Wenn Menschenrechte wie Öl und Kapital zirkulieren – Deleuze und Baudrillard zur Farce der Menschenrechte

Im ABC sagt Deleuze: “Hören Sie, dieser Respekt vor den ‘Rechten des Menschen’ – das bringt mich wirklich dazu, fast abscheuliche Aussagen zu machen. Es gehört so sehr zu dem schwachen Denken der leeren intellektuellen Periode, über die wir vorhin gesprochen haben. Es ist rein abstrakt diese ‘Rechte des Menschen’. Was sind sie? Sie sind rein abstrakt, völlig leer.”

In ihrem Buch “Was ist Philosophie?” bezeichnen Deleuze/Guattari die Menschenrechte als “Universalien” und “Axiome”, die auf sehr heuchlerische Weise “den Anspruch erheben, die Gesellschaft der Freunde oder gar der Weisen wiederherzustellen, indem sie eine universelle Meinung als ‘Konsens’ bilden, die in der Lage ist, Nationen, den Staat und den Markt zu moralisieren.” In Wirklichkeit sind die Menschenrechte jedoch nur “leere Abstraktionen, die dem Denken der Schwachköpfe angehören.” Die Menschenrechte und insbesondere ihre Erklärungen werden, wie Deleuze feststellt, “nie in Abhängigkeit von den Menschen gemacht, die direkt betroffen sind.”  Daher vernachlässigen sie nicht nur in der Regel die Menschen, die sie schützen und denen sie eine Stimme geben sollen, sondern sie sind auch Komplizen der Herrschaftspolitik des Kapitals. So werden die Menschenrechte kompromittiert, indem sie nach den Wünschen des globalen Kapitalismus “menschliches Elend” erzeugen, ohne die Bedürfnisse des sogenannten Subjekts und seines Schutzes zu berücksichtigen.

Deleuze resümiert: Man könnte meinen, man befände sich in einer Geschichte von Marquis de Sade. Kolonialisierte und arme Menschen durchleben die schlimmsten Torturen, die der Mensch ihnen antut, und wenn sie sich in Sicherheit bringen, ist es die Natur, die sich einmischt. Wenn man von ‘den Rechten des Menschen’ spricht, so ist das für Deleuze nur ein intellektueller Diskurs für abscheuliche Intellektuelle. Für Intellektuelle, die keine Ideen haben. Deleuze ist zudem aufgefallen, dass diese Erklärungen nie von den Menschen abgegeben werden, die direkt betroffen sind.

 Wenn es eine erfolgreiche Darstellung der Menschenrechte gäbe, dann müssten einzigartigen Fälle in ihrer Besonderheit behandelt und es müsste versucht werden, innovative Lösungen zu finden, die das besondere Problem, mit dem sie konfrontiert sind, widerspiegeln und zum Ausdruck bringen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Das Menschenrechtsdenken ist so tief in “ewigen Werten” und festen Normen verwurzelt, die vom wirklichen Leben weit entfernt sind, dass sie die Besonderheiten jedes einzelnen Falles völlig übersehen. So kommt es, dass die Bedürfnisse bestimmter Menschen in einer ganz bestimmten Situation gemäß den Normen statischer Werte, die “von oben” kommen, kompromittiert werden, und zwar völlig losgelöst von den konkreten Bedürfnissen des Lebens. Letztlich werden die Rechte auf leere Allgemeinplätze reduziert, die einen Konsens bilden, der wiederum konkrete und einzigartige Singularitäten in bloße Abstraktionen verwandelt.

Schon Marx oder Burke haben die Leere und Abstraktion der Rechte angegriffen. Was Deleuzes Kritik an den Rechten jedoch einzigartig macht, ist seine Bezugnahme auf das Problem der “Transzendenz” und die Art und Weise, wie sich die Transzendenz auf das bezieht, was er als das Problem eines Denkens ansieht, das die Menschenrechte beherrscht.  Wie Deleuze feststellt, werden die Menschenrechte als “ewige Werte” wahrgenommen, und als solche führen sie “neue Formen der Transzendenz” ein. Diese Sichtweise entspricht der Nietzsche’schen Lesart von Deleuze und seinem Verständnis von Moral als transzendent, die durch ihre ewigen Werte unsere Lebensweise diktiert und prägt, aber in Wirklichkeit verbergen diese Werte einen heimtückischen “Hass auf das Leben”.

