DER GESCHICHTE IN DEN NACKEN BEISSEN!

taken from bonutracks

Einige Überlegungen zur Bewegung gegen die Rentenreform

Über die Bewegung gegen die Rentenreform ist bereits viel gesagt worden. Eine Woche vor dem Schlüsseldatum 7. März in Paris nimmt sich dieser Text vor, von der Situation und nur von der Situation zu sprechen, von ihren Unwägbarkeiten und politischen blinden Flecken aus, bevor er eine Reihe strategischer Ansätze ableitet. Die Traurigkeit, der Feind, unsere Zeit, die Arbeit, die Revolution. Einen Schritt zurücktreten, nur um genügend Schwung zu bekommen. Und wenn die Kluft zwischen dem, was die Bewegung ist, und dem, was sie sein sollte, auf die kollektive Schwierigkeit zurückzuführen ist, in sie das zu projizieren, was heute politisch am dringendsten ist? Können wir noch länger warten, bevor wir die Fragen stellen, die unsere sind?

Die einzig vernünftige Idee ist die Revolution. Die oberste Priorität besteht heute darin, wieder von Revolution sprechen zu können, sie hörbar, sprechbar und durchführbar zu machen. Warum gelingt uns das nicht?

DIE GRENZEN DES FADO

Die Bewegung rund um die Renten kreist um den heißen Brei, weil eine ganze politische Generation um den heißen Brei kreist, an sich selbst vorüberzieht. Wir drehen uns im Kreis, trampeln im infra-politischen Bereich und verpassen ganz nebenbei unsere Schicksale. Wir kennen noch Freude und Rausch, aber dass sie der vergangenen Welt zuzuschreiben sind, löst sie sofort in Melancholie auf. Im Gegensatz dazu ist die Freude in ihrem lebendigsten Zustand wie eine Anzahlung, die von der Zukunft geleistet wird. UND ENTGEGEN ALLER ERWARTUNGEN HAT MAN EINE ZUKUNFT: WENN MAN DIESE WELT, DIE KEINE ZUKUNFT HAT, ABLEHNT. In der schwer ergründlichen Melancholie des Westens, im zeitgenössischen Soundtrack, vibriert das, was Fernando Pessoa im Fado hörte: „Es ist die Müdigkeit der kraftvollen Seele, der verächtliche Blick auf den Gott, an den wir geglaubt haben und der auch uns verlassen hat.“ Dieser Gott ist im enttäuschten Portugal von damals wie im enttäuschten Frankreich von heute die Zivilisation. Und unsere große Müdigkeit, selbst wenn sie ihrer selbst überdrüssig ist, ist immer nur die späteste Form der Hingabe, die man ihr entgegenbringt. Es ist höchste Zeit, der Religion der Konquistadoren den Wind aus den Segeln zu nehmen.

DIE IDEE DER REVOLUTION HAT SICH VERÄNDERT

Es ist nicht mehr die Revolution der Arbeit und der Arbeiter, die seinerzeit die bürgerliche Revolution stürzte. Der Feind ist immer noch da, aber es ist nicht mehr derselbe: Den Kapitalismus zu verunglimpfen klingt hohl, es fehlt das Wesentliche. „Der Kapitalismus und seine Welt“? Das ist immer noch verschwommen, vage, nebulös. Die Welt des Kapitalismus, aller Herrschaft, der Zerstörung der Natur, die sehr zeitgenössische, die sehr uralte Welt der Arbeit, der Identifikation, des Funktionierens, der Verwertung und der Kontrolle ist die ZIVILISATION. Im Gegensatz zu der Erfolgsgeschichte, die jedem kleinen Zivilisierten zum Einschlafen erzählt wird, ist die Zivilisation weder eine besondere Kultur noch eine historische Periode, die anderen überlegen ist, sondern nur die politische Logik, die sich durchgesetzt hat. Von daher bezeichnet Revolution nicht die Produktion einer besseren Gesellschaft, sondern das, was die hartnäckige Bewegung, sich der Produktion von Gesellschaft zu entziehen, freisetzt. Es geht nicht mehr darum, eine bestimmte Institution abzuschaffen. Es geht darum, die Logik der Institution selbst zu bekämpfen, die Umwandlung eines beliebigen Themas in einen Sektor der Gesellschaft und die damit einhergehende Steuerung: das Regieren, und zwar in einem stärkeren und zugleich erweiterten Sinn als dem gewöhnlichen.

