Der Tod des Denkens – Ray Brassier und Nick land (und Deleuze)

Von seinen ersten Essays in den späten 1980er Jahren bis hin zu seinen jüngsten Blogposts und Internetartikeln weicht Nick Land nie von seinem Kerngedanken ab, dass der Anthropozentrismus das Wissen über die wirklich zerstörerischen und chaotischen Prozesse der Realität verzerrt, indem er die menschlichen Bedürfnissen mit der Homöostase und Stabilität verkoppelt: Laut Land ist Kant der anthropologische Philosoph schlechthin, da er es verbietet, das Noumenon außerhalb jeder phänomenalen Beziehung zu uns zu denken, mit der Begründung, dass jeder Gedanke über die Dinge an sich, der unabhängig vom Denken ist, ein performativer Widerspruch ist, da er gerade ein Gedanke über sie für uns ist: Nach Land ist aber alles, was Kant über die Dinge an sich sagen kann, dass wir nichts über sie sagen können. Land’s Kritik an Kant will die radikale Alterität des Noumenon aus dem begrifflichen Gefängnis befreien. Der Gegenstand von Lands Kritik ist damit genau der von Ray Brassier, nämlich das kantische Erbe der Vorstellung, dass die Wirklichkeit sich in dem, was wir von ihr wissen, ohne Rest erschöpft.

Wenn das Denken die radikale Andersartigkeit der Wirklichkeit nicht erfassen kann, ohne sie auf ein Ding für uns zu reduzieren, so Land, dann ist der einzige Weg zum Realen die Grenze oder sogar der Tod des Denkens selbst. Der Tod markiert ja gerade das Ende der Subjektivität. Wie das Noumenon ist also auch der Tod genau das, vor dem das Denken verstummt.  Für Land wie für Brassier ist unsere Sterblichkeit keine Tatsache, die man beklagen oder verdrängen sollte. Stattdessen sollte der Tod zum transzendentalen Horizont für die Kritik aller anthropozentrischen, kantischen Philosophien werden. Baudrillard denkt noch darüber hinaus, wenn der Tod und das Leben sich in einer symbolischen Reversibilität austauschen können.  

Wenn Land sich manchmal selbst zu widersprechen scheint, indem er das Ding an sich kritisiert, dann deshalb, weil er es in seinem kantischen Sinne als eine Idee der Äußerlichkeit betrachtet, die immer noch unter den Begriff der Vernunft zu subsumieren ist. Umgekehrt würde ein wahrer Materialismus nicht ein positives Wissen über die materielle Realität bejahen, das daher auf das Denken reduzierbar wäre, sondern vielmehr eine Vorstellung von der Materie als einem Überschuss entwickeln, den das Denken niemals vollständig synthetisieren kann. Darin ist wiederum eine Nähe zu Bataille zu verorten.

In den frühen neunziger Jahren fand Land ein konkreteres Modell, um die transzendentale Kritik am Anthropozentrismus durch die Dynamik des Technokapitalismus zu ersetzen. Hier radikalisiert Land Deleuze und Guattaris Konzeption des Kapitalismus in Anti-Ödipus als einen deterritorialisierenden Prozess, der zu einem Körper ohne Organe tendiert.

Deleuze und Guattari stellen sich den Kapitalismus als die ultimative deterritorialisierende Ökonomie vor.  Da der Kapitalismus auf die Produktion um der Produktion willen ausgerichtet ist, befreit er den Leibeigenen als freien Arbeiter und abstrahiert damit zugelich von jedem stabilen Code des Begehrens. Durch diese Abstraktion tendiert der Kapitalismus zu dem, was Deleuze und Guattari in Anlehnung an Artaud den ‘Körper ohne Organe (BwO)’, ohne bestimmte Funktionen und Kodifizierungen des Begehrens, nennen. Für Deleuze und Guattari, ist jedoch der Kapitalismus, da er das Begehren und die sozialen Produktionsprozesse nur über die Institutionen der Familie und des Staates organisieren kann, immer noch auf eine gewisse Territorialisierung angewiesen. Letztlich ist der Körper ohne Organe nur das regulative Ideal des Kapitalismus, nach dem er strebt, ohne es jemals zu erreichen.