Deleuze’ Immanenz verlangt nach einer anderen Ethik, im Gegensatz zur Moral, die – trotz einer postreligiösen oder sogar säkularen Sprache – theologische Züge trägt. Die Menschenrechte sind mittlerweile zu einer Art “säkularer Theologie” geworden. Daher wendet sich Deleuze gegen die Vorstellung von Moral als transzendentem Wert – eine Vorstellung, die vorschreibt, “was gut und was böse ist”, etwas, das vom Leben losgelöst ist und als Richter fungiert, der auf der Grundlage der “Gebote” ewiger Werte urteilt. Diese Vorstellung von transzendenten Menschenrechten und ihren moralischen, ewigen Werten hat zur Folge, dass alle neuen Möglichkeiten des ethischen Lebens, des Experimentierens und Schaffens eingeschränkt werden. In seinem zweiten Buch über Spinoza erklärt Deleuze, dass transzendente Werte und Moral all diese Dinge sind, “die sich gegen das Leben wenden.” Er fährt fort, indem er darauf hinweist, dass es die Moral und die Transzendenz sind, die “das Leben durch Kategorien von Gut und Böse, von Schuld und Verdienst, von Sünde und Erlösung vergiften.” Menschenrechte sind das Opium einer säkulären Theologie.

Letztlich hat all das dazu geführt, dass wir nur noch blind den Werten, Regeln und Normen folgen, die “von oben” kommen, ohne überhaupt zu prüfen, ob und warum wir einem solchen transzendenten Moralkodex folgen müssen. Wer oder was auch immer sich weigert, den Regeln zu folgen, wird nach dieser Logik als Gegner des Fortschritts, ja sogar als böse oder unmenschlich bezeichnet und muss daher bekämpft und ausgerottet werden. Die Menschenrechte werden so zu einem göttlichen Status erhoben, der angeblich die eine, objektive Wahrheit enthält. Auf diese Weise reduziert uns der blinde Glaube an die Rechte und ihre Werte auf rachsüchtige Geister der Ressentiments, die völlig vom Leben getrennt sind, und versetzt uns in einen ständig urteilenden Modus des Seins und Denkens.

In einem Interview über das Werk von Michel Foucault erklärt Deleuze, dass es beiden  darum geht, “verschiedene Arten des Existierens zu etablieren, je nachdem, wie man die Linie der Kräfte faltet, oder Möglichkeiten des Lebens zu erfinden, die auch vom Tod abhängen, von unseren Beziehungen zum Tod: nicht als Subjekt, sondern als Kunstwerk zu existieren.”

Allerdings muss man zur Frage der Ethik auch Folgendes bedenken: Fairness ist  heute das Korrelat des »Ethik-als-Politik« Paradigmas. Warum? Weil Fairness annimmt, dass wir zu Jedem dieselbe Art von Beziehung unterhalten sollten. Es gibt aber nichts auf dieser Welt, das uns zu einer universellen Fairness ermutigen könnte oder uns gemäß einer gegenseitigen Unterstützung von jedweden Interessen handeln ließe. Vielmehr leben wir in einer Welt, in der jeder dem Anderen misstraut – wir haben ein strukturell determiniertes Interesse gegenüber den Anderen gemein und erfolgreich auf Kosten der Anderen zu sein. Fairness, so wie sie heute existiert, ist die Fairness des neoliberalen Wettbewerbs; ein Staat, der sich als natürlicher Staat proklamiert.

Unser “Mangel an Experimenten” hat uns also für Deleuze in eine nihilistische Pattsituation geführt . Nur durch eine radikale Neubewertung unserer transzendenten, ewigen Werte haben wir die Möglichkeit – um Antonin Artaud zu paraphrasieren – das Urteil unseres (säkularen) Gottes/unserer Götter aufzuheben.