Die Regierung bezieht sich weder auf die Amtszeit von soundso, noch auf die Nummerierung der Republik, noch auf einen Verwaltungsrat. Als eine Art strategischer Block mit variabler Geometrie ist sie nicht mehr und nicht weniger als die Verwaltung des institutionellen Portfolios in Echtzeit. Das Zentrum ist weder einzigartig noch starr (es gibt keinen „tiefen Staat“), und die Verzweigungen sind unendlich, zu denen auch die gewöhnliche Denunziation und die Wachsamkeit der Bürger zählen. Das Regieren hat die entfremdeten Sektoren als Grundlage und Ziel und besteht darin, die Ordnung, die Verteilung der Lasten, die Personalverteilung und die Logistik zu regeln. Auch wenn es durchaus Entscheidungen gibt – die Politik der massenhaften Einperrrungen im Lockdown ist das beste Beispiel dafür -, impliziert dies keineswegs einen einheitlichen, geordneten und kohärenten Regierungsapparat, sondern vielmehr ein permanentes Kräfteverhältnis zwischen den Akteuren (Staaten, Großkonzernen, technologischen Dispositiven …), zwischen Kampf um die Vormachtstellung und interessierter Verständigung.

Nein, die Revolution hat nicht das Ziel, das Leben zu regieren, sondern jede Regierung zu zerstören. Genau in diesem Geist, mit den Mitteln, die sie für sich entdeckt (und nicht nur irgendwelche), muss man überall das demokratische Monopol angreifen, das nichts anderes als die moderne Regierungspolitik ist. Um es ganz klar zu sagen: Wir müssen es aufgeben, den Umkehrpunkt in einer Neuinterpretation der demokratischen Idee zu suchen, so wie wir es eines Tages aufgeben mussten, ihn aus der Heiligen Schrift zu ziehen. Die Demokratie ist zwar ein Vorwand für alle möglichen Hybridisierungen (heilige Kühe und vernetzte Städte in Indien, Neoliberalismus und Islam in der Türkei, Selbstverherrlichung und Polarisierung in Frankreich), aber sie ist kein inkonsistentes Modell. Vielmehr bezieht sie ihre einzige Kohärenz aus ihrer konterrevolutionären Bestimmung – die genau die heute so massive Überschneidung von Liberalismus und Autoritarismus ist. Sowohl das iranische als auch das französische Regime wollen das Scheitern der iranischen Revolution, sie unterscheiden sich nur in den Mitteln, mit denen sie dieses Ziel erreichen wollen. Die demokratische Hegemonie, ihre Beschlagnahmung der Politik, fasst allein die revolutionäre Sackgasse unserer Zeit zusammen. Denn sie begnügt sich nicht damit, jede einigermaßen konsequente radikale Opposition von außen anzugreifen (Repression), sondern greift sie auch von innen an, indem sie ihre spiegelbildlichen Entscheidungen aufzwingt. Sie verurteilt sie entweder dazu, die demokratische Logik zu überbieten, royalistischer als der König zu sein (indem sie die „wahre“ der „falschen“ Demokratie gegenüberstellt), oder sich einer autoritären Logik hinzugeben (vom Dschihadismus bis zur strafenden Ökologie und den tausend und einer Variante der “Stal” Organisation). Ein Aufstand muss die ständige Erpressung, die psychologische Kriegsführung, ignorieren, die der Feind ihm gegenüber betreibt. Aber wie kann er den Leerlauf vermeiden? Sein politischer Sieg liegt in der Art und Weise, wie sein Antidemokratismus sich um jeden Preis in der Verneinung jeglicher Regierung verankert.

UNSERE ZEIT

Wie ist die allgemeine Lage? Was sind die neuen Bedingungen für politisches Handeln? Wo stehen wir?

1. Wenn die revolutionäre Option ins Stocken geraten zu sein scheint, liegt das daran, dass wir uns am Schnittpunkt zweier narrativer Bögen befinden, die sich beide in einem Moment niedriger Intensität befinden, der eine durch Niedergang, der andere durch Unreife. Der ältere entspricht grob dem marxistischen Zeitalter, der neugeborene der destituierenden Möglichkeit. Wenn Letzterer ein erstes Wort spricht, wird er von bösen Feen als „Avantgarde“ bezeichnet.

