Der achtzehnte Brumaire des Donald J. Trump: Die Klassenkämpfe in den USA und die lange Krise des Kapitals

„Sie wollen Euch zerstören und sie wollen unser Land zerstören, aber das wird nicht passieren!“ versicherte US-Präsident Donald J. Trump seinen AnhängerInnen unter tosendem Applaus bei der Bekanntgabe seiner erneuten Kandidatur auf das Amt des POTUS am 19. Juni 2019. Sein Wahlsieg im November 2016 und die sich anschließende Präsidentschaft markieren für weite Teile der amerikanischen Gesellschaft eine historische Zäsur, die in Anspielung auf „9/11“ auch mit „11/9“ bezeichnet wurde. Seit der Wahl des Immobilienunternehmers zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten ist für viele nichts mehr wie zuvor. Die SZ schrieb von einer „Zäsur für die USA und die Welt,“ während die New York Times treffender von einer „erstaunlichen Ablehnung des Establishments“ sprach. Vor allem die Welt der liberalen Demokraten war angesichts des Einzugs der obszönen Medienpersönlichkeit ins Weiße Haus aus den Fugen geraten. Nichts schien sie im Innersten zusammen zu halten: kein Gesellschaftsvertrag, keine List der Vernunft und auch nicht die bürgerliche Zivilgesellschaft, die selbst Schauplatz der Kämpfe um kulturelle und politische Vorherrschaft ist, wie wir spätestens seit Antonio Gramsci wissen. Anders als in den 1960er und 1970er Jahren, in denen sich innerhalb der westlichen Industriegesellschaften eine linksliberale und später neoliberale kulturelle Hegemonie herauszubilden begann, ist die Trump-Regierung gleichzeitig das Ergebnis und die Möglichkeitsbedingung einer nationalchauvinistischen (Gegen-)Hegemonie. Der liberale Konsens ist aufgebrochen; die Rezession hat die vielbeschworene Mitte der Gesellschaft erreicht und bedroht unmittelbar die Existenz derer, die nicht am Wohlstand teilhaben. Der Keynesianische Klassenkompromiss der wachstumsstarken Nachkriegsboom-Jahre 1945-1973 ist lange aufgekündigt und ad absurdum geführt worden: durch anhaltende Krise und neoliberale Austeritätspolitik. Der Staat kann und will den sozialen Frieden nicht länger erkaufen.

Der Wahlerfolg des Rechtspopulisten und Nationalchauvinisten Trump wurde dennoch von allgemeiner Fassungslosigkeit und medial inszenierter Empörung begleitet. Hierzu ein kleines Aperçu: Am 5. Mai 1969, zwei Wochen nachdem Studierende und Aktivisten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes mehr oder weniger erfolgreich Theodor W. Adornos Vorlesung an der Frankfurter Goethe-Universität gesprengt hatten, führte Der Spiegel ein Interview mit dem Sozialphilosophen.

Interviewer: „Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung …“

Adorno: „Mir nicht.“

Adornos lakonische Antwort, die quasi sans phrase auf die Frage der gesellschaftlichen Totalität und deren bestimmter Negation abhebt, erscheint wie ein passender Kommentar auch zur heutigen Situation. Nein, es handelt sich nicht um eine historische Zäsur. Nein, man muss nicht mit Fassungslosigkeit und Empörung reagieren, um seine moralische Integrität zu beweisen. Ja, der Glaube an die glückliche Ehe von Kapitalismus und liberaler Demokratie – an einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz – ist auch im Westen nachhaltig erschüttert. Selbst der neoliberal bis neokonservative Politikwissenschaftler Francis Fukuyama glaubt nicht länger an das „Ende der Geschichte“.1 Mit Adornos Kollegen Max Horkheimer gesprochen könnte man auch sagen: „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch von Trump schweigen“.2 Trump ist ein Symptom der Krise des Kapitals und nur als politische Reaktion auf eben diese adäquat zu begreifen, auch wenn der vielzitierte „whitelash“ gegen die Obama-Regierung dabei eine gewichtige Rolle spielt. Ob die implizierte Analogie mit dem historischen Faschismus in Europa wirklich hilfreich ist, um Trump und den globalen Aufstieg der Neuen Rechten (Orbán, Kaczynski, Modi, Duterte, Erdoğan, Bolsonaro, etc.) zu verstehen, ist hingegen fraglich, wie der US-amerikanische Historiker und Soziologe Dylan Riley gezeigt hat.3 Das soll aber im Umkehrschluss nicht heißen, dass keine Faschisierung des US-amerikanischen Staates und der Gesellschaft zu erkennen ist4.