Für Baudrillard ist der Nihilismus von heute der einer “überbeleuchteten” Welt, in der das Licht der Vernunft in jeden dunklen Winkel eingedrungen ist. Dennoch gibt es einen Sinn, in dem das Licht nicht anders kann, als Schatten zu werfen, und Baudrillard besteht auf der Kontinuität des Nichts unter der totalen Verwirklichung der Welt, dem Versuch, alles in etwas zu verwandeln. Wie die Verführung, die für das Funktionieren der Simulation notwendig ist, ist das Nichts notwendig für die transfiniten Systeme der Bedeutung. Das Nichts ist, wie Baudrillard sagt, der Hintergrund, vor dem sich die Dinge abheben, und es ist notwendig für jede kohärente Bedeutung. Das Fortbestehen des Nichts ist jedoch mehr als ein bloßes Überleben des zeitgenössischen Nihilismus, sondern deutet auf die Möglichkeit hin, den Nihilismus zu vollenden und zu überwinden. Je mehr sich transfinite Systeme ausdehnen, desto mehr Nichts bleibt übrig (sowohl im negativen als auch im positiven Sinne, als Quantifizierer und Substantiv). Dies deutet auf die Möglichkeit hin, einen Zustand zu erreichen, in dem der Nihilismus in dem Sinne vollendet ist, dass wirklich nichts mehr übrig ist; sowohl in dem Sinne, dass sich transfinite Systeme vollständig ausgedehnt haben, als auch in dem Sinne, dass aller Wert ausgelöscht ist und es nur noch das Nichts gibt. Um eine Analogie zu Nietzsche zu ziehen, wäre dies der Punkt, an dem der vollständige Nihilismus erreicht ist, weil sich die höchsten Werte selbst entwertet haben.

Man kann den Afropessimisten Calvin Warren in diese Richtung lesen. Für ihn ist das Ziel des schwarzen Nihilismus, die unüberbrückbare Kluft zwischen Sein und Funktion für das Schwarze aufzudecken. Das Rätsel der Schwärze besteht  darin, dass sie in einer antischwarzen Welt ohne Sein funktioniert – so wie das “Nichts” philosophisch ohne unser metaphysisches Verständnis des Seins funktioniert Die Metaphysik ist sowohl von der Schwärze als auch vom Nichts besessen, und die beiden werden zu Synonymen für das, was die metaphysische Organisation und Form durchbricht. Der Neger ist schwarz, weil der Neger in einer metaphysischen Welt die Funktion des Nichts übernehmen muss. Die Welt braucht diese Arbeit. Diese Besessenheit verwandelt sich jedoch auch in Hass, denn das Nichts ist unverbesserlich – es erschüttert die ontologische Grundlage und Sicherheit. Das Nichts macht der Metaphysik Angst, und die Metaphysik versucht, es zu beherrschen, indem sie das Nichts in ein Objekt der Erkenntnis verwandelt, in etwas, das sie beherrschen, analysieren, berechnen und schematisieren kann. Schließlich geht es um die Absurdität, dass irgendein Recht jemals die Formulierung der schwarzen Existenz als Nichtexistenz ändern könnte. Jedes wiederherstellende Recht, das wir uns vorstellen können, würde die politische Gemeinschaft zerstören. Schwarze Rechte wären das Ende der Menschenrechte.