2. Die Epoche an sich führt nicht zur Revolution. Aber wenn ihrer Möglichkeit nichts Automatisches anhaftet, gibt es keine Fatalität, die sie verbietet, weder in der „politischen Sequenz“ (welche genau?) noch bei den „Menschen“. Es ist immer gut, sich daran zu erinnern. Es ist erstaunlich, wie alle, die kapitulieren, es nicht versäumen, sich auf die Tatsache zu berufen, dass „die Menschen sich nicht bewegen, weich, amorph, gefügig, in Bequemlichkeit verfallen sind”. Es geht nicht darum, zu hoffen, sondern eine Möglichkeit zu erkennen und sie nicht aufzugeben. Wie man sie erkennt, aufspürt, denkt, übersetzt, in Bewegung setzt, wie man sie lebt: Das ist die Frage.

3. Fast überall auf dem Globus wird die Möglichkeit des Aufstandes durch Tatsachen bewiesen. Und was ist letztlich eine Revolution anderes als der Aufstand, den man will? Dennoch ist die Schwelle, die es zu überschreiten gilt, gewaltig: Keine faktische Beweisführung reicht aus, sondern es muss eine neue Politisierung bewaffnet werden. Daran mangelt es im Allgemeinen (Gelbwesten, BLM, Hongkong, Iran…).

4. Es stimmt zwar, dass die feindliche Welt wie der Frosch in der Fabel ständig Anstrengungen unternimmt, um sich extrem auszudehnen, aber sie ist nicht die ganze Welt. Es ist immer gut, sich daran zu erinnern. Sie ist vielleicht massereicher, als man sich vorstellen konnte, aber sie ist keine konturlose Ansammlung von Nebelschwaden. In jeder Situation manifestiert sich die Regierung (in Taten, Worten, Offensichtlichkeit, Gewalt), und jedes Mal kann man ihrem Vormarsch entgegenwirken, fühlen, wollen, etwas anderes tun – oder sich für die Kapitulation entscheiden.

5. Die Regierung behauptet sich als eine Kraft der Besatzung, der Unterwerfung und der Kolonisierung. Analog zu den Beispielen, die uns die Geschichte liefert, ist sie nicht mit ihnen identisch und wird nicht immer auf die gleiche Weise bekämpft. Es geht darum, wieder zu lernen, die politischen Hebel in der Situation zu erkennen. Aber nur weil der Feind überall ist, heißt das nicht, dass wir nirgendwo anfangen müssen. Vielmehr befreit es von der Möglichkeit, überall anzufangen, während es die Versuchung der Selbstgenügsamkeit, des Rückzugs auf ein separates Territorium, eine Hypothese oder ein Gemeinsames vergeblich macht.

6. Der Feind ist anonym, weil dies das Merkmal jeder politischen Position ist, und nicht, weil er unantastbar wäre. Einerseits übertrifft die Position des Feindes die Positionen sämtlicher seiner menschlichen und materiellen Agenten, andererseits würde sie sich auf eine reine Hypothese reduzieren ohne Entscheidungen und Parteinahmen, die diese aktivieren, stützen und reaktivieren. Wir müssen unsere Einstellungen ändern, mehr noch als unsere Lebensweise. Die Bewegung um die Rente als Teil des auslaufenden Zyklus zeugt von einer offensichtlichen Schwäche, die bereits eine Ermutigung darstellt, den Tisch umzudrehen.

7. Der Niedergang der marxistischen Hypothese ist auch der Niedergang jedes revolutionären Subjekts, dieser unglücklichen Mischung aus Messianismus und Soziologie. Beginnen wir also mit der Feststellung: Es gibt kein verfügbares Wir, das den Zweck erfüllt. Nur aus dieser Wiedereröffnung heraus kann wieder etwas entstehen.

8. Alle Aufstände richten sich gegen die zentralen Institutionen, die ihnen gegenüberstehen. Ein Schritt weiter und man entdeckt eine gemeinsame Sollbruchstelle: den Hass auf die Institution. Überall durch die Mechanismen der sozialen Anpassung verdrängt, ist dieser Affekt eine Bombe. Der Hass auf die Institution muss entfesselt werden. Aber wie soll das gehen? Zunächst einmal ist es schwierig, den Kern der Bewegung in Ruhe zu lassen, der sie dazu bestimmt, nur ein Instrument der sozialen Reproduktion zu sein.

