufbau des Immobiliensektors im eigenen Land Absatzmärkte im Ausland für das überschüssige chinesische Kapital zu finden, das in den Jahren der kapitalistischen Hochkonjunktur angesammelt worden war. Die Aufrechterhaltung dieser Entwicklung wurde nun auch von der Ausfuhr von Kapital ins Ausland abhängig.  In den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts stand China weltweit mit an der Spitze einer Welle ausländischer Direktinvestitionen, was die transnationale Integration des Kapitals vertiefte .  Zwischen 1991 und 2003 haben sich Chinas ausländische Direktinvestitionen verzehnfacht und sind dann von 2004 bis 2013 um das 13,7-fache gestiegen, von 45 Milliarden Dollar auf 613 Milliarden Dollar.  Im Jahr 2015 war China zum drittgrößten ausländischen Investor der Welt geworden.

Nach der Covid-19-Pandemie und der russischen Invasion der Ukraine, der globalen Inflation und der Reduktion des Wachstums im eigenen Land sind chinesische Banken bei der Vergabe von Krediten in den globalen Süden zurückhaltender geworden. Im Jahr 2022 sollen 60 Prozent der Kredite ausfallgefährdet gewesen sein, sodass China an über zwanzig Schuldnerländer Notkredite im Umfang von 240 Milliarden US-Dollar vergeben musste. Hierbei wird den Schuldnerstaaten zumeist nur ein Aufschub gewährt.

Die meisten dieser Refinanzierungskredite vergab die chinesische Zentralbank, die damit effektiv jene chinesischen Banken rettet, die die Kredite ursprünglich vergeben haben. Überbrückungskredite fließen vor allem an die Länder mit mittlerem Einkommen, da auf diese 80 Prozent des chinesischen Auslandskreditvolumens entfallen und sie damit Bilanzrisiken für chinesische Banken« darstellten. Länder mit niedrigem Einkommen hingegen erhielten kaum Krisenkredite.

Viele der ärmsten Länder in Afrika oder Asien griffen im Zuge des Quantitative Easing im Westen und der sprudelnden Liquidität zwischen den Jahren 2010 und 2020 auf  chinesische Kredite zurück, um damit Infrastrukturprojekte zu finanzieren, die derzeit oft stagnieren. Westliche Kreditgeber und Institutionen wie der IWF oder die Weltbank verweigern derzeit jedoch oft Notfallprogramme, da die Modali­täten der chinesischen Kreditprogramme nicht transparent seien.

Die antiimperialistische Linke ist heute zu einer Auffassung von Souveränität zurückgekehrt, die nicht die des Proletariats, sondern die der Eliten in den von ihnen verteidigten Ländern ist.  Die antikolonialen und antiimperialistischen Kämpfe des 20. Jahrhunderts verteidigten die nationale – nicht die staatliche – Souveränität angesichts der Einmischung der imperialistischen Mächte.   Staaten verdienen die Unterstützung der Linken in dem Maße, indem sie die Kämpfe des Proletariats und der Surplus- Bevölkerung vorantreiben.

Nicht alle kapitalistischen Staaten sind gleich, und es kommt auch darauf an, wer in der Regierung sitzt.  Aber eine “fortschrittliche” Regierung ist nicht gleich eine sozialistische und nicht unbedingt eine antiimperialistische Regierung.  Für die antiimperialistische Linke ist jedoch die Expansion des chinesischen, indischen oder brasilianischen Kapitals eine Art Befreiung vom Imperialismus.   Ein immer stärker integrierter globaler Kapitalismus ist weiterhin unvereinbar mit einer von den USA und dem Westen kontrollierten internationalen politischen Ordnung und Finanzarchitektur sowie mit einer ausschließlich auf den Dollar lautenden Weltwirtschaft.  Wir stehen zwar am Beginn einer radikalen Neukonfiguration der globalen geopolitischen Ordnungen, die von eskalierenden wirtschaftlichen Turbulenzen und politischem Chaos begleitet wird.  Doch die Krise der Hegemonie in der internationalen Ordnung findet innerhalb dieser integrierten Weltwirtschaft statt.  Der entstehende globale kapitalistische Pluralismus mag einen größeren Handlungsspielraum Kämpfe in der ganzen Welt bieten, aber eine politisch multipolare Welt bedeutet nicht, dass die neuen Pole des globalen Kapitalismus weniger die etablierten Zentren in Befreiungskämpfen ablösen.

Der etablierte Westen und die aufstrebenden Zentren bauen gerade in einer polyzentrischen Welt neue “Großmacht”-Tropen auf, insbesondere die des Nationalismus und die Nostalgie für eine mythologisierte “glorreiche Zivilisation”, die nun wiederhergestellt werden muss.  Die Spenglerschen Narrative unterscheiden sich von Land zu Land, je nach Geschichte und Kultur.  Die USA sind nach wie vor die führende imperialistische Macht und der Hauptschurke unter den konkurrierenden Kartellen krimineller Staaten.  Wir müssen Washington dafür verurteilen, dass es einen neuen Kalten Krieg angezettelt und Russland durch die aggressive NATO-Erweiterung zum Einmarsch in die Ukraine gedrängt hat.  Doch die antiimperialistische Linke besteht darauf, dass es nur einen einzigen Feind gibt, nämlich die USA und ihre Verbündeten.  Dies ist heute aber eine eher manichäische Erzählung vom “Westen und dem Rest”.

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