Frédéric Neyrats Atopias (2)

1.Teil hier

Neyrat fragt, was es heißt, ein Subjekt des Außen zu sein: Man individuiert sich immer, wenn man vom Außen beginnt, ein leerer Fall, ein Nichtbegegnen, ein Riss oder einfach der Wahnsinn. Dieser Riss der Individuation ist das ek- , welches das existierende Subjekt auf die Welt bezieht. Nur dank der Abweichung sind wir in der Welt. Von daher muss das Subjekt als ein Trans-jekt gedacht werden. Dabei ist das Subjekt nicht in den Gegensatz zur Animalität zu setzen, vielmehr ist das Subjekt an der Kante eines existenziellen Trans-jekts situiert. Das Trans-jekt ist jedoch kein flexibler Trajektor, der willentlich modifizieren kann, sondern eine singuläre Persistenz. Die Zusammenkunft der Trans-jekte nennt Neyrat eine abenteuerliche Koalition. Die Relation zu den anderen ist für dieses Trans-jekt zunächst interior; es ist eine interiore Disjunktion, durch die die Existenz sich der Welt nähert – eine fragile und prekäre Relation. Für die Philosophie, die für Neyrat noch vor dem Konzept rohe Propositionen zu entwickeln hat, heißt dies, dass sie eine Transgression der ausgeschlossenen Mitte darstellt: Weder A noch Nicht-A und zugleich A und Nicht-A. Jede Trangression dieses Prinzips impliziert einen Sprung in das Unbekannte. Hic rhodos, hic salta, würde Marx an dieser Stelle sagen. (Es geht Neyrat weder um den universellen Intellektuellen Sartres noch um den spezifische Intellektuellen eines Foucault: Weder der eine noch der andere und beide zugleich, der eine und der andere, i.e. der Intellektuelle muss sich als ein peripheres Medium durch den Wahnsinn seines Außerhalb-des.Platzes-Sein wühle. Wenn Philosophie nach der Wahrheit greift, schreit sie und dämpft die Bedeutung, die immer unkalkulierbar bleibt.)

Wir leben heute in einem Zustand der verlängerten Wachheit und der Arbeit ohne Zeitlimit, der Überinformation, der Gfräßigkeit der elektronischen Links und der Überfülle der mechanisierten Angebote. sind gefangen in einer Aufmerksamkeitshysterie – und diesen virtuellen Aspekte treffen auf abgeflachte Aspekte – wir sind so so arm, so langsam, quasi immobil. Was heißt es, wenn wir uns pausenlos im Transit befinden (warum?), in Bewegung sind (mit welcher Geschwindigkeit?), warten (warum?) oder schlafen (mit welchem Seditativum?). Wir sind im24/7-Modus connected, gefangen in den Netzwerken der Kommunikation und der Repräsentation, die im Rahmen einer dreifachen Globalität immer dichter werden, i.e. der technologischen, der Waren- und Kapital- sowie der ökologischen Zirkulation, und dies bis zu einem Punkt, an dem die technologischen, finanziellen und ökologischen Ebenen immer schwerer zu unterscheiden sind. In Tschernobyl und Fukushima wurden die Biosphäre und das Technologische simultan erzeugt; Informationen auf einem Teil der Welt produzieren instantan, das heißt ohne Vermittlung, Affekte auf einem anderen Teil der Welt.

Immunoglobulin, so nennt Neyrat ein Netzwerk, das durch Dichtheit, Fusion, epidemische Kommunikation und Verknüpfungen gekennzeichnet ist und eine saturierte Immanenz besitzt. Wird die Freiheit der Meinungsäußerung in manchen Perioden des Kapitalismus durch ein Geflecht aus Filtern, Netzen und Zensuren kanalisiert, so steigert sich diese Art der Neutralisierung in der Phase des ImmunoGlobulin zum systemischer Terror gegen Andersdenkende. Es gibt kein Außen mehr, keine Exteriorität, wie die Erde wird der Kapitalismus erstickend und stickig heißt, indem alles, was sich noch zur Wehr setzt, mit einem endlosen Reflex geschluckt wird. Alles wird unter die Ökonomie subsumiert, während der tele-technologische Globus und die Ökosphäre fusionieren, wobei die letztere Schiffbruch erleidet. Zudem hat diese asymmetrische Fusion die Humanität bzw. die humane Form durch einen gigantischen mechanischen Mund ersetzt. Mit dem Ende der Unterscheidung zwischen Natur und Kultur kollabiert die Natur in den Mühlen der nicht recyclingbaren Artefakte einer tele-technologischen Kultur. Kein Wunder, dass für die Menschheit rein gar nichts ein Alien bleiben kann  und die Natur verschwinden muss, selbst wenn die Kultur in einem Kollateralschaden mit-verschwindet.