Baudrillard wird konkreter als Deleuze und konstatiert eine trügerische Analogie zwischen den Begriffen des Universellen und des Globalen. Während Menschenrechte, Freiheit und Demokratie den universellen Werten der westlichen Aufklärung zugerechnet werden könnten, zeichne sich die Globalisierung durch Techniken, Markt, Tourismus, Finanz, Information aus. Die sogenannten universellen Werte existieren nur noch als Waren, Produkte und Objekte/Dinge, die frei und offen zirkulieren, getauscht, gekauft, verkauft, spekuliert und investiert werden (wie jedes andere “globale Produkt” wie “Öl” oder sogar “Kapital”, sagt Baudrillard) und von Kunden auf der ganzen Welt konsumiert oder begehrt werden (Menschenrechte und Demokratie sind für ihren Zeichenwert genauso wichtig wie ein Paar Nike-Schuhe, ein BigMac oder das neueste Taylor Swift-Album). Baudrillard sieht die westliche Universalität im Schwinden begriffen, während die Globalisierung anscheinend irreversibel ist. Die Universalisierung oder der Traum der Aufklärung von einer universellen Verbreitung westlicher Werte wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte, die um die Figur eines allwissenden und allmächtigen moralischen und rationalen Subjekts zentriert sind, verschwindet in dem Maße, wie die Globalisierung das soziale, kulturelle und wirtschaftliche Leben übernimmt. Jede Kultur, die sich zu universalisieren versuche, verlöre ihre Singularität und müsse unweigerlich absterben, so die Diagnose von Baudrillard. Er konstatiert, dass die Universalisierung, die sich in der Aufklärung noch als Fortschrittsdiskurs dargestellt habe, sich heute als endlose Wucherung der Werte inklusive ihrer Neutralisierung vollziehe. Er schreibt: „Dasselbe geschieht unter anderem den Menschenrechten, der Demokratie; ihre Expansion entspricht ihrer schwächsten Definition, ihrer maximalen Entropie.“  Menschenrechte, Demokratie und Freiheit zirkulieren heute global in einem entropischen Modus. Den Menschenrechten geht es schließlich wie den untoten Menschen, denen industrielle Gadgets implantiert werden und die als posthumane Horrorclowns überleben. Menschen und ihr lebendige Arbeit waren einstmals ein Versprechen, aber der Prozess der Maschinisierung hat sie nicht unbedingt intelligenter gemacht (denn ansonsten würde die Frage der Maschinenrechte aufkommen). Am Ende ist das Schauspiel der Menschenrechte ein reines Produkt der Simulationsmaschinen. Das Phantasma der Menschenrechte, die letzte Krücke eines vollkommenen Programms des Lebens, ist der Effekt von Maschinen, die von Menschen begleitet werden, welche das Leben zum Fetisch erhebe, um es an anderer Stelle bedenkenlos zu opfern. Er konstatiert, dass die Universalisierung, die sich in der Aufklärung noch als Fortschrittsdiskurs dargestellt habe, sich heute als endlose Wucherung der Werte inklusive ihrer Neutralisierung vollziehe. Er schreibt: „Dasselbe geschieht unter anderem den Menschenrechten, der Demokratie; ihre Expansion entspricht ihrer schwächsten Definition, ihrer maximalen Entropie.“  Menschenrechte, Demokratie und Freiheit zirkulieren heute global in einem entropischen Modus.“ Den Menschenrechten geht es schließlich wie den untoten Menschen, denen industrielle Gadgets implantiert werden und die als posthumane Horrorclowns überleben. Menschen und ihr lebendige Arbeit waren einstmals ein Versprechen, aber der Prozess der Maschinisierung hat sie nicht unbedingt intelligenter gemacht (denn ansonsten würde die Frage der Maschinenrechte aufkommen). Am Ende ist das Schauspiel der Menschenrechte ein reines Produkt der Simulationsmaschinen.

Die globale Kultur ist nicht nur einheitlich (überall gleich), sondern auch virtuell. “Bildschirme, Netzwerke, Immanenz und Zahlen” definieren sie und eliminieren Konzepte, sich eine Zeit und einen Raum für das Denken zu schaffen. Entscheidend ist, dass die virtuelle globale Kultur indifferent ist. Für Baudrillard bedeutet dies, dass die Globalisierung die Differenz oder Andersartigkeit durch die Gleichheit oder Uniformität der visuellen/virtuellen Erscheinungen beseitigt, die durch die Technologie verstärkt werden. Aber die globale Kultur löscht auch die Differenz als eine Frage des Abstands, der Entfernung, der Verzögerung, der Nichtgleichwertigkeit oder der Unterscheidung zwischen Objekt und Subjekt oder zwischen Zeichen und Konzept aus. Während universelle Werte auf Konzepten beruhten (und auf einer notwendigen referenziellen oder repräsentativen Distanz zwischen Ideen/Idealen und der sozialen, politischen und kulturellen Realität), hinterlässt die Indifferenz globaler kultureller Formen und Produkte ein “Raum-Zeit-Kontinuum ohne Tiefe”. Eine Äquivalenz von Zeichen und Objekten anstelle von Werten und Konzepten, eine “Äquivalenz aller Austausche”, ermöglicht “die Vorherrschaft der technischen Effizienz und Positivität, der totalen Organisation [und] der integralen Zirkulation”, die für Baudrillard die wichtigsten Operationen sind, durch die die globale Kultur das Soziale übernimmt.