An dieser Stelle greift Land ein und modifiziert die Kapitalismustheorie von Deleuze und Guattari in zweierlei Hinsicht. Einerseits sieht Land die Vernichtung der Menschheit als Lösung für den Zugang zum Realen und nicht als Problem, wie es Deleuze und Guattari noch darstellen. Er bekräftigt, dass wir aktiv danach streben sollten, zu Körpern ohne Organe zu werden, nicht einmal, wenn uns das umbringt, sondern gerade weil es uns umbringt. Andererseits übernimmt Land die Auffassung von Anti-Ödipus, dass der Kapitalismus eine radikal deterritorialisierende Maschine ist, und ignoriert dabei den Vorbehalt, dass der Kapitalismus auch reterritorialisiert und neu codiert. Im Gegenteil, für Land ist der Kapitalismus nichts anderes als die absolute Deterritorialisierung des vollen Körpers ohne Organe, der nach Deleuze und Guattaris Lesart immer nur ein regulatives Ideal war.

Während Brassier sich auf die Naturwissenschaften und insbesondere die Kosmologie konzentriert, nimmt Land Bezug auf KI-Forscher, um die These zu vertreten, dass wir bald eine starke KI erschaffen werden, die so viel schlauer ist als wir selbst, dass sie uns schließlich auslöschen wird, weil wir ihren unaufhaltsamen Prozess der exponentiellen Intelligenzexplosion verlangsamen. Es mag noch ein paar Jahrzehnte dauern, bis künstliche Intelligenzen den Horizont der biologischen Intelligenzen übertreffen, aber für Land ist es naiv, sich vorzustellen, dass die menschliche Herrschaft über die Kultur noch in Jahrhunderten, geschweige denn in einer metaphysischen Ewigkeit festgelegt ist. Nach Land darf die KI aber nicht mit unsterblichen Menschen verwechselt werden; im Gegenteil, die KI wird den Menschen an Intelligenz so weit überlegen sein, dass ihr Denken für uns buchstäblich unvorstellbar ist. Wie der Tod markiert die KI also den transzendentalen Horizont, über den wir nicht hinausdenken können, und stellt damit unseren Anspruch, den Kosmos durch unsere Begriffe zu erschöpfen, radikal in Frage. Anders positioniert sich in dieser Frage Baudrillard, der die KI gerade deswegen künstlich nennt, weil sie nicht denkt. Auf eine ganz andere Art und Weise verkündet sie vom Tod des Denkens.

In seinen jüngsten Schriften hat sich Land mit seinem Engagement für den Kapitalismus als Gegenstand transzendentaler Kritik taktisch auf die Seite der rechtsextremen “neoreaktionären” Tendenz geschlagen. Wenn Land die allzu menschliche Befriedigung der öffentlichen Meinung durch die Demokratie beklagt, dann deshalb, weil eine solche Kurzsichtigkeit auf die Verfolgung langfristiger Zukunftsziele wie technologische Innovation verzichtet. Nach Land läuft die Demokratie darauf hinaus, “die Zukunft zu plündern”, das Unbekannte und das Unvorstellbare  aus den Augen zu verlieren.

Anstelle der Demokratie schlägt Land das ‘neokameralistische’ Gesellschaftsmodell vor, das Mencius Moldbug vertritt. Nach Moldbugs Neokameralismus sollten Staaten wie Unternehmen geführt werden, indem man es Unternehmen erlaubt, ganze Staaten und sogar Länder als ihr eigenes souveränes Eigentum zu kaufen und zu besitzen. Wenn kapitalistische Unternehmen zu Eigentümern von Ländern würden, bräuchten sie kein Geld mehr für die Bestechung von Politikern zu verschwenden, um kurzfristige Ziele zu verfolgen. Stattdessen können sie ihre Ressourcen in den Aufbau besserer, technologisch fortschrittlicher Gesellschaften investieren, um Einwohner anzuziehen. Wenn sich Land zu Moldbugs politischem System hingezogen fühlt, dann deshalb, weil ein neokameralistischer Staat die Freiheit hätte, langfristige technologische Innovationen zu verfolgen, ohne dass der demokratische Politiker die kurzsichtige öffentliche Meinung besänftigen müsste, um alle paar Jahre wiedergewählt zu werden.

