Deleuze/Guattari und der Schizo-Attraktor (Ultrablack of Music 1)

Für Gilles Deleuze befindet sich die Kunst in einer ständigen Spannung, insofern sie zwischen den Polen Chaos und Ordnung oszilliert und ständig zu schizophrenen Aktualisierungen kommen muss, wenn sie aus der Triangulation ausbrechen will. Diese negentropische Metastabilität nimmt bei Deleuze die Form der inklusiven Disjunktion (weder … noch/ dieses oder dieses und/oder dieses und/oder dieses) an, das heißt die Form einer paradoxalen Instanz oder eines aleatorischen Punktes. Die asymmetrische Relationen zwischen Virtuellem und Aktuellem und Optischem und Hörbarem bestätigen diese Figur. Man könnte an dieser Stelle den Lorenz-Attraktor erwähnen, der sonische und visuelle Intensitäten zwischen den Polaritäten des Chaos und der Ordnung oder der Differenz und der Wiederholung verteilt, wobei über bestimmte Passagen hinweg Grenzen überschritten werden, die zur Formation von fremden Attraktoren führen, in denen ganz die kontinuierliche Variation oder der asymptotische Orbit der fraktalen Dimension regiert. Man könnte vom »Chaosmos« sprechen oder von der chaotischen Form der Kunst, die sich selbst in den Zwischenräumen des Werdens erhält.

Für Deleuze/Guattari ist eine der wichtigen Fragen in der Musik, ob das Ungeformte, wenn es das Chaos trassiert, innerhalb des Gefüges des Hörbaren oder der Musik gehört werden kann. (Das Ungeformte ist nicht gleich Noise oder Rauschen.) Und man kommt dann schnell zu einer weiteren Frage, ob nämlich überhaupt eine Passage (der Deterritorialisierung) zwischen Musik und Noise, die dem Ungeformten nahe ist, existiert und durch musikalische Ereignisse aktualisiert werden kann (Sound, nicht Musik). Musik wiederum ist immer einen (absolut) diskreten Schritt vom Chaos entfernt. Sie kann nur gehört werden, wenn sie sich als Form hörbar macht, wobei sie innerhalb von dynamischen Modellen und Relationen geformt wird. Die deleuzianische Deterritorialisierung bringt eine Destrukturierung der je schon artikulierten Musik mit sich und führt zu einem Zustand, der noch hörbar ist, aber eben nicht mehr als klassisch organisierte Musik, sondern als Sound-Ereignis, das aber für Deleuze immer noch der Konsistenz einer Komposition bedarf; diese Art der Musik berührt die Mimikry an das Chaos und erfordert keinerlei Repräsentation. Für Deleuze/Guattari ereignen sich die ungeformten Sound-Ereignisse innerhalb des dreidimensionalen Rhizoms und nicht in einem zweidimensionalen Vektorraum. Ein pures Material jenseits musikalischer Strukturen dient hier der Generierung von Sound, der in seinem Werden nicht-signifizierend ist, das heißt, der Sound gehört weder der Sprache noch dem Sinn an; er ist kein Song, obgleich er als solcher erscheinen mag. Deterritorialisierung heißt, den Sound als Unentscheidbarkeit (zwischen Hörbarem und nicht-Hörbarem) zu hören-denken. Von vornherein wäre Musik dann nicht einmal mehr organisierter Sound, sondern die diagrammatische Konstitution einer kontrafaktischen Raumzeit, die zudem eine Transformation des Hörens innerhalb der Möglichkeiten ermöglicht, die eine solche Sound-Musik anbietet. Wenn man diesen Typus der Musik nicht in toto theoretisieren kann, dann deshalb nicht, weil man diese Musik nicht hören kann, sondern weil sie das Ungehörte im Hörbaren bleibt. Musik/Sound fragt hier nach dem Unmittelbaren, ohne es zu aktualisieren. Die Frage nach dem Unmittelbaren richtet sich an etwas Undenkbares oder Unentscheidbares oder an etwas, das einen neuen Typus der Relation zwischen zwei Bereichen herstellt, zwischen dem Realen und dem Scheinbaren, dem Willen und der Idee, dem Original und der Kopie: Ein Problem der Resonanz und des Simulakrums.

An dieser Stelle schleicht sich in das Simulakrum schnell die These von der Metamorphose ein, die ein immanentes Entwicklungsprinzip ist, das sich mittels des musikalischen Terms der entwickelnden Variation aktualisiert: Eine motivische Keimzelle entwickelt sich über Variation und Translation zu einem musikalischen Stück. Dafür ist die Polyphonie konstitutiv, die eine perspektivische Komplexität im Sinne der Bündelung von Einzelperspektiven zu einer Gesamtperspektive vereint. Die Polyphonie organisiert den horizontalen Verlauf (Melodie, Rhythmus) und die vertikale Schichtung (Harmonie), indem sie die beiden Parts ineinander verschränkt. Dies muss aber überhaupt nicht stimmig sein und muss sich auch zu keinem Stück abschließen, vielmehr kann hier die Dissonanz und das Stück-Werk wirken, je schon eingebunden in das Ereignis. Aber in gewisser Weise bleibt dies immer ein Prozess der Reterritorialisierung, denn die Dissonanz muss letztendlich durch die Konsonanz substituiert werden, um die Harmonie der Tonfolgen einzuhalten. Dieser Prozess bestätigt die Hegemonie des Tons, der vor allem durch die Tonhöhe bestimmt wird, weshalb die Musik und Musiktheorie des Westens sich bis heute am Tonhöhensystem als dem dominierenden Parameter orientieren. Im Zentrum der Komposition stehen hier zudem Tonika, Dominante und Subdominante, wobei erstere die beiden anderen Komponenten dominiert. Schönbergs Zwölftonmusik will sich dieser Systematizität durch die Einführung der Atonalität entziehen, entwickelt aber wiederum selbst ein in sich geschlossenes System, das die freie Atonalität verhindert. Eine freie Polyphonie assoziiert hingegen Adorno, in der Mehrstimmigkeit dadurch erreicht wird, dass jede Stimme und jedes Instrument in ihren Verläufen nichtidentisch bleiben und so gerade »Harmonie« herstellen, ohne dass die Nichtidentität der Themen und Verläufe eben reduziert wird. Daraus ergibt sich für Adorno eine ideale Kollektivität.

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