Das Dividuum ist der Hohn auf den Anti-Narziss/ kurze Notiz zu Adorno/Anders

Das Dividuum ist der Hohn auf den Anti-Narziss. Es ist die Ausgeburt der Hyper-Dialektik. Eins teilt sich in Zwei. Kann sich der Narziss im Spiegelbild nur zweimal verlieren, indem die Ursache zur Wirkung und das Ganze zum Teil wird, so wird das Dividuum zur unendlichen Teilung gezwungen. Das Dividuum be- und versiegelt das Ende aller molekularen Revolutionen. Die Revolution war molekular, die Konterrevolution war es nicht weniger“, erklären Tiqqun. Wir haben an anderer Stelle mit Bezug auf Deleuze/Guattari ausgeführt, dass Dividuen geteilte Existenzen sind, die einerseits in maschinelle Intra-Verhältnisse integriert sind, andererseits im Individuum ihren Doppelgänger besitzen. Der Anti-Narziss hingegen dis-individuiert sich in die generische Gemeinsamkeit der Alterität. Er ist ein Schamane, der zum Tier wird, nur um zu wissen, welche Dinge dieses als Sein sieht und um dann wiederum das Tier definitiv als Sein zu begreifen. Die Gemeinschaft der Anti-Narzissten ist eine von solchen, die nichts gemeinsam haben, oder Teile von keinem Teil sind. In diesem Kontext ist die kurze Anmerkung zum Begriff des Dividuums bei Günther Anders oder zur organischen Zusammensetzung des Menschen bei Adorno zu verstehen.

Günther Anders hat in seiner Schrift Die Antiquiertheit des Menschen Bd.1 im Kontext der Beschreibung der in den 1950er Jahren aufkommenden Unterhaltungsgeräten und ihren Techniken der Zerstreung auf Mechanismen hingewiesen, welche von nun an beim Individuum konstant verhindern, noch einen Punkt einzunehmen oder „bei sich selbst“ zu sein, stattdessen immer „ubique simul“, also letztendlich nirgendwo zu sein.

Von abhängig Beschäftigten, deren Arbeitsprozesse durch Charakteristika wie Zwang und Langeweile gekennzeichnet seien, könne man nicht mehr erwarten, dass sie in der Freizeit zu sich selbst zurück fänden, und auch wenn sie dies nur wollten würden ihnen die Massenmedien und das durch sie produzierte und gestreute Material (Nachrichten, Semiotypen, Bilder etc.) regelrecht entgegenstürzen – Geschwindigkeit und Nichtstun, Entspannung und Spannung würden sich auch in der Freizeit impulsiv ergänzen, und die derart mobil gewordenen Didividuen könnten schließlich nur noch das Jetzt, i.e jeden Augenblick wechselnde Zeitstellen bewohnen, was bei den Beteiligten zu einer Art artifizieller Schizophrenie führe.

Man kann dies nun als eine wirklich schwarze Vorahnung auf das heute zwischen Depression und ADHS oszillierende Dividuum lesen, das in verschiedene Teilfunktionen geteilt ist und auf einer Welle der leichten Aufmerksamkeit schwebend und/oder manisch inspiriert sich disparaten Beschäftigungen hingibt. Anders schreibt: „Der Mann im Sonnenbad etwa, der seinen Rücken bräunen läßt, während seine Augen durch eine Illustrierte schwimmen, seine Ohren am Sportsmatch teilnehmen, seine Kiefer einen gum kauen – diese Figur des passiven Simultanspielers und vieltätigen Nichtstuers ist eine internationale Alltagserscheinung.“  Und Anders schreibt weiter, dass es heute antiquiert sei, sich auf eine Sache noch zu konzentrieren, um sich darin sich oder etwas finden zu wollen. Somit ließe sich vom Subjekt längst nicht mehr sprechen, denn dieses bestünde nur noch aus verschiedenen Organen – Ohren, Augen und Gaumen -, die mit ihrer speziellen Funktionstauglichkeit an etwas kleben, nämlich am Radio, an Bildern und am chewing gum, und ein solchermaßen zerstreutes Subjekt sei eben das Dividuum oder, wie Anders schreibt, das Divisum. Das Divisum übertrifft in seiner Zerstreutheit bzw. funktionalen Geteiltheit in gewisser Weise noch das Dividuum, das Anders in seinen frühen Studien zur negativen Anthropologie erwähnt hatte, in denen es ihm um die prinzipielle Abgetrenntheit des Menschen von der Welt ging. Im Zuge der Konstatierung einer sich ständig ausbreitenden sozialen Arbeitsteilung kommt bei Anders später der Begriff des Divisums ins Spiel. Die Funktionalität eines Divisums findet man heute z.B bei Beatriz Preciado wieder, wenn sie den sexuellen Körper als das Produkt einer sexuellen Teilung des Fleisches bezeichnet, gemäß der jedes Organ durch seine jeweilige Funktion definiert wird.