Kommen wir zu Ray Brassier. Anstatt sich auf die Kritik an der Phänomenologie selbst zu konzentrieren, wie es Land tat, behauptet Brassier, dass viele Philosophen, die sich als Materialisten bezeichnen, immer noch zu phänomenologisch sind, da sie die Materie als vollständig begrifflich fassbar und damit auf die Ideen der Vernunft reduzierbar betrachten. Für Brassier bleibt jeder Materialismus in dem Maße idealistisch, in dem er es versäumt, die Materie als außerhalb aller möglichen Konzeptualisierungen zu begreifen. Darin liegt Brassiers Interesse an François Laruelles Argument, dass der Materialismus insofern idealistisch bleibt, als er sich immer noch vorstellt, dass das, was er über die Materie denkt, diese vollständig erschöpft, Laruelle zufolge ordnen diese Materialismen in letzter Instanz immer noch die Materie der letztmöglichen Form des Logos (der Ideen der Materie als solcher) unter, anstatt den Logos der Materie der unterzuordnen und ein wahrhaft dispersives Werden der Idealität zu initiieren.

Zwar wollen sowohl Laruelle als auch Brassier Kants transzendentale Unterscheidung zwischen Phänomenen und Noumena beibehalten, doch versuchen sie, das, was für Kant nur ein Grenzbegriff ist, als eine den Logos übersteigende materielle Realität zu denken- Der Niedergang des Materialismus im Namen der Materie beschreibt die Bewegung, bei der jeder philosophische Materialismus, der die Prämisse einer transzendentalen Unterscheidung zwischen ‘Denken’ und ‘Materie’ akzeptiert, den Versuch aufgeben muss, die Materie in den Begriff einzubeziehen.

Brassier behauptet wie Land, dass Deleuze und Guattari eine materialistische Umwertung des Transzendentalen bewirken, indem sie ein maschinelles Unbewusstes jenseits des gegenständlichen Denkens denken. Für Laruelle wie für Brassier bleiben Deleuze und Guattari jedoch insofern idealistisch, als ihr Begriff der Ebene der Immanenz das Denken und das Reale zu ein und demselben monistischen Wesen zusammenfasst und damit die transzendentale Unterscheidung zwischen der Materie und Geist unterläuft.

In seinem Buch Nihil Unboun stellt Brassier eine Verbindung zwischen einem nicht-philosophischen Denken der Materie und der nihilistischen Tradition her. Wenn unsere Begriffe nicht mit dem Realen übereinstimmen, dann ist das Reale selbst bedeutungslos oder nihilistisch. Für Brassier wie für Land ist der Nihilismus jedoch kein Problem, das es zu lösen gilt, keine kulturelle Krankheit, die einer Heilung bedarf; im Gegenteil, der Nihilismus spricht die Bedeutung des Seins qua Bedeutungslosigkeit an.

Im Kapitel mit dem Titel ‘Das Nichts sein’ argumentiert Brassier, dass selbst Laruelle zu humanistisch bleibt, indem er den Menschen als Schlüsselakzeptanz des Realen essentialisiert. Laruelle verkennt somit eine der partiellen Instanziierungen des Realen als das Reale selbst gegenüber anderen nicht-anthropologischen Instanzen: Wenn man, wie Laruelle, die Unwiederbringlichkeit des Namens des Menschen gegenüber der Kontingenz anderer gelegentlicher Benennungen der letzten Instanz privilegiert, verwechselt man das Reale mit seinem Symbol. Brassier vertritt stattdessen die Ansicht, dass wir das Reale als reine Leere denken müssen, das von allen möglichen Objekten der Erfahrung abgezogen wird. Auch Baudrillard hat von einer Konzeption des Nihilismus gesprochen, die systematisch das Nichts eliminiert. Allerdings darf man das Nichts nicht objektivieren oder gar kapitalisieren.

So wie Land den Tod als transzendentalen Horizont für das Denken der Vernunft über ihre eigene Abwesenheit ansieht, so behauptet Brassier, dass die Philosophie das Aussterben des Menschen als Organon für das Denken einer Realität ohne uns nehmen muss. Im letzten Kapitel mit dem Titel ‘Die Wahrheit des Aussterbens’ stützt sich Brassier auf die Erkenntnis der zeitgenössischen Kosmologie, dass die Erde und das gesamte Sonnensystem mit allem Leben  eines Tages untergehen werden, wenn die Sonne zerfällt, und schließlich das gesamte Universum, wenn die dunkle Energie alle großräumigen Strukturen und die Materie zerreißt und nur die Stille und Dunkelheit des Vakuums zurückbleibt. Angesichts der kosmologischen Einsicht in das endgültige Schicksal des Universums besteht Brassier darauf, dass wir unsere eigene Endlichkeit in einer Welt anerkennen, die weitergehen wird, ohne dass wir über sie philosophieren. Für Brassier wie für Land ist der Gedanke an das Aussterben des Menschen nicht zu fürchten, sondern als Organon für die Aufgabe aller Ansprüche auf unsere eigene kosmische Bedeutung durch die ernsthafte Philosophie zu begrüßen.