Hans-Joachim Lenger schreibt: “Mit dem Zusammenbruch dieser Bipolarität (USA-Sowjetunion), im Zeichen des Globalen, also neuer imperialer Konkurrenzen jedoch zerfallen nicht nur diese Raumordnungen, um neu verfügt zu werden. Mit ihm zerfällt auch die Logik dieser gehegten Barbarei. Von nun antreten sich die Mächte des »Guten« und des »Bösen« unmittelbar gegenüber, um ihre definitive Vernichtung in Szene zu setzen. Die Diskriminierungen des Feindes, die ihn »für verbrecherisch und unmenschlich erklären, für einen totalen Unwert, ist Signum dieser hereinbrechenden Epoche. In ihr wird die militärische Vernichtung im Zeichen der Menschenrechte und einer Ökonomie in Szene gesetzt, die vorbehaltlos im Zeichen ihrer eigenen »Globalisierung « steht. Militärisch, politisch und ökonomisch schreiben sich »virtuelle« Ökonomien, topografische Entortungen und die Digitalismender Zeitkriege in Trugbildern des »Globalen« nieder, in denen sich der Anspruch auf eine unendliche Beherrschung der Zeit als Ende der Zeiten selbst ausgesprochen haben soll.”


Baudrillard scheint hin- und hergerissen; einerseits konstatiert die Suspension der westlichen Leitwerte oder sogar den Untergang derselben in der Globalisierung, die wiederum nur den Tausch und das Kapital universalisiert habe, andererseits spricht er von der entropischen und zugleich endlosen Zirkulation der universellen Werte im kapitalistischen Modus. Baudrillard schreibt: „Zunächst globalisiert sich der Markt, die Promiskuität jeglichen Tausches und aller Produkte, der fortgesetzte Fluss des Geldes. Kulturell bedeutet dies die Promiskuität aller Zeichen, aller Werte, das heißt Pornographie … Am Ende dieses Prozesses gibt es keine Differenz zwischen dem Globalen und dem Universellen mehr, das Universelle wird selbst globalisiert, die Demokratie und die Menschenrechte zirkulieren genau wie jedes andere globale Produkt, wie Erdöl oder das Kapital.“ Dass Baudrillard unentschieden zu sein scheint und nicht konsequent die zweite Position einnimmt, mag damit zusammenhängen, dass er unterschwellig die Gleichsetzung von Moderne, Technokultur und Kapital/Kapitalismus vornimmt. Dieser Gleichsetzung folgend hat dann die Postmoderne als eine besondere kulturelle Formation bzw. als eine Phase des Kapitalismus zu gelten, die wahlweise als Informationskapitalismus, Konsumgesellschaft, kognitiver oder simulativer oder kybernetischer Kapitalismus beschrieben wird.

