Laruelle zur Differenz (Nietzsche/Deleuze) – (Heidegger/Derrida)

Während die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts von Geschichte und Dialektik besessen war, sind die Schlüsselbegriffe des zwanzigsten Jahrhunderts “Differenz” und “Endlichkeit”. Die Differenz wird in den Werken von Nietzsche und Deleuze behandelt. Eine Verbindung von Differenz und Endlichkeit findet sich bei Heidegger und Derrida, die für Laruelle die “griechisch-römische” bzw. “jüdische” Erfahrung der Differenz vertreten. Wenn Derrida von einer infinitesimalen, “fast absoluten” Nähe und zugleich von einer radikalen Differenz zu Hegel spricht, dann betont Laruelle an dieser Stelle die Differenz.

Die Differenz ist ein philosophischer Begriff. Aber auch wenn man die eine oder andere Form von Differenz im alltäglichen Sinne betrachtet, als Unterschied zwischen etwas A und etwas anderem B, impliziert dies eine Art Konzept, insofern diese Differenz durch eine Relation zwischen A und B definiert ist, eine Relation, die durch dieses Konzept repräsentiert wird – zum Beispiel “A ist größer als B”. Eine solche Relation kann, wie in der Philosophie, der Mathematik und den Naturwissenschaften üblich, etwas Bekanntes oder Unbekanntes beinhalten, etwas, das dieser Relation oder A und B selbst vorausgeht und sie und die Differenz zwischen ihnen als deren Auswirkungen erst möglich macht.

Ausgehend von Kant gibt es eine Differenz, die auf den diskontinuierlichen Beziehungen basiert, die zwei Entitäten, d.h. die eine oder andere Form des Realen, von einer Repräsentation oder Vorstellung davon trennen. Ausgehend von Hegel lässt sich eine Differenz denken, die durch Transformationen von einer Entität oder einem Zustand einer Entität zu einer anderen definiert wird, Transformationen, die entweder kontinuierlich oder diskontinuierlich sein können.

Das beherrschende Thema der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts ist die “Differenz”, nicht das “Sein”.  Diese Art der Differenz stellt für Laruelle einen Bruch zu einem eher rudimentären Differenzdenken dar, das bei Kant oder Hegel angelegt sein soll. Ein wichtiger Punkt ist, dass hier die Differenz sowohl als “Syntax” als auch als “Realität” funktioniert. Die Differenz als Syntax findet sich in jenen Philosophien, in denen die Dinge ohne Rest reziprok bestimmt werden. Laruelle liest sowohl Nietzsche als auch Deleuze als Antirealisten dieser Art. Die Differenz als Realität findet sich in der Heideggerschen Endlichkeit, wo immer etwas hinter dem immanenten Spiel der Kräfte in der Welt zurückbleibt. In beiden Fällen spricht die Differenz das Grundproblem der griechisch-okzidentalen Tradition an: den Streit der Gegensätze innerhalb eines Einen. In der westlichen Philosophie dreht sich alles um Mischungen, aber Laruelle empfiehlt uns, die Philosophie zugunsten einer unmittelbareren und nicht-idealistischen Erfahrung des Einen aufzugeben.

Selbst bei Heidegger, dem großen Gegner der Immanenz, finden wir laut Laruelle ein reversibles Verhältnis, in dem gegensätzliche Begriffe wie Entzug und Lichtung ineinander verwoben sind. Heidegger bleibt letztendlich doch in einer “transzendentalen Syntax” gefangen. Denn während er in seinen Oppositionen immer dem tieferen der beiden Begriffe den Vorzug gibt, ist der tiefere Begriff nur durch seine Einschreibung in die zugängliche Oberfläche der Welt sinnvoll. Dies zeigt sich in Heideggers häufigem Gebrauch von Tautologien wie “die Sprache spricht”, in denen dann doch nichts als ein zurückgezogenes Substantiv außerhalb ihrer konkreten Handlungen bleibt. Für Laruelle ist der Übergang zur transzendentalen Ebene eine Invariante der gesamten Philosophie, die für immer in einem immanenten Duell der Differenzen gefangen bleibt.

Heidegger wendet sich nicht gegen Kants Ding an sich, aber Nietzsche verbannt die Endlichkeit zugunsten einer “Autoposition” der Dinge, s dass sie von nichts Tieferem als von sich selbst abhängig sind. Während sowohl Nietzsche als auch Deleuze auf der wechselseitigen Zirkularität ko-abhängiger Begriffe verharren, besteht Heidegger darauf, dass sich etwas hinter die weltliche Immanenz zurückzieht. Idealisten wie Hegel haben Unrecht, wenn sie die Endlichkeit als ein bloßes Symptom des gesunden Menschenverstandes behandeln, und Heidegger hat Recht, wenn er die Endlichkeit zu einem Prinzip des Realismus macht. Nichtsdestotrotz haben wir in seiner ontologischen Differenz eine “Verflechtung”, in der das Sein das Ontische braucht. Heidegger ist es nicht gelungen zu zeigen, dass die Unterwerfung der Differenz unter “das Andere” unumkehrbar ist, da Sein und Ontik zu sehr voneinander abhängig bleiben.