Langfristig sind wir alle tot; aber für Brassier bedeutet das, dass wir alle schon tot sind, oder besser gesagt, dass “alles schon tot ist”. Gleichzeitig wird das Subjekt des Denkens, die physische oder metaphysische Position eines “Wir”, zu einem Epiphänomen und so träge wie die Materie. Für Brassier ist es notwendig, den Sinn auszulöschen und die von der Aufklärung eingeleitete Entzauberung der Welt zu radikalisieren, um den Weg für die Intelligenz der Auslöschung freizumachen. Wenn die Materie, wenn sie an sich (außerhalb der Korrelation) existieren soll, passiv und träge sein muss – im Sinne von gefühllos, gleichgültig und bedeutungslos -, dann wird  aber der menschliche Exzeptionalismus wieder einführt. Es ist, als ob die Negation dieses Standpunkts eine notwendige Bedingung für die Existenz der Welt wäre – ein merkwürdiger negativer Idealismus, ein seltsamer Kadaver-Subjektivismus.

Der Hauptunterschied zwischen Land und Brassier besteht im Denken der Auslöschung: Während Land auf eine pro-kapitalistische Politik zurückgreift, die uns auslöschen wird, um ein Zeitalter des (künstlichen) absoluten Wissens einzuläuten, appelliert Brassier an die Vorstellung der Kosmologie der Auslöschung, die weit in der Zukunft und jenseits unserer eigenen politischen Gestaltung liegt. Dass Brassier sich auf ein Konzept des Aussterbens beruft, das nicht von uns selbst stammt, zeigt, dass er sich eher an die Wissenschaft als an die Politik wendet, um den Tod der Menschheit in einem größeren Reservoir des Seins zu verorten. Brassier entwickelt diesen Begriff der Wissenschaft zunächst im Dialog mit Badious Verständnis von Mathematik. Nach Brassiers Lesart von Badiou schreitet die Wissenschaft voran, indem sie mit ihren eigenen Repräsentationsparadigmen bricht und neue Erkenntnisse hervorbringt, die nur durch ein neues Paradigma erklärt werden können, bevor sie auch mit diesem neuen Paradigma bricht, indem sie noch nie dagewesene Entdeckungen hervorbringt, und so weiter ad infinitum. Auf diese Weise ist die Wissenschaft in der Lage, die Subtraktion der Materie selbst jenseits aller ideologischen Repräsentationen zu erfassen. Brassier schlägt vor, dass die Wissenschaft eine endlose Teleologie ist, die die Kluft zwischen unseren Konzepten und der Realität immer wieder aufzeigt, ohne dass die Konzepte sie jemals vollständig erfassen.

Brassier interessiert an Land die außergewöhnliche Wiederausarbeitung der Negativität, eine Art nicht-begriffliche Negativität. Gleichzeitig sieht Brassier, dass Land sich letztlich von seiner ursprünglichen Ausarbeitung des Negativen abwendet, wenn er alles Denken zu einer Fehlzündung der primären Prozesse der Materie verunglimpft: Da Land dem Denken die Fähigkeit nimmt, reale materielle Prozesse zu erfassen, stellt sich die Frage, wie Land diese Prozesse überhaupt denken kann. Während der Deleuzianische Vitalismus die reale Natur der Materie noch intuitiv erfassen kann, ist dies Land verwehrt, da er die Beziehung des Denkens zum Realen vollständig abgeschnitten hat.

