Wenn die Aufstände geboren werden

Flammende Kommentare zu dem Flächenbrand, der durch die Ermordung von Naël in Nanterre am 27. Juni ausgelöst wurde.

Im Sturm auf die alte Welt

Eine ganze Jugend stürmte die alte Welt und ihre falschen Versprechungen. Rathäuser, Schulen, Mediatheken, Kulturzentren, Supermärkte, Banken, Optiker: Was sich in den Nächten des 27. und 28. Juni abspielte, ging weit über die Frage der Polizeigewalt hinaus. Mit einer einzigen Bewegung erklärte die Jugend der Polizei den Krieg, da sie der Meinung war, dass die Schwelle des Erträglichen in der Polizei Herrschaft überschritten worden war. Und es ist nur natürlich, dass sie beschlossen hat, den Konflikt auf das Terrain der politischen und wirtschaftlichen Herrschaft zu verlagern, die auf ihrem Leben und ihrer Zukunft lastet. Anders und schon gar nicht getrennt lassen sich die Angriffe dieser beiden Nächte – und alle, die noch folgen werden – nicht verstehen.

Ruhm für die Aufständischen

Auf die Ermordung ihres Bruders durch eine Kugel antwortete die aufgegebene und ghettoisierte Jugend mit einer kompromisslosen Feuerflut. Zunächst gegen die Polizei, dann gegen alle gesellschaftlichen Kräfte, die an ihrem Ausschluss und ihrer Unterdrückung beteiligt sind. In Clichy warf ein Aufständischer etwas, das wie eine scharfe Granate aussah, auf Polizisten. In Roubaix wurde ein sogenannter Mörser mit 800 Schuss pro Minute eingesetzt, um die Ordnungskräfte in Schach zu halten. In Vigneux wurden Überwachungskameras mit Schusswaffen ausgeschaltet. In Neuilly-sur-Marne drangen Aufständische auf den Parkplatz der Polizeistation ein und setzten die Fahrzeuge der Stadtpolizei in Brand. Es gibt unzählige Polizeireviere, die mit mehr oder weniger Erfolg angegriffen wurden. In Dammarie-les-Lys und Trappes zwang die Organisiertheit der Aufständischen die Polizisten, ihre Polizeistation zu verlassen. Auch die Rathäuser bekamen ihr Fett weg: Das Rathaus von Val Fourré in Mantes-la-Jolie ging ebenso in Flammen auf wie das von Garges-lès-Gonnesse. Das von Mons-en-Barouel wurde verwüstet und geplündert. Amiens, l’Île-Saint-Denis, Montreuil, Romainville: Die Liste der Rathäuser, die ins Visier genommen und in Mitleidenschaft gezogen wurden, ist so lang wie Sarkozys Anklageerhebungen. In Nanterre wurde die Präfektur von Feuerwerkskünstlern ins Visier genommen. Gleichzeitig griffen die Flammen auf Busse und Straßenbahnen, Schulen und Kulturzentren, Supermärkte und Fast-Food-Restaurants, Optiker und Banken über. In der Nacht des 28. Juni, während ein Abgeordneter von La France insoumise, der am Vortag in Nanterre bei der politischen Vereinnahmung erwischt worden war, sich von seiner Strafe erholte, griffen Aufständische das Gefängnis von Fresnes an und zwangen den Staat, aus Angst vor einem Massenausbruch die RAID einzusetzen.