Es handelt sich hier um eine heimliche Komplizenschaft: Der Mensch hat sich in einer extremen Exteriorität gegenüber der Natur neu definiert, und dies ist die konkrete Bedingung der Möglichkeit, die das Verschlingen der Natur bereithält. Anstatt endlos über Hybride zu debattieren, müssen wir verstehen, dass die humane Transzendenz längst mit der Immanenz fusioniert ist. Von saturierter Immanenz zu sprechen, bedeutet nicht nur über extreme Geschwindigkeit, schwindelerregende Akzeleration und die politischen sowie psychologischen Panikphänomene zu sprechen, sondern auch über die Tendenz zur Immobilisierung der Phänomene am Horizont ihrer Bewegung.

Das Saturierte beschreibt für Neyrat eine Phase der Transition, in der die verschiedenen Variationen der Ströme, welche das globale Netzwerk durchfließen, in einer Art träger Bewegung enden, die ohne jegliche äußere Unruhe immer dieselbe bleibt. Das scheint seltsam, weil man uns immer verkündet, dass die Subjekte heute variable, heterogene, fluide und singuläre Entitäten seien, aber es handelt es sich ímmer nur um einen trägen Wandel, mit dem unbedingt gebrochen werden muss. Während Foucaults Disziplinargesellschaften die Fehler der Vergangenheit korrigierten, die Kontrollgesellschaften von Deleuze der Vergangenheit einen neue Form gaben, in dem sie die Gegenwart in Realtime regulierten und das Verhalten permanent kontrollierten, nehmen Transparenzgesellschaften die Zukunft in einem besonderem Maß ins Visier: Indem sie ständig die Zukunft predigen, wird sie vermeiden, und zwar durch eine Präventions-Polizei, die das kriminelle Ereignis, bevor es überhaupt passiert, durch die Antizipation des Risikos verhindern will.

Das Gefängnis wird nun endgültig zeitlich: Die präventive Immunisierung ist das Ziel der Transparenzgesellschaften, indem verhindert wird, dass etwas wirklich Neues passiert und damit jede Alterität erwürgt. Die saturierte Immanenz ist das Resultat eines immunologischen Drives, der dank der technologischen Entwicklung eine neue subjektive Ausdrucksform gefunden hat: Er immunisiert das Selbst gleich einem spinozistischen Conatus, dem Versuch in sich selbst zu bleiben, und er schreibt sich noch in den Todestrieb mit dem Ziel ein, die Abweichung zu eliminieren, sodass alles intakt und geschützt gegenüber jedem nur anzunehmenden Schaden bleibt:So wird man konditioniert gegen die Fragilität des Lebens zu kämpfen, so zu tun, als ob Tod, Trauer und Verlust nicht existierten. Der immunologische Drive benutzt die Negativität, um die wesentliche Funktion der Negativität zu konterkarieren.

Der Hydroglobus des absoluten Flux ist das Endresultat dieses Drives. Diese Prozeses sind ansteckend und immanent zugleich: Neyrat erwähnt hier als Beispiel die Finanzkrise, die keine Grenzen zu kenen scheint und sich überall hin verbreiten kann, aber gleichzeitig bleibt der Finanzsektor gegenüber jeder Art von Angriff und Widerrede unantastbar. Die Molekularbiologie kann angeblich das Verhalten eines Organismus aufgrund der Kenntnis seines genetischen Programms vorhersagen, dass sich dmit in ewige wandelbare Formen des Lebens transformiert, aber es gibt GMOs, die entgegen jeder Vorhersage mutieren und proliferieren.

Neyrat stellt in diesem Kontext zwei Thesen auf. Je stärker die Konzentration in den unbeschadeten Zonen ist, desto höher die Ansteckungsgefahr. Und je dichter die Ansteckung, desto mehr scheinen die Zonen der Immunität uneinnehmbar. Schließlich hat sich ein global Absolutes herausgebildet, das alle Differenzen integriert.

In diesem Moment wird es für die Philosophie wichtiger über die Alterität des Nichts-Seins als über die Wahrheit nachzudenken. Sie sollte eine Erklärung für den Wahnsinn des “Out-of-Place” geben, indem sie das existenzielle Trans-jekt mit neuen Bedeutungen auflädt. Für Neyrat ist Spinoza hingegen der Vordenker der saturierten Immanenz. Und Neyrat glaubt, dass Deleuze am Ende kein Spinozist war, insofern er das Außen berücksichtigte, was sich wiederum mit Andrew Culps “Dark Deleuze” deckt. Indem Deleuze/Guattrai den berühmten Satz von Spinoza wiederholen „Der Körper weiß nicht, wozu er fähig ist“, argumentieren sie genuin anti-substanzialistisch und inszenieren den bedingungslosen Schrei nach dem Außen, der Erfahrung und einer kontingenten Konstruktion. Es ist egal, ob man anstelle des Begriffs Gott oder Natur heute den Begriff des tele-technologischen Kapitals unkritisch verwendet und damit dann eben doch wieder die unendliche totale Substanz meint, welche die Endlichkeit, die immer multipel und deshalb weltlich ist, leugnet. Unsere Welt benötige dringend wieder, so Neyrat, Unterbrechungen, Zäsuren und Bewegungen der Exteriorität und deshalb sollte man für ein Modell der endlichen Transzendenz plädieren, der Transzendenz  ~ x, wobei das x keinen Überhang impliziert, vielmehr wird durch das Zeichen ~  x die plurale Welt der Seienden in Richtung des Außen gespült. Insofern ist das Atopia auch keine Utopie oder ein anderer Platz, vielmehr das Andere des Platzes. E ist das Clinamen, das intern in seinem Verhältnis zur Welt besteht.