Solange die universellen Werte noch eine gewisse Legitimität besaßen, konnten die Singularitäten als Differenzen in ein System integriert werden. Baudrillard hat das Mantra der Differenzphilosophie, noch bevor Laruelle seinen umfassenden Angriff auf diese gestartet hat, im Konsum entdeckt. Baudrillard schreibt diesbezüglich: „Entscheidend jedoch ist dieser Zwang zur Relativität insofern, als er den Bezugsrahmen für eine nie endende differenzielle Positionierung bildet“. Damit sei es nun aber im Zuge der Globalisierung vorbei: „…nun aber gelingt es ihnen (den Werten) nicht mehr, da die triumphierende Globalisierung mit allen Differenzen und Werten tabula rasa macht, indem sie eine vollkommen indifferente Kultur oder Unkultur einbringt.“ Baudrillard bleibt auch hier begrifflich ungenau, erkennt aber durchaus eine Tendenz. Randy Martin hat in seinem Buch Empire of Indifference gezeigt, dass Indifferenz und endlose Zirkulation zusammengehören und heute selbst noch die asymmetrischen, kleinen Kriege im globalen Netz zirkulieren. Mehr noch, die entsprechenden Interventionen drehen sich um die Möglichkeit zu zirkulieren, im Gegensatz zur Möglichkeit Souveränität zu proklamieren. Für Martin handelt es sich dabei um einen ähnlichen Shift wie den vom Shareholder, der die Aktien eines Unternhemens hält, zu dem des Traders von Derivaten, der Reichtum durch das Management von Risiken erzeugt. Die unbeabsichtigte Konsequenz dieses Risikomanagements, das Martin sowohl bei der globalen Finanzialisierung als auch beim US-Empire am Werk sieht, besteht in der bloßen Verschärfung der Volatilität dessen, was sie beinhaltet. Daraus ergibt sich ein teuflischer Kreislauf der Destabilisierung und der derivativen Kriege, eine Charakterisierung, die Martin das „Empire of Indifference“ nennt. Dieses Empire zeichne sich nicht länger durch Fortschritt oder Entwicklung aus, sondern verspricht seinen Insassen nur noch das Management einer immerwährenden Gegenwart von Risikomöglichkeiten. In der totalitären, i.e. indifferenten Sichtweise des Neoliberalismus gibt es schließlich nur noch Kapital, inklusive Humankapital. Folgerichtig intendieren und multiplizieren gegenwärtige neoliberale Politiken die beständige Modulation des ökonomischen Risikos für den Einzelnen und die statistische Sortierung der Bevölkerung, nämlich in diejenigen, die angesichts des Risikos erfolgreich sind und solche, die es definitiv nicht sind – und nichts anderes heißt eben „at-risk“ zu sein. Und entsprechend bewegt sich die neoliberale Governance in der Tendenz von der geschlossenen Institution hin zum digitalen Netzwerk, von der Institution hin zum Prozess, vom Befehl hin zur (repressiven) Selbstorganisation. Obgleich er ein politisches Programm beinhaltet, gestaltet sich der Neoliberalismus anti-sozial, mehr noch das Anti-Soziale ist der modus operandi des neoliberalen Staates, und dies bedeutet zugleich Indifferenz als Teil seiner öffentlichen Fratze. Risikopopuluationen beinhalten Governance als die Gouvernementalität der Indifferenz. Die Governance übersieht aber nicht einfach das Hedgen von Interessen gegen Interessen, sondern sie testet die Möglichkeit der Bevölkerung Interessen zu produzieren, und dies im Namen der spekulativen Kapitalakkumulation. Diese Art des Risikomanagements impliziert das universelle Zirkulieren des monetären Kapitals und mit ihm das der Werte, der Menschenrechte und der Demokratie. Der Zirkulation wiederum korrespondiert die digitale Vernetzung bzw. der Bildschirm des Globalen als eindimensionales Universum. Es bildet sich eine Indifferenzzone zwischen der Imagination (der Bilder) und der Realität heraus. In dieser Zone zirkuliert die Gewalt in den Bildern, die Gewalt der Bilder und die Gewalt durch die Bilder und im Zusammenspiel karikieren sie permanent die Menschenrechte, die schließlich von einer kultivierten Gewalt kaum noch zu trennen sind. Unter dem Deckmantel der Humanität wird gerade in den Medien eine Politik betrieben, die rein auf Effekte aus ist. Wenn es um die Ausstellung des Reinen, des Sauberen und des Guten geht, gibt es für den Politiker keinen Grund mehr zur Zurückhaltung: Die Bösen, das sind immer die Anderen.