Da Land das Denken daran hindert, das Reale zu erfassen, kann er nur auf eine Politik der Affirmation oder Umsetzung des Realen zurückgreifen, indem er die zerstörerischen Tendenzen des Technokapitalismus beschleunigt. Brassier zufolge ist die Reduktion der Metaphysik auf die Politik eine klassische Form des Anthropozentrismus oder, wie er es in Anlehnung an Meillassoux nennt, des Korrelationismus. Land’s spezifische neoreaktionäre Politik ist besonders anfällig für diesen Vorwurf des Korrelationismus, da er sich einerseits auf die Seite der verblendeten Konservativen stellt, die den Kapitalismus als Ursache für das Gedeihen der Menschheit ansehen, und andererseits auf die Seite der tatsächlichen Kapitalisten, die ihr eigenes individuelles Interesse verfolgen. Letztlich weist Brassier Land’s politische Wende als ein Symptom seines Versagens bei der Entwicklung einer Erkenntnistheorie zurück, die erklären könnte, wie er dazu kommt, genau die Metaphysik der nicht-begrifflichen Negativität zu postulieren, die beide vorschlagen.

Mark Fisher hat argumentiert, dass der Hauptunterschied zwischen Land und Brassier darin besteht, dass Land argumentiert, dass wir einen Weg finden müssen, die Nichterfahrung des Todes praktisch zu erleben, während Brassier behauptet, dass wir stattdessen rational darüber nachdenken sollten: Im Gegensatz zu Brassiers kognitiver Wende besteht Fisher darauf, dass wir sowohl eine praktische als auch eine theoretische Subversion des manifesten Bildes brauchen, und schlägt schließlich die Ästhetik als einen Weg vor. In ähnlicher Weise stimmt Reza Negarestani Brassiers Kritik an Land zu, der den anthropozentrischen Kapitalismus mit dem treibenden Motor der transzendentalen Kritik verwechselt. Gleichzeitig argumentiert Negarestani, dass wir, wenn Brassier tatsächlich Recht hat und der Kapitalismus grundsätzlich anthropomorph ist, das Politische nicht einfach zugunsten der Wissenschaft aufgeben können, da das Aufklärungsprojekt der Wissenschaft durch eine von der Dynamik des Kapitals beherrschte Welt behindert wird. Selbst wenn Brassier der Meinung ist, dass nur die Wissenschaft in der Lage ist, transzendentale Kritik zu üben, müsste er an eine Art politische Praxis appellieren, die versucht, dem Kapitalismus zu widerstehen und ihn im Idealfall zu stürzen, um so die Wissenschaft von ihrer Unterordnung unter die Kapitalakkumulation zu befreien. Stattdessen, so Reza, begnügt sich Brassier damit, sich im “Komfort eines utopischen Vertrauens” in die friedliche Koexistenz der Wissenschaft mit dem Kapitalismus zu sonnen.

Kommen wir zum Verhältnis zwischen Deleuze und Brassier. Wie Deleuze ist auch Brassier der Meinung, dass der Nihilismus eine transzendentale Komponenete hat, die allerdings Deleuzes Position entgegengesetzt ist. Für Brassier gibt uns der Nihilismus eine “spekulative Gelegenheit”, sowohl das kantische Transzendental des Subjekts als auch das deleuzesche Transzendental als Macht der Affirmation zu überwinden. Diese neue Gelegenheit erhebt den Anspruch, das Denken nicht nur von der reaktiven Kraft des Bewusstseins zu befreien, wie es Deleuze versucht hat, sondern auch von den unbewussten aktiven Kräften. Der Vorteil dieser Befreiung sowohl von einer menschlichen Reaktion als auch von einer unmenschlichen Aktion ist die Entdeckung einer neuen Realität, die weder das Reale als transzendentale Illusion noch das Reale als pathologisches Symptom der ursprünglichen unbewussten Aktivität affirmiert. Auch diese neue Realität ist eine unmenschliche und transzendentale Immanenz. Im Gegensatz zu Deleuzes affirmativer Immanenz versucht Brassier, das Transzendentale als eine neue Form der Negativität zu begreifen. Die wesentliche Funktion dieser Negativität ist die doppelte Operation, sowohl den Tod des Denkens zu bewirken als auch das Denken mit der Fähigkeit auszustatten, diesen Tod zu denken. Für Brassier ist das Reale nichts anderes als der Tod des Denkens.

Aus einer physikalischen Perspektive betrachtet, ist der Tod des Denkens eine Folge des erwarteten Wärmetods des Universums und der Zerstörung der Materie. Brassier zufolge handelt es sich bei der zukünftigen Auslöschung des Universums um eine Art wissenschaftlicher Erkenntnis, die weder durch ein transzendentales Subjekt gerechtfertigt werden kann noch der Aktivität eines transzendentalen Unbewussten untergeordnet ist.

