Über die aktuelle Revolte in Chile

Alles fing vor wenigen Tagen mit eher überschaubaren Aktionen von einigen hundert Schüler*innen und Student*innen gegen Fahrpreiserhöhungen in der Hauptstadt Santiago de Chile an. Doch vor 2 Tagen explodierte dann die allgemeine Wut und es kam landesweit zu Massenprotesten und Unruhen, am Freitag vor allem in der Hauptstadt. Zur allgemeinen Misere, unter der immer mehr Chilenen leiden, sollten nun auch noch die Strompreise erhöht werden. Innerhalb weniger Stunden blieb praktisch keine der 164 Metrostationen in Santiago de Chile unbeschädigt, einige wurde komplett abgebrannt, ebenso wie einige Züge. Straßenschlachten mit den Bullen, Plünderungen von Supermärkten, der ENEL Tower, ein Wahrzeichen der Hauptstadt, in dem ein multinationales Energieunternehmen seinen Sitz hat, wurde komplett niedergebrannt.

Am Samstagmorgen dann die Reaktion der Regierung. Der Ausnahmezustand samt eines nächtlichen Ausgangsverbotes wurde verhängt und erstmals seit dem Regime der faschistischen Generäle, die Salvador Allende gestürzt hatten, rollten wieder Panzer durch die Straßen der chilenischen Städte.

Doch diese unverhohlene Drohung mit der faschistischen Option zeitigte keine Wirkung. Im Gegenteil, am Samstag und in der Nacht zum Sonntag weiteten sich die Unruhen im gesamten Lande weiter aus, überall wurde geplündert, Niederlassungen von Banken und Handelsketten zerstört, sich Auseinandersetzungen mit den Bullen geliefert. An vielen Orten sind die Menschen mit leeren Händen den Panzern der Armee gegenüber getreten.

Schon in der Nacht zu Sonntag ruderte dann die Regierung zurück. Öffentlich wurde zugesagt, die Fahrpreiserhöhung zurückzunehmen. Dies kam allerdings zu spät für die drei Menschen, die unter bisher ungeklärten Umständen bei einem Brand in einem geplünderten Supermarkt ums Leben kamen. Dass es bisher nicht noch mehr Tote gab, gleicht einem Wunder. Auf zahlreichen in den sozialen Netzwerken geposteten Videos ist der Einsatz von scharfer Munition durch die Repressionsorgane in der Nacht zum Sonntag dokumentiert. Ob sich die allgemeine Revolte schon erschöpft hat, werden die nächsten Stunden und Tage zeigen.

Es folgt eine Übersetzung eines aktuellen Berichts von anarchistischen Gefährt*innen aus Chile

Bericht von der proletarischen Revolte in Santiago

Die gestrigen Ereignisse am 18. Oktober öffneten eine Büchse der Pandora des proletarischen Aufstandes in Chile. Von nun an ist es unmöglich vorauszusagen, was passieren wird. Das Proletariat ist auf der Straße, in allen Teilen der Stadt gibt es Barrikaden und Massenproteste und weder Militärs noch Bullen können seine dezentrale und anarchische Bewegung stoppen.

Die Fahrpreiserhöhung hat sich als die berühmte Spitze des Eisbergs herausgestellt, doch eigentlich wusste jeder, dass dies alles eine tickende Zeitbombe war.

Die unerträgliche Prekarisierung des Lebens, eine immer schlimmer werdende Trockenheit, die Lebenshaltungskosten, die ein unverschämt hohes Niveau erreichen, so dass 80% der Bevölkerung in Verschuldung leben, die Rentenversicherung hat sich als historischer Betrug erwiesen.

Zweifellos war der Aufstand in Ecuador ein Auslöseimpuls für die großen Mengen wütender Menschen, die sich im Kampf unserer Brüder und Schwestern im Norden wiederfanden. Es mangelt also nicht an Beweggründen.

Auf den Straßen kann man die Wut, die Empörung, den Hass auf die politische Klasse spüren und gleichzeitig die Solidarität, den Taumel und die Ekstase des Aufstandes. Schulter an Schulter, gegen diejenigen, die uns unterdrücken. So viele Busse wurden abgefackelt, die ENEL Unternehmenszentrale hat man in Flammen aufgehen lassen, 7 U-Bahn-Stationen, die durch Feuer komplett verkohlt wurden, mehrere Fälle von Plünderungen von Supermärkten und Unternehmen und ein Denkmal für die Polizisten und ihre Flagge ging in Flammen auf. Die Stadt wütet in allen Ecken und Enden.

Heute ist es der 19. Oktober und es gibt keine Anzeichen für ein Ende. Piñera [Chiles Präsident] hat umgehend Militäreinsätze angeordnet, doch auf den Straßen haben die Menschen trotzdem begonnen, sich zu versammeln und die Straßen zu verschanzen, die Cacerolazos (1) begannen um 12 Uhr und verwandelten sich schnell in Straßendemonstrationen. Die allgemeine Stimmung ist geprägt von Angst und Wut über die Militärpräsenz, die sofort an die Diktatur

[von Pinochet]

erinnert. Aber die Empörung ist stärker denn je, sie liegt in der Luft, die man im Kampf atmet: Diese Tage werden Geschichte schreiben.

Von den Straßen Santiagos aus, mit dem Herzen in der Hand und der Leidenschaft, die alte Welt brennen zu sehen, rufen wir international zur Solidarität und zur Ausweitung der Revolte auf. Wir wissen, dass dies nur der Anfang von etwas Schönem ist, wenn auch nicht frei von Schmerzen, so wie das Leben selbst.

Hic rhodus hic Salta!

(1) Das bekannte Sich- Versammeln mit leeren Töpfen, die mensch gegeneinander schlägt.

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