Baudrillard konstatiert hier wieder eine Tendenz: Kapitalisierung und die ihr entsprechenden digitalen Netzwerke emergieren eine sanfte Vernichtung, eine kommunikatiuve und genetische Gewalt, die viral prozessiert und auf den totalitären Konsens aus ist. Sei es dahingestellt, ob Baudrillards Theorie des Viralen hier angebracht ist, so ist doch richtig, dass diese Art der Gewalt jede Negativität und Singularität auszuschließen versucht. Mehr noch, und dies stellt wiederum den Begriff der Homogenisierung und den der Indifferenz in Frage: Die umfassende Inklusion kann sich heute auch über Divergenz oder Disjunktion vollziehen. Disjunktion ist eine pure Relation, eine Bewegung von reziproken und zugleich asymmetríschen Implikationen, die Differenz als solche ausdrücken. Und Differenz ist Kommunikation, Infektion oder Virulenz durch Heterogenität, wobei die Vernetzung hier darin besteht, dass verschiedene Seiten so miteinander kommunizieren, dass keine Einheit, Fusion oder Synthesis zustande kommt. Inklusive Disjunktion bedeutet fremde Elemente in Kommunikation zu versetzen, ohne dass eine einheitliche Logik benötigt wird. Man muss heute über die Konnektivität pessimistisch denken. Deleuze spricht von der Kommunikation als einem kommerziellen professionellen Training, vom Marketing und der Transformation der Philosophie in Werbeslogans. Dem hält er Leerstellen der Nicht-Kommunikation entgegen, die sowohl dem Zirkel der Kommunikation und der Kontrolle wie auch der Diffusion der Differenzen durch Inklusion entkommen können. Innerhalb des Systems der Inklusion ist die Differenz ein Mittel, mit dem die Macht und das Kapital ihre Herrschaft perpetuieren wollen. Die Effekte dieser temporalen Modulation sind Ereignisse, eine Menge von nicht verifizierbaren Stories, unüberprüfbaren Statistiken und unhaltbaren Begründungen. Die sich beschleunigende Geschwindigkeit macht Netzwerk-Medien wie das Internet zu einer brodelnden Suppe für Verschwörungen und Unterstellungen, insofern das schiere Volumen der Teilnehmer und die unglaubliche Geschwindigkeit der Akkumulation von Informationen dazu führt, dass in der Zeit, in der eine konspirative Theorie zu Grabe getragen wird, längst neues Material für viele weitere Verschwörungstheorien schon zu zirkulieren begonnen hat. Alles zirkuliert. Der panoptische Blick des Souveräns wird heute durch Berechnung und das Management des Risikos ergänzt und erweitert, wobei die Agenten als Informationsschatten zirkulieren. Die totale Kontrolle der Informationsschatten wird durch die algorithmische Einschließung erreicht. Das Risikomanagement ist konstitutiver Teil der Zirkulation des Geldkapitals und mit dessen globaler Zirkulation beginnt alles andere zu zirkulieren, Demokratie und Menschenrechte inklusive.

François Laruelle spricht an dieser Stelle anstatt vom Kapital vom universellen Kapital, und zwar nicht im Sinne einer historisch-sozialen Formation, sondern einer universellen „Logik“, der alle ökonomischen, sozialen und politischen Phänomene zu- und untergeordnet sind. Die monetäre Profitproduktion des Kapitals umfasst heute eine allgemeine Surplusproduktion, die den Geldmehrwert nicht nur aus der Arbeit, sondern aus der Kommunikation, aus der Geschwindigkeit und aus der Dringlichkeit des Wandels extrahiert. Und das Kapital generiert den Surplus sogar durch die Herstellung von Wissen, Bildern, Marketing und Slogans. Möglicherweise extrahiert es ihn aus der Demokratie und aus den Menschenrechten. Dieses universelle Kapital arbeitet hartnäckiger als jede bisher historisch vorfindbare Formation an der Besitzergreifung des Surplus, es ist aktiver und verfolgt, sortiert und leitet die Menschen intensiver als jede bisherige Form der Kontrolle, es agiert softer und zugleich hinterlistiger als alle bisherigen Formen der frontalen Attacke, bleibt dabei aber pervers wie jede Form der Spionage und der Anklage und zeigt sich zugleich weniger brutal als die offene Vernichtung, weniger ritualisiert als die Inquisition – oder, um es kurz auszudrücken: Das »universelle Kapital« geht soft und dispersiv, instantan und bösartig vor. Es ist die reine Schikane.

Wir können daraus den Schluss ziehen, dass das Kapital immer auch seine philosophische und politische Legitimation benötigt. Und so lässt es nicht nur das Geld, den Kredit und sich selbst als Kapital zirkulieren, sondern auch seine legitimatorischen Diskurse, bis hin zu den allgemeinsten Werten, den Menschenrechten und der Demokratie. Als derart zirkulierende Zeichen sind die universellen Werte aber, und darin ist Baudrillard rechtzugeben, neutralisiert und differenziert zugleich, jeder Bedeutung entleert. In der Tat: Ihre Expansion entspricht der schwächsten Definition, ihrer maximalen Entropie.

 Foto: Stefan Paulus

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