DEN WIDERSPRUCH AUSTRAGEN

Die Bewegung rund um die Renten hat einen zentralen – und sogar entscheidenden – Widerspruch, auf den einige bereits zu Recht hingewiesen haben: Sie ist labouristisch. Labourismus ist die soziale Unmöglichkeit, aus dem Kontext der Arbeit auszubrechen, die Dominanz ihres unpolitischen Ansatzes. Durch ein gewohntes Paradoxon wird das wirklich Politische an der Arbeit in ihrem offensichtlichen, allgegenwärtigen, kurz: hegemonialen Charakter verborgen. Die „emanzipatorischste“ Verteidigung der Arbeit ist von vornherein durch die Tatsache verdorben, dass wir alle mehr oder weniger korrupte Angestellte dieses Modells sind! Der Interessenkonflikt ist planetarisch, anthropologisch! Die sozialen (seinen Platz finden) und wirtschaftlichen (gegen eine Entschädigung an der gemeinsamen Anstrengung teilnehmen) Definitionen lenken von der grundlegenden Operation ab: die Versklavung zu garantieren. Es ist nicht nötig, weiter nach der politischen Bedeutung von Arbeit und Produktion zu suchen. Eine Übertreibung der Partisanen?

Wenn es stimmt, dass moderne Arbeit keine Sklaverei ist, bleibt das Paradigma in beiden Fällen unverändert. Unsere moderne Erziehung bringt uns lediglich dazu, ihrer Andersartigkeit mehr Bedeutung beizumessen als ihrer Identität (eine Tendenz, die sich beim ersten Aufkeimen einer Revolte umkehrt). Alles scheint von einer vorhandenen Fähigkeit abzuhängen, die eigene Lage zu politisieren oder zu entpolitisieren. Wenn ich von einem Tag auf den anderen versklavt werde, werde ich mich nicht darauf beschränken, zu sagen: Das ist mein Platz in der Gesellschaft („Dieser oder ein anderer…“), das ist mein Beitrag zu den kollektiven Anstrengungen („Man muss doch seinen Teil als kleiner Kolibri leisten“). Wo in der Sklaverei (rückblickend betrachtet) das Machtverhältnis sofort sichtbar wird, schreibt sich die moderne Arbeit in goldenen Lettern in die große Erzählung der fortschreitenden Menschheit ein. Sie ist eine universelle Notwendigkeit. Man wagt es nicht, sie zu denken, sich die Welt ohne sie vorzustellen, und die Zwänge, die sie mit sich bringt, werden durch eine materielle, symbolische und psychologische Entschädigung, durch einen Gewinn an Sozialisierung ausgeglichen. In der freiesten und demokratischsten Gesellschaft ist er jedoch ein seltsames Bollwerk der Autorität (wagen Sie es, über die Linie des Managements zu diskutieren). Über das Klassenverhältnis hinaus ist Arbeit ein Pflichtverhältnis, nicht mehr und nicht weniger. Man kann nicht wählen, ob man arbeitet, da man gesellschaftlich nicht die Wahl hat, nicht zu arbeiten.

Versklavung garantieren, das Leben regieren, (bis hin zu unserer Wahrnehmung) einfangen, um Wert abzuschöpfen… Sobald man den Denkrahmen erweitert, erscheint die Arbeit nicht mehr als bloßes Überleben, als Anomalie, sondern als Beweis dafür, dass sich nichts grundlegend geändert hat, seit die Geschichte Geschichte ist. Sie ist kein Anachronismus, sondern Kontinuität. Sie ist keine unerklärliche Insel, sondern eine Erklärung der Gesellschaft, der gegenwärtigen Vergangenheit oder der Zukunft. Arbeit ist die Produktion von Gesellschaft, Social Engineering. Wenn die Künstliche Intelligenz einen immer größeren Anteil daran hat, dann deshalb, weil sie in gewisser Weise von Anfang an vorhanden war. Wir müssen nicht erst einen Roboter als Offizier sehen, um uns bewusst zu werden, dass wir das alles nicht verstehen. Wenn Lewis Mumford die Erfindung der Maschine auf den Bau der Pyramiden datiert, stellt er fest, dass die ersten Zahnräder menschlich waren. Man kann es nicht oft genug sagen: Was auf dem Spiel steht, ist ein politisches Verhältnis, und nur wenn man es angreift, kann man die materiellen Konfigurationen, die es vorgibt, auflösen. Es ist im Übrigen nicht besonders mysteriös.