Den neuen medialen Gerätenwelten korrespondiert Günther Anders zufolge ein an sie angeschlossenes und zugleich in zahlreiche Perzeptionen und Funktionen geteiltes Divisum, das in seiner affektiven, kognitiven und emotionalen Zersplitterung keine Singularität oder Identität mehr aufbringen kann. Zu diesem neuen Menschen schreibt Anders: „Zerstreut ist er also nicht nur (wie vorhin) über eine Vielzahl von Weltstellen; sondern in eine Pluralität von Einzelfunktionen.“ Dieser Aufteilung in Funktionen entspricht eine gewisse Bindungslosigkeit, die dazu führt, dass man sich schnell von bestimmten Objekten entwöhnt oder diese als reizlos emfindet, ohne allerdings die Gewohnheit selbst aufzugeben, die wiederum schnell Suchtcharakter annehmen kann, man denke etwa an das stundenlange Fernsehen, das im Modus des Zappings erlebt und durchgespielt wird. Durch den Arbeitsprozess daran gewöhnt in verschiedene Funktionen geteilt oder wahlweise in einem einzigen Aufgabenbereich anwesend und damit unselbständig zu sein, muss das Dividuum, da es kein organisierendes Selbst mehr herstellen kann, auch in seiner Freizeit zwangsläufig in einzelne Funktionen auseinanderbrechen und diese wiederum so gut es geht kombinieren. Die funktionellen Organe müssen bei Strafe ihres Untergangs (wäre eines nicht beschäftigt, würde die Leere oder Langeweile hereinbrechen) beschäftigt oder besetzt werden. Wenn nun die Besetzung nicht in Arbeit bestehen soll, dann ist man gezwungen zu genießen; jedes Organ insistiert in einer Funktion, die Konsum oder Genuss anzeigt, der allerdings längst kein positiver zu sein braucht, vielmehr geht er oft genug in das pausenlose oder das serielle Genießen über, für das besonders diejenigen Produkte geeignet sind, die die Gefahr der Sättigung nicht in sich bergen. Der Trieb nach Konsum heftet sich an den strukturierten Gebrauchswert und das strukturierte Bedürfnis, und diese schwarze Allianz führt schließlich dazu, dass die Simultanlieferung simultaner Elemente – bspw. durch die Matrizes des Fernsehens – für das Dividuum der Normalzustand wird. Anders resümiert: „Bis heute hatte die Kulturkritik die Zerstörung des Menschen ausschließlich in dessen Standardisierung gesehen; also darin, daß dem, in ein Serienwesen verwandelten, Individuum eine nur noch numerische Individualität übriggelassen wird. Selbst diese numerische Individualität ist nun also verspielt; der numerische Rest ist selbst noch einmal „dividiert”, das Individuum in ein „Divisum” verwandelt, in eine Mehrzahl von Funktionen zerlegt. Weiter kann offenbar die Zerstörung des Menschen nicht gehen; inhumaner kann offenbar der Mensch nicht werden.“ 

Insofern wäre die vom Neoliberalismus propagierte Unternehmensform als eine besonders schizophrene Form zu kennzeichnen, erfordert sie doch gerade von ökonomisch abhängigen und geteilten Dividuen die unaufhörliche Investition ins eigene „Selbst“, immer darauf bedacht selbst noch beim Einkauf der neuesten Enhancement-Produkte sich flexibel zu halten, sich umzugestalten.

 Als bloßer Agent der Vergesellschaftung, das heißt in einen totalen Funktionszusammenhang integriert, was die Ersetzbarkeit aller durch alle bedeutet, hat auch für Adorno das Individuum zugleich  noch kreativ und flexibel zu sein. Aufgrund der Ersetzbarkeit aller durch alle ist das Individuum zwar objektiv bedeutungslos geworden, bleibt aber in seinem isolierten Für-sich-Sein eine Monade, die sich vor allem um die eigene Selbsterhaltung kümmern muss. Adorno spricht von der Monade der gesellschaftlichen Totalität, das heißt von einem Sozialcharakter, der einerseits bestimmte Leistungen zur Selbsterhaltung und -verwertung zu erbringen fähig ist (über eine gewisse Identität verfügt), andererseits als tendenziell schon prekarisiertes Individuum längst nicht mehr die ökonomische Selbständigkeit besitzt, die dem Bürger angeblich noch eine gewisse Ich-Stärke verliehen hatte, die zur Ausbildung der Monade notwendig ist (“Was immer am Bürgerlichen einmal gut und anständig war, Unabhängigkeit, Beharrlichkeit, Vorausdenken, Umsicht ist verdorben bis ins Innerste. Denn während die bürgerlichen Existenzformen verbissen konserviert werden, ist ihre ökonomische Voraussetzung entfallen.” Adorno, Minima Moralia) Aufgrund seiner Angleichung an die Funktion kann das Individuum die Rationalität eines identischen Ichs nicht mehr ausbilden und in seiner situativ wechselnden Adaption an das jeweils Notwendige kommt es schließlich zur Zerstörung des Selbst, um die Selbsterhaltung überhaupt noch zu sichern. Der Einzelne ist von nun an durch Eigenschaften wie psychische Diskontinuität und Inkohärenz geprägt, sodass sich die Gespaltenheit und Zerrissenheit des negativen Ganzen in der des Einzelnen verdoppelt.