Überdeutliche Parallelen bestehen allerdings (auch nach Riley) zwischen Trumps Aufstieg und dem Bonapartismus des 19. Jahrhunderts, wie ihn Karl Marx in Der achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte schon 1852 analysiert und 1869 in einem eindringlichen Vorwort kommentiert hat. Dort argumentiert Marx kontra Victor Hugo und Pierre-Joseph Proudhon und zeigt „wie der Klassenkampf in Frankreich Umstände und Verhältnisse schuf, welche einer mittelmäßigen und grotesken Personage das Spiel der Heldenrolle ermöglichen“.5 Die New Yorker Philosophen Sam Miller und Harrison Fluss haben schon im Dezember 2016 auf das Projekt eines „amerikanischen Bonapartismus“ und die zentrale Rolle des Reaktionärs Trump hingewiesen: “Die politischen Parallelen zwischen dem Frankreich des 19. Jahrhunderts und dem Amerika des 21. Jahrhunderts sind ebenso bemerkenswert wie aufschlussreich. Sogar das Datum des 9. Novembers korrespondiert mit dem 18. Brumaire des Französischen Revolutionskalenders. Beide Länder haben die [materiellen und symbolischen] Bedingungen für den Aufstieg autoritärer Politik durch die zunehmende Verzweiflung und Verelendung der Arbeiterklasse sowie eine dezimierte Linke geschaffen, die sich kapitalistischen Parteien untergeordnet haben“.6 Diese Situation war und ist die Bedingung dafür, dass vor allem Arme, prekarisierte LohnarbeiterInnen und das von Abstiegsängsten geplagte Kleinbürgertum, aber auch republikanische Eliten, dem „Sirenengesang rechter Autokraten“ (Miller und Fluss) anheim fielen und fallen.

„Das eine Mal als Tragödie, das andere mal als Farce“ (Marx): Bonapartes chauvinistische Reden nehmen Trumps berüchtigte Wahlkampftiraden gleich in mehrerer Hinsicht vorweg. Beide verstehen sich vortrefflich darauf, die ökonomische Krise und die Schwäche der Linken mit den Mitteln des Rechtspopulismus und Nationalchauvinismus für sich auszunutzen. Tatsächlich klingt Marxens Beschreibung des Louis Bonaparte heute wie ein historisches Echo der clownshaften Medienpersönlichkeit Donald J. Trump: „unbeholfen-verschlagen, schurkisch-naiv, tölpelhaft-sublim, ein berechneter Aberglaube, eine pathetische Burleske, ein genial-alberner Anachronismus, eine weltgeschichtliche Eulenspiegelei, unentzifferbare Hieroglyphe für den Verstand der Zivilisierten – trug dies Symbol unverkennbar die Physiognomie der Klasse, welche innerhalb der Zivilisation die Barbarei vertritt“.7 Der US-amerikanische Bonapartismus des Multimilliardärs Trump lenkt die Aufmerksamkeit auf rassifizierte Sündenböcke, um nicht über kapitalistische Widersprüche und Klassenherrschaft sprechen zu müssen, während er konsequent an einer weiteren Machtkonzentration an der Spitze des Staates arbeitet. Zugleich beschuldigt er undurchsichtige globalen Eliten („globalists“) und das internationale ‚Finanzwesen‘, das Leben gewöhnlicher amerikanischer Arbeiter zu zerstören und verbindet so zentrale Elemente des Antisemitismus (“Hillary Clinton meets in secret with international banks to plot the destruction of U.S. sovereignty”) mit anti-schwarzem, anti-mexikanischem und islamophobem Rassismus (“They’re taking our manufacturing jobs. They’re taking our money. They’re killing us”).8

Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie und seine Analyse des Bonapartismus sollten keineswegs mit einem ökonomischen Determinismus verwechselt werden: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“, formulierte Marx im Mai 1852.9 Geschichte wird nach wie vor gemacht, auch wenn das Kapital unter Bedingungen der „reellen Subsumtion“ der Arbeit unter das Kapital selbst als „automatisches Subjekt“ der Geschichte erscheint – im Sinne der kapitalistischen Selbstverwertung des Werts, der aber ein soziales Verhältnis bleibt.10 Viel zu häufig tritt die radikale Kritik kapitalistischer Beziehungen und die Analyse der Konturen und Determinanten der globalen Krise aber zugunsten eines medialen und institutionellen Kulturkampfes zwischen selbsternannten „progressiven“ und multikulturellen Bildungseliten einerseits und nationalchauvinistischen, rassistischen und misogynen „deplorables“ (Hillary Clinton) andererseits zurück. Gemeinsam ist beiden dabei in der Regel, ungeachtet aller moralischen und politischen Differenzen, eine Kulturalisierung des sozialen, politisch-ökonomischen Antagonismus. Das Kapital als soziales Verhältnis und die Widersprüche der Kapitalakkumulation auf globaler Ebene werden so naturalisiert.