Das Mantra von der Notwendigkeit der Arbeit – „Man muss arbeiten / man muss leben“ -, die klebrige Symbiose von Leben und Arbeit, verhüllt die instrumentelle Beziehung zur Natur wie ein heiliger Schleier. Das gesamte Produktionssystem beruht auf der Autonomisierung der menschlichen Sphäre, die alles andere so behandelt, wie es ihr gefällt. Wir leben heute mitten in den Folgen dieser Reduzierung des Nichtmenschlichen auf „alles andere“. Letztendlich findet sich der Mensch in einer doppelten historischen Mission gefesselt. Auf der einen Seite die instrumentelle Beziehung als politische Grundlage aufrechtzuerhalten, als Produzent zu leben, an einer abwegigen Form der Subjektivität teilzuhaben, nämlich der des Zahnrads, des Subjekt-Objekts. Auf der anderen Seite soll die menschliche Vorherrschaft gesichert werden: den „Menschen“ produzieren. James Baldwin: „Ich traf [meine Freunde], (…) verloren und unfähig zu sagen, was sie unterdrückte, außer dass sie wussten, dass es „der Mann“ war, der weiße Mann. Und es gab scheinbar keinen Weg auf der Welt, diese Wolke zu vertreiben, die zwischen ihnen und der Sonne, zwischen ihnen und der Liebe und dem Leben und der Stärke, zwischen ihnen und dem, was sie wollten, was auch immer das war, platziert war.“ [2].

Um den Menschen zu produzieren, diesen zunächst leeren, Angst einflößenden Signifikanten, um ihn zur Achse der Welt zu machen, muss man ein ganzes, wohlbekanntes Spiel von Oppositionen durchlaufen: Man produziert/trennt seine Gegenfiguren, seine Nutznießer, seine Untergebenen, seine Repoussoirs – Schwarze, Frauen, Arme, Kinder, Barbaren, Homosexuelle, Transgender, Behinderte – schließlich all jene, die man sich anschickt, für seine alleinige Erhöhung unterwerfen zu wollen. Die Herstellung des Menschen läuft auf die Erfindung der Herrschaft hinaus. Das ist die Religion der Aufklärung mit ihrem Versprechen der Emanzipation. Die Revolution ist nicht mehr die des Humanismus.

Im Gegensatz zum veralteten Begriff der „Konsumgesellschaft“ gibt die Gleichung Gesellschaft = Produktion endlich einen vollständigen Überblick über das, was es zu zerstören gilt. Man will sich nicht länger weder zum Komplizen noch zum Opfer des Zivilisationswerks machen. Der Produzent ist gleichzeitig der universelle Aneigner, der Vektor der Herrschaft, der Zerstörer von Bedeutungen und der Objekt-Mensch (der Extraktivismus untergräbt in erster Linie den Menschen). In den unendlich vielen Sphären sozialer Aktivität ist der Arbeitsplatz jedes Mal derselbe: die Institution, mit anderen Worten, überall dort, wo der Rahmen der Praxis aufgezwungen wird, wo die Bedeutung dessen, was man tut, konfisziert wird. Die Logik der Institution verschmutzt jede noch so kleine Frage, die sich im Leben, im Einzelnen wie im Kollektiv, stellen kann. Ihre Ablehnung wirft uns mit einem Schlag in eine explosive Vorstellung von Politik. Es ist ein bisschen spät, von der Abschaffung der Unternehmerschaft zu sprechen, wenn jeder zur N+1 von jedem wird. Wir wollen nicht, dass eine Klasse eine andere stürzt, sondern die Klassenherrschaft und mit ihr alle anderen zerstören. Wir wollen nicht, dass die Welt ihre Basis verändert, wir wollen die Pyramide zerstören. Wir wollen nicht nur aus der kleinen, undankbaren Rolle, die uns heute zufällt, herauskommen, wir wollen auf einen Schlag alle Posten verlassen und nennen das richtige Tempo für ihre Zerstörung Strategie!