Keine Distanzierung wird toleriert

Das kleine Karussell der Linken, die es eilig hat, die Revolte zu vereinnahmen und sich als Sprachrohr und legitime Vertreterin dieser aufständischen Jugend zu etablieren, ist eingerostet. Sein Quietschen ist nervig. In den Zonen des geografischen Abstiegs und der sozialen Ausgrenzung, in denen der Staat seine unerwünschten Personen parkt, reichen die Versprechungen der öffentlichen Politik nicht mehr aus. Ebenso wenig wie Petitionen, die die Auflösung der BRAV-M fordern. Eine Gesellschaftsordnung lässt sich ebenso wenig auflösen wie ein Aufstand oder eine Generation. Das hat die Jugend verstanden. Ihre Revolte ist eine kompromisslose Kritik an allen Aspekten ihres beherrschten Lebens. Genug von den überteuerten, beschissenen Transportmitteln, die gerade einmal dazu taugen, einen zur Kohlengrube zu bringen, in denen bewaffnete paramilitärische Rekruten patrouillieren. Genug von den Schulen und der kulturellen Betreuung, die ihre Formatierung durchsetzen und alles Lernen dem Imperativ der Berufs- und Arbeitsberatung unterwerfen. Genug von Aldi und Lidl, wo dich alles an deine Armut erinnert und alle deine Entscheidungen erzwungen werden. Genug von den Straßen ohne Zukunft, die mit Überwachungskameras und Polizeipatrouillen markiert sind, die deinen Lebenshorizont zerstören und die du aus Mangel zu lieben gelernt hast. Genug von McDonald’s und seinen seelenlosen Burgern, genug vom Optiker und seinen überteuerten Brillengestellen, genug vom Geldautomaten, der unsere leeren Taschen verspottet. Wir haben all diese falschen Bedürfnisse und künstlichen Wünsche satt, die uns auferlegt werden.

Panik an Bord

Der rechtsgerichtete Bürgermeister von Neuilly-sur-Marne erklärte heute Morgen: “Es ist das Wesen des öffentlichen Sektors und der Republik, das heute angegriffen wird.” Vorgestern geißelte die NUPES-Abgeordnete Sabrina Sebaihi diejenigen, die es eilig haben, die Jugendlichen in den Arbeitervierteln als “Wilde” hinzustellen. Auf beiden Seiten des Parteienspektrums herrscht Panik. Wie kann man die Ordnung wiederherstellen, ohne zu sehr unter der Unordnung zu leiden – oder sogar von ihr profitieren? In der Regierung mehren sich die Signale, nicht ohne Widersprüche: Schweigeminute in der Versammlung und Redebeiträge von Darmanin, Einsatz von Drohnen im Eilverfahren und Ankündigung, 40 000 Polizisten im ganzen Land einzusetzen. Während die politische Klasse aktiv wird, gehen die Menschen nach draußen. Der Platz vor der Präfektur in Nanterre quillt bereits über. Jeder weiß, dass der weiße Marsch für Naël eine weiße Nacht für die Schweine ankündigt.

Der Sturm auf den Himmel

Das reibungslose Funktionieren der politischen, wirtschaftlichen und polizeilichen Herrschaft dieser Gesellschaft steht auf dem Spiel. In den Arbeitervierteln haben die inländischen Exilanten keinen Ort mehr, an den sie gehen können. Sie weigern sich, sich mit ihrem Zustand als universelle Fremde abzufinden. Sie wissen, dass keine öffentliche Politik ihre Probleme lösen wird, denn sie wissen, dass diese Welt auf ihrer Ausgrenzung aufgebaut wurde und nur durch sie aufrechterhalten wird. Sie tragen eine neue Welt in ihren Herzen. Sie wissen, dass sie, um sie erblühen zu sehen, ihre Betonhölle zertrümmern und ihre erbitterten Verteidiger ein für alle Mal loswerden müssen. Polizisten, Politiker, Beamte, Bosse, Stadtplaner: Sie werden nicht ewig damit durchkommen. Etwas hat sich geändert. Diese Jugend ist zu einer selbstbewussten Kraft geworden. Sie spürt den Himmel an ihren Fingerspitzen.

Gerechtigkeit für alle. Würde für alle. Freiheit für alle.

Die Aufständischen in der Metropole

Erschienen am  30.Juni 2023 auf Paris-Luttes.Info, ins Deutsche übertragen von Bonustracks.

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