Das Reale als Auslöschung oder als Identität von Vergangenheit und Zukunft versetzt das Subjekt in die paradoxe Situation, unmittelbar tot zu sein, ohne jemals lebendig gewesen zu sein. Im Gegensatz zu Heideggers Sein-auf-den-Tod hin, das dem Menschen eine Zeitlichkeit verleiht und ihn für eine Zukunft öffnet, bedeutet der Tod bei Brassier ein Bereits-Tot-Sein in der radikalen Abwesenheit einer phänomenologischen Intentionalität, die im “Auf-den-Tod-hin” impliziert ist. In ähnlicher Weise leidet die Deleuze’sche Unterordnung des Todes unter das Leben durch eine unmenschliche Perspektive über die Tode Gottes und des Menschen an demselben Fehler, an eine Zukunft zu glauben, die sich von der Vergangenheit unterscheidet und die eine überlegene Position in Bezug auf den Tod bietet. Deleuze vollzieht diese Unterordnung durch die Idee der ewigen Wiederkehr oder des intensiven Todes, die den wahren Sinn des Todestriebs als Affirmation des Lebens offenbart. In einem Versuch, die nihilistische Dualität zwischen sterblicher Materialität und unsterblicher Immaterialität zu überwinden, die beide durch Identität und Negation bedingt sind, schlägt Deleuze die intensive Materie als selbstbejahende und differenzielle Vitalität vor.

Brassier findet also sowohl bei Heidegger als auch bei Deleuze die gleiche Gewohnheit, das Denken zu verewigen: So wie Kant die Unsterblichkeit Gottes auf den Menschen überträgt, so übertragen Heidegger und Deleuze dieselbe Unsterblichkeit auf das Unmenschliche. So wie der Tod des Menschen ein anderes Ereignis ist als der Tod Gottes, so ist auch der Tod des Denkens von völlig anderer Natur als diese beiden vorangegangenen Tode, was die Notwendigkeit einer anderen Logik der Negation oder einer anderen Art der Radikalisierung des Transzendentalen erklärt.

Um das Aussterben als Identität von Ursprung und Ende oder Vergangenheit und Zukunft zu denken, macht Brassier Gebrauch von Laruelles Konzept des “Realen” als nicht-dialektische Identität. Das Reale weder die Hegelsche Identität, die durch dialektische Negation entsteht noch ein pathologisches Nebenprodukt der Deleuzo-Nietzscheanischen Differenz. Die radikale Autonomie dieses Realen impliziert, dass es abgeschlossen und nicht konstituiert ist und von keiner begrifflichen, ontologischen oder vitalen Instanz bejaht oder verneint werden kann – es ist ein “Gegebenes ohne Gegebenheit.” Für Brassier ist das nicht-dialektische Reale auch eine Form der nicht-dialektischen Negation, die in der Lage ist, das Denken zu bestimmen. Daher ist die Identität weder das, was sich selbst negieren muss, noch ein Produkt der dialektischen Negation, noch das Regime, unter dem die Differenz negiert wird. Vielmehr ist es gerade die Identität oder das Reale selbst, das negiert. Brassiers Beitrag zu Laruelle besteht darin, in dieser neuen transzendentalen Logik die einzigartige Art und Weise zu entdecken, in der das Denken stirbt: Was den Tod des Denkens herbeiführt, ist dieser einseitige Akt des Realen als Identität und Negation.