STRATEGISCHER MERKZETTEL 

„Nein, aber haben Sie gesehen, wie teuer ein Molotowcocktail ist?“ So weit die Bewegung um die Renten auch vom Ziel entfernt ist, ein Aufstand bleibt auf der Tagesordnung. Was unterscheidet ihn von einer sozialen Bewegung? Der Wille, gefährlich zu werden. Die Fähigkeit zu nehmen statt zu betteln. Zu wissen, was man will, anstatt darauf zu warten, dass man es gelehrt bekommt. Wenn man sich mit der Bewegung in ihrem Zustand, mit der am besten passenden Tagesordnung arrangiert, ist man bereits bereit, um Erlaubnis zu bitten. Im Grunde geht es heute wieder und wieder um die Gelbwesten, die Gründe für das Scheitern, die Erinnerung an die Stärke, die Lektionen, über die man nachgedacht hat und die man sich eingeprägt hat. Hier die allgemeinste: Man sollte nicht von dem ausgehen, was da ist, sondern von dem, was fehlt. Man könnte genauso gut die Liste der Grundzutaten für einen Aufstand vor Augen haben, die verschiedenen Möglichkeiten, den Wolf wieder in den Schafstall zu bringen.

1. „Frankreich zum Stillstand bringen“. Alles ist eine Frage der Definition. Wenn der Streik ein Mittel zum Zählen von Vieh ist, nein. [3]

Wenn das Projekt darin besteht, die Produktion Frankreichs einzustellen, dann ist das etwas anderes. Das ist der Anfang und das ultimative Ziel! Im Zentrum stehen nicht mehr die Arbeiter, sondern der Wille, das Spiel nicht mehr mitzuspielen. Eine gewaltige Frage, die niemandem gehört, unendliche Dynamik: Wie und in welchem Tempo soll alles gestoppt werden? Wie man sich auf der Grundlage der Abschaffung der Gesellschaftsordnung organisieren kann.

2. Einsatz von politischer Gewalt. Die Generation an der Macht weiß, dass sie die letzte in einer langen Reihe von Petrodemokraten ist, und will dies bis zum Ende ausnutzen. Selbst große Reformisten sind sich einig, dass sich die Dinge nicht mit pazifistischen Mitteln bewegen werden (beim nächsten Tsunami wird man sich an das „vor allem keine Wellen“ einiger Leute erinnern). Welches Kräfteverhältnis auf der Straße? Wie kann man die Initiative behalten? Wie kann man die gewerkschaftlich-polizeilichen Techniken zur Eindämmung der praktischen Wut entkräften? Diese Fragen stellen sich seit 2016, seit 2006 und so weiter. Hat das Lager der Krawallmacher ein kurzes Gedächtnis? Es ist so, dass eine Praxis nicht ausreicht, um ein Lager zu bilden. Zweitens spielt es keine Rolle, wie jung jemand ist: Das Gedächtnis gehört denjenigen, die sich zum Handeln bereit erklären. Sie entwickeln Reflexe, die aus einer Geschichte stammen, die sie nicht kennen. Wenn man die Möglichkeit einer neuen revolutionären Generation ernst nimmt, erhält der Kampf auf der Straße die Bedeutung, die ihm zukommt: nie ausreichend, immer notwendig. Wir wissen, dass ein guter Zug zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich war, dass er sogar zur Gewohnheit wurde, und die revisionistischen Diskurse rutschen an uns ab. Im Allgemeinen sollten wir uns weiterhin von vergangenen Ereignissen erzählen, denn sie verstärken das, was uns am meisten interessiert und anspornt: die gegenwärtige Gelegenheit. Vielleicht finden wir darin die Energie, uns das zurückzuholen, was uns jeden Tag genommen wird: unsere Erfahrung, die Fähigkeit, eine Geschichte zu haben. Was am meisten zählt, ist beim cortège de tête und seinem Auftauchen im Jahr 2016 die Kontinuität zwischen dem grundlegenden Impuls und der wiederholten Praxis. Aus einer Mischung aus Langeweile, Stolz, Abscheu vor dem allgemeinen Gewerkschaftsmodus und Kribbeln in den Beinen überkam uns die Lust, nach vorne zu gehen – die Lust, die Bullen anzugreifen, natürlich. Seitdem ist einiges passiert, darunter unbestreitbare Rückschläge, aber wir glauben nicht an irgendeine unabänderliche Linearität. Wir wollen nur sagen, dass sich alles wieder vereinfacht, wenn der Schwung wieder da ist, wenn die Entschlossenheit einiger weniger und einiger anderer da ist. Um auf die aktuelle Situation zurückzukommen: Wie kann man politisch einen Demonstrationszug gegen die Arbeit vergrößern? Wie kann die Repression, die auf alle Besetzungsversuche niederprasselt, endlich angemessen bekämpft werden?