Die Welt ist nicht kompakt, sie ist keine Welt der saturierten Immanenz, sondern sie ist außerhalb-von-sich-selbst. Und die Existenz in ihrer Aktualität besteht der Aufkündigung des Seins. Anstelle des Begriffs “Existenz” setzt Neyrat nun den Begriff “Insistenz”. Dabei geht es um die singuläre Existenz, welche die Kontingenz nicht als eine reine Öffnung hin zu einer unendlichen Anzahl von Möglichkeiten, sondern als einen Background versteht, gegen den die Situation der Ausnahme geformt wird, insofern es sich hier um eine Exzentrität handelt. Dies ist allerdings weit entfernt von einem Relativismus, der alle Ideen und Werte im Namen der Fakten verflacht, indem er gerade behauptet, alles und jedes sei kontingent und äquivalent – stattdessen gilt es auf der Singularität der Existenz zu bestehen, und zwar im Außen. Für jedes lebende Seiende wird das Sein in einer Art Spannung der Existenz vom Außen geformt. Oder, um es mit einem verfremdeten Lacan zu sagen, das Außen oder die Extimität ist der Ausdruck dafür, dass das Innerste der Andere ist, etwa ein fremder Körper oder ein Parasit. Das intimste Intime ist die Extimität des Anderen.

Von einem Platz zum anderen passieren, das ist die Tortur des Außen. Es handelt sich dabei nicht unbedingt um eine Bewegung, denn die Tortur kann innerhalb eines Platzes passieren, wobei man aber keinesfalls immobil wird. Weder der Mobilität noch der Immobilität zugeneigt, ist die Existenz eine Spannung.Und wenn es kein Zentrum gibt, heißt dies noch lange nicht, dass jedes Ding gleich ist, vielmehr entbirgt dies die Unmöglichkeit, die Exzentrität jeder Existenz weiter zu verbergen. Dieses Konzept der Exzentrität verneint zwei Konzeptionen der Ausnahme: Den Narzissmus, der die Ausnahme für sich selbst macht, und die Souveränität, die Ausnahme vom Gesetz, durch die das Gesetz selbst entsteht. Exzentrität beinhaltet die Verpflichtung, sich in einer a-zentrischen Welt zu singularisieren. Die Notwendigkeit der Singularität produziert die Kontingenz der Welt. Wenn alles notwendig wäre, gäbe es keine Differenzen.

Und dabei ist die Unendlichkeit als das Endliche zu begreifen, insofern es existiert. Die Bedeutung des Konzepts der Endlichkeit inhäriert sui generis den Nicht-Grund oder, wie Neyrat es formuliert, die Vorgängigkeit des Ausgangs vor dem Eingang (in die Universität, die Karriere etc.) Das Außen-Sein kann nicht verschoben werden. Der Hegelschen These, dass man, um zu erkennen, wer man war und ist, sich selbst verlassen und von sich selbst entfremden muss, gilt es insofern zu widersprechen, als das Werden vor dem Sein kommt, mehr noch, die Exzentrität jedes Seienden definiert schließlich gar kein Werden, sondern eine sofortige Spannung, die Ex-Tension, die Spannung des Außen, welche die Differenz verlangt. Und das Ex- ist Zeit.

De Existenz ist im Sinne von Nancy von Anfang an ein Mit-Sein. Es gibt immer einen Surplus, eine Projektion. Das Außen des Seins ist ein Set von Relationen, das die Existierenden in einem existenziellen Feld konstituiert. Es gibt hier laut Neyrat ein Paradox hzu vermelden: Nur die Erfahrung der Singularität öffnet uns für die Singularität der anderen. Und Existenzen formen ein Feld von Exzentritäten: Jede Existenz demonstriert, dass, um überhaupt anzufangen, man zuallerest abweichen muss, nicht als Bewegung in einem gegebenen Raum, sondern als die simultane Kreation der Existenz und seines Raumes. Gerade weil die Existenz Exzentrität ist, hat sie keinen ureigenen Platz, sondern teilt ein existenzielles Feld mit all den anderen Eistenzen. Die Realität dieses Feldes hängt wiederum von der Abweichung der Einzelnen ab, von jeder Art des Bewohnens außerhalb des Zentrums, oder um es anders zu sagen, vom gelebten Außen.

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