Adorno stellt eine Beziehung zwischen dem Individuum als bloßem Agenten des Wertgesetzes und seiner „inneren Komposition an sich“ (Novissumum Organum) her. Der Begriff „innere Komposition“ verweist auf ein Individuum, das als ein geteiltes „Projekt“ ganze Bündel von Eigenschaften, Motivationen und Verhaltensweisen prozessiert. Diese Eigenschaften, von der Geste der Freundlichkeit über das Servicelächeln bis hin zum cholerischen Aussetzer werden einerseits eintrainiert, dienen andererseits der aktiven Anpassung an die jeweilige Situation. Schließlich sind diese Eigenschaften Adorno zufolge nur noch beliebig transportierbarer Stoff oder leere Masken der Empfindungen. (Hier spielt Adorno auf die Subjektivierung als einer Form der De- und Rekomposition des Bewussteins an. Das Bewusstsein impliziert die Wahrnehmung, die eigenen Leistungen des Gehirns blockieren zu können; es impliziert einen Aufmerksamkeitszustand, der die Aktivitäten des Gehirns fallweise begleitet. Alle geistigen Inhalte sind hier kontrafaktische Inhalte, vom Gehirn dargestellte Wahrscheinlichkeitsverteilungen, das aus Möglichkeiten oder Hypothesen wählt, die es im Moment über die Außenwelt und seinen eigenen Zustand hat. Handeln und Wahrnehmen sind hier identisch, nämlich der Versuch, Vorhersagefehler zu minimieren. Aufmerksamkeit wären dann ein generatives Modell des Gehirns, das permanent versucht, Unsicherheit zu reduzieren und Überraschungen zu vermeiden, indem es immer neue Vorhersagen erzeugt, testet und auf diese Weise die kausale Struktur der Außenwelt extrahiert.) Es kommt unweigerlich zur Pseudoindividualisierung: Je weniger Individuen es gibt, desto mehr Individualismus.

Wenn Adorno von der organischen Zusammensetzung des Menschen spricht, dann gelangt er sehr schnell zu den fremdreferenziellen Bedingungen der Subjektivierung, zur Einschreibung von psychologischen, ökonomischen, technologischen und kulturellen Komponenten, Meinungen und Codes in das Hirn des Individuums. An dieser Stelle sollten wir aber hinsichtlich des Begriffs „organische Zusammensetzung“ nicht auf das Wort „Organismus“ abstellen, vielmehr vermittelt der Begriff „organische Zusammensetzung“ ja zwischen technischer und Wertzusammensetzung des Kapitals. Adorno spricht, wenn er von organischer Zusammensetzung des Menschen spricht, also implizit schon die Technik- und Ökonomieabhängigkeit des Individuums an, ja er formuliert, dass Technik und Ökonomie sich unweigerlich über ihre Codes, Sprachen und Semiotiken in das Individuum einschreiben, wobei in diesen Prozessen der Subjektivierung (Intention, Perzeption und Imagination) bestimmte Eigenschaften geteilt und neu zusammengesetzt werden. In unsere Sprache übersetzt würde dies heißen: Das Dividuum ist in die kollektive Sphäre des Techno-Ökonomischen komplex und gespalten integriert, was im Mentalen permanent Resonanzen erzeugt, während umgekehrt die individuellen Stimmen Resonanzen im kollektiven Körper des Kapitals produzieren. Beide Subjektivierungsformen bleiben einbezogen in ein techo-linguistisch-semiotisches Dispositiv der Super-Kollektivität (des Kapitals), dessen serielle, automatische Ketten des Verhaltens nach den Mustern der Schwärme funktionieren, die wiederum durch spezifische Interfaces und Verkettungen vermittelt werden. Und diese werden durch syntaktische Regeln geshaped.

Foto: Bernhard Weber

Nach oben scrollen