Dies gilt auch für das dezidiert sozialdemokratische Lager um Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez und die Democratic Socialists of America (DSA). Diese kritisieren zwar zu Recht vehement die verfehlte Steuer-, Gesundheits-, Bildungs- und Handelspolitik beider Parteien, aber klammern dabei die systemischen Widersprüche und die aktuelle Akkumulationskrise ebenso systematisch aus wie die neoliberalen Demokraten und rechts-konservativen Republikaner. Man möchte ihnen zurufen was Marx bereits in seinen „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ so prägnant festgehalten hat: „Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren sucht, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt“.11 Marxistische Ökonomen, Historiker und Sozialphilosophen wie James Boggs, Robert Brenner, Paul Mattick, Michael Roberts, Giovanni Arrighi, Beverly Silvers, Aaron Benanav oder Moishe Postone haben die „lange Krise“ der Kapitals seit den frühen 1970er Jahren eindringlich beschrieben, aber außerhalb sozialwissenschaftlicher Diskurse und marxistischer Gruppen findet diese noch immer kaum Beachtung.12 Dass die öffentliche Debatte statt dessen gleichzeitig ständig um die Themen Profitabilität, Automatisierung, Digitalisierung und globalen Wettbewerb kreist, ist wiederum als symptomatisch zu verstehen.

Die aktuelle Krise (seit 2007/08), zu der sich die politischen Lager – nicht nur in den USA – notwendigerweise irgendwie verhalten müssen, nimmt die Erscheinungsform einer allgemeinen Entwertung an, die eine Neujustierung der Ausbeutungsbedingungen nach sich zieht und durch exorbitante Staatsausgaben in die finanzpolitische Sackgasse führt. Der Staat ist zugleich Voraussetzung und Resultat der Bedingungen der Kapitalanhäufung. So drückt sich die derzeitige Krise auch als Krise des Staates aus, die wiederum in Gestalt von Konjunkturprogrammen, Liquiditätsspritzen, Sozialabbau und schlussendlich Repression erscheint, und zwar weitgehend unabhängig davon, ob der Staat politisch durch liberale oder autoritäre Kräfte dominiert wird. Nicht zufällig existiert die vielfach lamentierte „Politikverdrossenheit“ Seite an Seite mit dem Aufstieg populistischer und autoritärer Kräfte einerseits sowie der Intensivierung von globalen Klassenkämpfen andererseits. Liberale Regierungen werben für eine Willkommenskultur und die gezielte Anwerbung von Fachkräften, aber schieben gleichzeitig immer „konsequenter“ und „effektiver“ ab und räumen dem Überwachungs- und Polizeiapparat immer weitergehende Befugnisse ein. Ökonomische Nationalisten rufen nach Mauern und der Militarisierung von Grenzen, um sich Flüchtlinge und Migranten quasi vom nationalen Leib zu halten. Die Krise von 2007/08 hat die materiellen Bedingungen der Lohnarbeit eindeutig weiter verschlechtert; in den USA lag die Erwerbsbeteiligung 2015 auf dem niedrigsten Stand seit 36 Jahren, trotz der gefeierten Schaffung von Niedriglohnjobs. Für denjenigen Teil des Proletariats, der weder arbeitslos noch vollständig aus der aktiven Erwerbsbevölkerung herausgefallen ist („the working poor“) und somit in den Arbeitslosenstatistiken kaum noch auftaucht, sind überwiegend prekäre und informelle Beschäftigungsformen ohne festes Einkommen im Angebot: Leih-, Teilzeit- und Saisonarbeit oder Selbständigkeit.13