Hegels Ansatz ist für Laruelle aussichtslos, denn er bleibt ganz in der Syntax der sich gegenseitig bedingenden Begriffe und verwandelt die herkömmliche griechisch-abendländische Philosophie lediglich in ein Spiegelspiel. Die Hegelianer wollen den Heideggerschen Rückzug unter die “Logik des Wesens” subsumieren, aber die Differenz der Endlichkeit zu Hegels System ist keine spezifische Differenz und kann daher nicht unter die Dialektik subsumiert werden. Wer versucht, ein “Reales” außerhalb Hegels zu finden, wird immer des Rückfalls in den Kantianismus bezichtigt werden, aber Heidegger reinigt für Laruelle Kants Ding an sich von jedem erkenntnistheoretischen Sinn und gibt uns einen radikal nicht-relationalen Begriff der Differenz. Nietzsche bleibt wie Hegel ein Idealist und gibt uns einen rein differenziellen Begriff von Kraft, in dem der Wille zur Macht nur in seinen Beziehungen wirksam wird.

 Im Gegensatz zu Heidegger stellt Derrida dem Bereich der Gegenwart (oder des Logos) keinen zurückgezogenen Anderen entgegen. Stattdessen stellt er jedem bestimmten Logos einen Logos gegenüber, der als unendlicher Fluss betrachtet wird. Anstatt tiefer als die Immanenz zu gehen, unterbricht Derrida sie seitlich, indem er die Instabilität ihrer Konfigurationen aufzeigt, obwohl er seltsamerweise auf absolute Alterität angewiesen bleibt, um Schnitte im Fluss zu ermöglichen. Laruelle weistwiederholt darauf hin, dass es sich hierbei um eine “jüdische” Strategie handelt, die jedoch zugunsten des rein griechischen Konzepts der Differenz funktioniert. Die Differenz beinhaltet bei Derrida im Gegensatz zu einem ökonomische Umweg, der in den Elementen desselben immer darauf abzielt, zur Gegenwart zurückzukehren, die durch (bewusste oder unbewusste) Berechnung aufgeschoben wurden, die différance als Beziehung zu einer unmöglichen Gegenwart, als Ausgabe ohne Reserve, als irreparabler Verlust und Verbrauch von Energie, das heißt, als Todestrieb. „Différance” ist das “noch Unbenennbare“, für das es keinen Namen geben kann, nicht einmal den Namen “Sein”, nicht einmal den Namen “différance”, die keine reine nominelle Einheit ist und sich unaufhörlich in einer Kette unterschiedlicher und aufschiebender Substitutionen verrenkt. Für Laruelle gibt es Namen für das Reale, das selbst aber nicht benannt werden kann

Laruelle selbst verteidigt eine nicht-griechische Konzeption des Einen, das als eine radikal immanente Einheit betrachtet wird. Das Reale ist nicht entzogen, sondern so unmittelbar evident, dass nur die Philosophie es vergessen kann. Trotz der Zugänglichkeit des Einen ist es keine Idee, und das unterscheidet es von dem Einen des Neuplatonismus und macht es zu etwas Neuem in der Geschichte des Denkens. Das Reale ist Jenseits des Denkens, das zwar für Wirkungen verantwortlich ist, aber jenseits der Möglichkeit liegt, in Form dieser Wirkungen dargestellt zu werden. Daraus folgt, dass die Begriffe oder zumindest Konzepte von “jenseits”, “Differenz” oder “real” letztlich auch nicht auf das Reale zutreffen können, obwohl sie auf die Wirkungen dieses Realen zutreffen können. Das Reale ist verschlossen, aber nicht undenkbar. ,Hier liegt eine Annäherung an Kant, für den das Undenkbare  immer noch eine Instanz des menschlichen Denkens. Ist. Man kann dies aber weiter radikalisieren, indem man vom realen behauptet, dass es existiert, ohne irgendwelche Behauptungen über seinen Charakter aufzustellen, denn dies sind Behauptungen, die verschiedene Konzepte der Realität-im-Denken definieren, die oft mit Begriffen wie Realismus oder Ontologie verbunden sind.

Die gesamte Philosophie beruht für Laruelle auf einer Entscheidung, die einen “halluzinatorischen” Charakter hat. Die Entscheidung ist ein Prozess, in dem ein Schnitt im empirischen Bereich nach einem idealisierenden Gesetz gemacht wird. Dadurch entsteht eine neue Art von Kluft, die sich von der Kluft zwischen Empirie und Ideal unterscheidet, in der das Gesetz für real gehalten wird. Doch im Licht des Einen oder Realen sind solche Entscheidungen von einer tiefgreifenden Kontingenz geprägt, die Laruelle das “(Nicht-)Eine” nennt. Das Eine ist weder entscheidbar noch determinierbar. Nichts erlaubt es uns, zwischen Hegel, Heidegger und Nietzsche oder zwischen Deleuze und Derrida zu wählen, da alle Gefangene eines bestimmten Spiels sind und das unmittelbare Eine nicht kennen.  Alle philosophischen Entscheidungen sind für Laruelle von einer gleichen Absurdität geprägt. Das Eine ist nichts weniger als eine “Bestimmung in letzter Instanz”, die unmittelbar immanente Grundlage aller philosophischen Entscheidung.

Nach oben scrollen