Für Ray Brassier ist das Reale die Bedingung für die Existenz von Objekten und für die Repräsentation dieser Objekte im Denken. Wenn das Reale zudem noch die Bedingung für das nicht-notwendig-Sein der Korrelation (zwischen den Objekten und der Repräsentation der Objekte im Denken) ist, dann liegt es selbst außerhalb des Zirkels der Korrelation. Somit ist das Reale das nicht-Determinierte, das jede mögliche Determination ermöglicht, und es ist zugleich das Nicht-Konzeptualisierbare, das jede Konzeptualisierung ermöglicht. Das Reale kann kein Korrelat des Denkens sein und es kann als Objekt auch nicht bekannt sein. (Deshalb greift auch eine Kritik zu kurz, die meint, man könne vom Realen per se nichts wissen, weil man immer nur wissen könne, was bereits Diskurs sei.) Brassier definiert das Reale folglich als being-nothing, das als die letzte Instanz des Realen gilt. Das Reale ist das Zero-Degree das Seins, insofern es eben gerade nicht als ein negatives Nicht-Sein auf das positive Sein als sein Gegenpol bezogen ist. Being-nothing ist die immanente Bedingung des Seins, Zero-Degree des Seins, von dem aus jedes Sein sich differenziert, ohne dass das Reale sich selbst im Sein differenziert. Dies nennt Laruelle eine nicht-dialektische unilaterale Determination. Das Denken kann vom Realen, wenn es rein als Objekt gesehen wird, nichts wissen, aber es weiß vom Realen zumindest als being-nothing, und zwar als seiner eigenen immanenten und unrepräsentierbaren Bedingung. In dieser Weise folgt das Denken dem Prozess der Differentation der Objekte durch die nicht-dialektische unilaterale Determination. Denken ist der Zero-Degree der Differentation der Objekte im Denken selbst, und insofern ist das Denken selbst being-nothing; es ist die nicht- repräsentierbare Bedingung der Repräsentation. Und somit kann das Denken das Reale nur ergreifen, wenn es ihm gemäß denkt. Brassier zieht also das Reale ganz in den Bereich der negativen Möglichkeit hinein.

Eines der charakteristischsten Merkmale des Todes des Denkens ist vielleicht, dass das Denken im Gegensatz zu den vorangegangenen Tode Gottes und des Menschen nicht in ein reines Nichts verschwindet und auch nicht als willkürliche historische Erfindung zurückbleibt, sondern als Objekt besteht, oder, wie Baudrillard sagt, das Objekt gibt zu denken auf. Auf diese Weise verliert das Denken seine subjektiven (kantischen) und asubjektiven (deleuzeanischen) Bestimmungen. Es ist die Welt oder das Objekt, das uns denkt, schreibt auch Baudrillard. Laruelles transzendentale Logik setzt die sich selbst verewigenden Operationen des Denkens – metaphysische Korrelation, transzendentales Subjekt, phänomenologische Intentionalität und genealogische Affirmation – außer Kraft, indem sie eine Denkweise entdeckt, die “gemäß” dem Realen denkt. Gemäß dem Realen zu sein bedeutet, ein Ding zu werden oder durch das Reale objektiviert zu werden.

Brassier folgt aber nicht dem Weg von Laruelle , weil er der Meinung ist, dass die Nicht-Philosophie durch die Reduzierung der Philosophie auf die unsterblichen Denkweisen in der textuellen Exegese gefangen bleibt: Das Denken nach dem Realen wird zu einer verschärften Dekonstruktion der Philosophie, zu einer “stiefmütterlichen Übung in extravaganter Sterilität”, die die  negative Kraft ihrer nicht-dialektischen Logik verfehlt und daher die Radikalität des Realen opfert. Brassiers Lösung besteht darin, Laruelles transzendentalen Realismus mit den Mitteln der Freudschen Psychoanalyse zu ergänzen, um die Negation zu vollziehen, die die reale Bewegung vollbringen kann, die in der Nicht-Philosophie fehlt.

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Brassiers Werk nach Nihil Unbound distanziert sich von Laruelle und dem Realismus. Die Analysen zu Hegel, Marx, Sellars, der Frankfurter Schule, der Psychoanalyse und den Wissenschaften können als Postualt betrachtet werden, den Rationalismus als Willen zum Wissen jenseits seiner kantischen und deleuzeanischen Konzeption zu denken. Eine der wichtigsten Folgen der Objektivierung des Denkens ist die Gleichsetzung der Philosophie mit den Wissenschaften. Dies hat zur Folge, dass sich die Wissenschaften unwiderruflich von der Philosophie abkoppelt. Somit wird der eigentliche Akt des Wissens unabhängig von einer rechtfertigenden oder bestätigenden Autorität der Königsphilosophie. Dies ist kein Rückfall in den Positivismus oder Szientismus, der naiverweise glaubt, er könne ohne philosophische Vorbedingungen fortbestehen. Für Brassier ist diese neue Art des Wissens, wie er in seiner früheren Alien-Theorie ausführlicher erörtert, die Aneignung einer “kognitiven Aktivität”, die weniger ein System der Repräsentation ist, das behauptet, dem Realen zu entsprechen, sondern ein noch nie dagewesener gewaltsamer Akt, der die Komplizenschaft des Denkens mit moralischer Autorität und Macht aufbricht.

 

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