3. Hauptquartiere für die Bewegung. Wenn es noch eines Beweises für die strategische Notwendigkeit bedürfte, würde ihre systematische Unterdrückung ausreichen (Condorcet und Tolbiac in Paris, Maison du peuple in Rennes…). Politik ist eine Sache der Präsenz. Das ist die Lektion der Kreisverkehre und auch die des Einschließens während des Lockdowns. Wenn das Herz der Bewegung zur einen oder anderen E-Mail-Plattform wird, verwandelt sie sich in eine Tele-Bewegung. Umgekehrt, wenn man irgendwo drei Tage lang besetzt, können entscheidende Verbindungen geknüpft, unaufhaltsame Dynamiken in Gang gesetzt und gefährliche Ideen verbreitet werden. Es kommt also zu einer ersten großen Schlacht um einen zentralen Ort. Die Spaltung, insbesondere zwischen „Arbeitern und Studenten“, muss um jeden Preis durchbrochen werden. Das geht nicht über die Konvergenz der Kämpfe, sondern über die Abkopplung der einen und der anderen: Geschmack an der Überraschung, Parteinahme für das Ereignis, Weigerung, sich am Zugang einschüchtern zu lassen (ein Vorteil der besetzten Plätze: niemand am Eingang). Es ist keine Selbstverleugnung, wenn man über seine soziale Identität lacht, da man sich über alle lustig macht. Im Gegenteil, der Aktivist, der den Aktivisten spielt, wird schnell von Selbsthass befallen und beklagt öffentlich, dass er jeden Tag die gleichen Gesichter sieht.

4. Kunst der Entscheidungsfindung. Gemeinsam die Situation bewältigen. Nichts ist kollektiv galvanisierender als die Praxis der Entscheidung. Nichts ist schwächender, als daran gehindert oder davon abgelenkt zu werden. Ein Motto: Bedeutung vor allem anderen. Während der GJ spielte die Versammlung der Versammlungen eine aufstandsbekämpfende Rolle. Man hätte den ursprünglichen Geist, seine Entschlossenheit ohne Phrasen, nicht besser verraten können. Es muss gesagt werden, dass der Hass auf die Politik gleichzeitig die größte Stärke und die größte Schwäche der GJ ist. Auf der Grundlage der Überschreitungen in den ersten Wochen hätte sich eine andere Idee von Politik einen Platz erobern können. Stattdessen kam es zu einer Rückkehr der linken Protokolle. Heute sind die alten Politiker überall anzutreffen und verleihen allem den Anschein einer Restauration. Die Studentengewerkschaft, die Studentengewerkschaft der Redewendungen, der Tribünen, der ungenierten Manipulation, des „nur die Versammlung ist souverän“. (Ja, man kann auch ohne Rednerpult sprechen: Es ist weder ein Bordell noch ein Jahrmarkt der Großmäuler, und man hört sich selbst umso besser zu.) Von nun an ist keine Schlichtung mehr möglich: Wir müssen mit jeder autoritären oder antiautoritären Verhaltenssteuerung, jeder Institutionalisierung des Sprechens, und sei sie noch so trendy, brechen. Der Griff nach der Form der Diskussion selbst beeinträchtigt zu offensichtlich den Inhalt. Wenn sich Langeweile in der Versammlung breit macht, ist das nicht in erster Linie ein existenzielles Problem (aufgrund einer vagen situativen Moral), sondern ein politisches Symptom: Das Thema fehlt, und mit ihm jede Aufregung, weil einige es sich zum Beruf gemacht haben, es zu verschleiern. Zum Beispiel, indem sie den entscheidenden Punkt an das Ende der Debatte verlagern. Oder indem sie jede Sprachkraft unter der Frage begraben, wer spricht und wie man ihn identitär verorten kann.

5. Das aufständische Wir fällt nicht vom Himmel. Es wird nicht fantasiert: Es entsteht durch die gemeinsame Prüfung des Widerspruchs. Wenn es manchmal etwas zu entscheiden gibt, dann ist es vielleicht eine Kurve, die wir jetzt nehmen müssen. „Es ist gut, dass wir debattieren und uns streiten, aber wir müssen uns daran erinnern, dass der Feind nicht hier ist“, war auf einer Vollversammlung in Paris 8 zu hören. In einer Bewegung, die auf die Linie der CFDT eingeschworen ist, darf man das bezweifeln. Der Satz war als Ermutigung gedacht, aber er entmutigte etwas. Es entsteht kein aufständisches Wir, solange man nicht mit den Anhängern der Verhandlungen, des Abwartens, des Unionismus oder der dummen Abgrenzung brechen kann. Jüngste Figuren: der mitbestimmte Autonome, der flankierende Ultralinke, der reformistische Radikale.

6. Ein Wort, welches die Macht hat. Auch Wörter sind politische Mächte. „Durch ein Wort ist alles verloren. Durch ein Wort wird alles gerettet“, sagte André Breton. „Die Anrechnung von Studienjahren bei der Rentenberechnung“ wird abgelehnt. „Die Rente mit sechzig“ ist ein Schiffbruch. Verstehen Sie, das setzt voraus, dass man allem anderen zustimmen muss. Jedes Kalkulations-Wort, jedes Forderungs-Wort stürzt mit dem ganzen Gewicht der Institution auf uns herab. Alles, was dazu berufen ist, das bereits Dagewesene zu verdoppeln, ermüdet nicht nur jeden, sondern ist, wenn man darüber nachdenkt, sogar noch viel heftiger als das. Indem der muffige Slogan im Grundrauschen der Epoche untergeht, trägt er mit dazu bei, etwas zu verschweigen: das, was man jetzt sagen könnte, was man jetzt sagen sollte: WIE MAN DIE ARBEIT NIEDERLEGEN KANN. Die Parolen müssen etwas eröffnen, sich vor uns stellen, das ist das Spiel. Sie sind in der Form der Ablehnung zu formulieren. Es steht uns frei, sie zu verraten, indem wir sie ritualisieren, oder im Gegenteil, sie wortwörtlich nehmen. Die Affirmation ist die Geduld der Ablehnung, nicht ihre Überwindung.

7. Destitution überall. Überall, wo die Bewegung vorankommt, muss sie die institutionelle Logik zerstören, unaufhaltsam werden. Aber wie soll man weiter Boden gewinnen, wenn man keine Ahnung von dem grundlegenden Gegenmittel hat, von dem, was mit dem Rückzug der Arbeitswelt wächst? Wie soll man sonst den Ingenieuren der Politik widerstehen, all den Spezialisten und ihren schlüsselfertigen Gefängnisprojekten? Ein unlösbares Rätsel? Das Gegenteil von Arbeit ist nicht Faulheit, sondern eine andere Art, die Frage nach allem, was man im Leben tut, zu stellen. In jeder Praxis die Probe aufs Exempel machen zu können, was uns antreibt, den irreduziblen Sinn, den wir darin verfolgen, das ist es, was wir wollen. Es gibt keine Versicherungen oder Garantien, nur die Kraft, Probleme anzugehen, die unsere eigenen sind, und die Weigerung, darin einen Luxus zu sehen. Das Institutionelle besteht darin, uns davon abzulenken, indem es alles auf Überlegungen des Funktionierens, der Bewertung, der Kontrolle und der Identifikation zurückführt. Diese Bruchlinie verläuft durch jedes Wesen. „Wenn du die Quelle vergisst, die Gründe, warum du versuchst, Dinge zu tun, wirst du dich auf dem Weg durch das Labyrinth verlieren“, vertraute Nikos Aliagas den Journalisten von France Info am 21. Februar dieses Jahres an. Im nächsten Moment spuckte er die Elemente des gewöhnlichen Katechismus wieder aus: „Der Kult der Arbeit, ja.“

Eine ähnliche Bruchlinie verläuft, so könnte man sagen, bereits durch die Demonstration am 7. März in Paris.

Astronaut at riseup.net

Anmerkungen: 

[1] (fehlt im Text) Siehe dazu im Vorwort der Lundi Matin Redaktion einige bereits in den letzten Wochen veröffentlichte Beiträge, 2 davon sind schon übersetzt auf bonustracks erschienen. 

[2] James Baldwin, Das nächste Mal Feuer.

[3] Im Dezember 2018, in einem Moment, in dem das Zählen von Schafen unbestreitbar keine leichte Aufgabe war, entschied sich die CGT dafür, Frankreich nicht zum Stillstand zu bringen.

Der Beitrag erschien am 27. Februar 2023 auf Lundi Matin

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