Der gegenwärtige Überschuss an Kapital, der keine dauerhaft ausreichenden Investitionsmöglichkeiten mehr findet, verstärkt den effektiven Rückgang des Bedarfs nach Arbeitskraft. In der Kritik der politischen Ökonomie erfährt dieses Phänomen seinen systematischen Ausdruck im „allgemeinen Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ (Das Kapital, Kapitel 23): Mit dem Wachstum des Gesamtkapitals, das aus der Steigerung der Produktivität der Arbeit folgt, wird, gemessen an den Erfordernissen des Verwertungsprozesses, ein Großteil der Arbeitskraft überflüssig. Diese Tendenz entsteht nach Marx aus dem Wesen des Kapitals selbst. Es entfaltet die Arbeit als Anhängsel seines eigenen produktiven Vermögens und verringert die Menge gesellschaftlich notwendiger Arbeit, wodurch die Mehrwertrate erhöht wird. Relativ nimmt die Menge erforderlicher notwendiger Arbeit daher beständig ab. Dies vollzieht sich durch die wachsende organische Zusammensetzung des Kapitals: Die Konkurrenz zwischen den Einzelkapitalien bedingt eine Verallgemeinerung arbeitssparender Technologien wie der Automatisierung und führt so zu einer relativen Abnahme der Nachfrage nach Arbeitskraft.

Die Produktion dieser „relativen Über[schuss]bevölkerung“ (vulgo: Arbeitslose und Unterbeschäftigte) ist gleichbedeutend mit einer Entwertung der Arbeitskraft insgesamt in Form einer Verdrängung der Arbeit aus dem Produktionsprozess sowie der Unmöglichkeit, sie durch die üblichen rechtlich regulierten Kanäle zu absorbieren. Wenn die Arbeitskraft des Proletariats sich nicht realisieren kann, wenn sie für die Realisierung des Kapitals nicht notwendig ist, „dann erscheint sie außerhalb der Bedingungen ihrer eigenen Reproduktion gesetzt“.14 Die Reproduktion des Proletariats gerät in eine Krise. Der US-amerikanische Krisentheoretiker Joshua Clover nennt das treffend die „Produktion der Nichtproduktion“. Diese hat auch zur Folge, dass sich Klassenkämpfe neben dem klassischen Arbeitskampf der gewerkschaftlich organisierten Lohnarbeiter in der Produktion zunehmend auch in der Sphäre der Zirkulation abspielen, in die das postfordistische Kapital wegen des tendenziellen Falls der Profitrate drängt. Diese umfasst den (Finanz-)Markt, die Warenzirkulation hin zur Konsumption sowie notwendige Formen von Arbeit (Logistik, Dienstleistungen) zur Realisierung ihres Wertes. In die Zirkulation werden aber auch diejenigen (Surplus-)Proletariarer geworfen, die zwar weiterhin marktabhängig sind, aber nicht länger in Lohn und Brot stehen, einfach weil das Kapital sie nicht länger braucht.15

Es ist wenig überraschend, dass dieses Surplus-Proletariat überall im Westen häufig rassifiziert ist. Die Profitfähigkeit des Kapitals hing immer schon von der Produktion und Reproduktion sozialer Differenz ab; in flauen Arbeitsmärkten erfährt der Apparat der Lohnunterschiede aber einen Umschlag vom Quantitativen ins Qualitative. Das „beschäftigungsfreie Wachstum“ seit 1980 ging tatsächlich mit einer Arbeitslosenrate unter bspw. schwarzen Amerikanern einher, die mehr als doppelt so hoch lag wie die durchschnittliche und schließlich u.a. zu einer Expansion des Gefängnissystems zur Verwaltung des menschlichen Surplus führte. Der Prozess der Rassifizierung ist selbst aufs Engste mit der Produktion von Überschussbevölkerungen verschränkt: „Der Aufstieg des anti-schwarzen US-Gefängnisstaats seit den 1970er Jahren dient als Beispiel für Rituale staatlicher und ziviler Gewalt, die eine Rassifizierung von einkommenslosem Leben sowie eine rassistische Zuschreibung von Einkommenslosigkeit erzwingen. Aus Perspektive des Kapitals konstituiert sich „Rasse“ nicht nur durch anhaltende rassifizierte Lohnunterschiede oder die von früheren Arbeitsmarktteilungstheorien postulierte Berufssegregation, sondern erneut durch die Rassifizierung einkommensloser Überschussbevölkerungen von Khartum bis zu den Slums von Kairo“.16

In den Vereinigten Staaten funktioniert das Gefängnissystem seit den späten 1970er Jahren zunehmend als eine besonders perfide Form dessen, was David Harvey allgemein als „spatial fix“ bezeichnet – eine Krisenstrategie, die zumindest temporär erlaubt, das Problem der Überakkumulation von Kapital und überflüssig gewordenen Arbeitern zu lösen.17 Mit 2,3 Millionen Gefangenen ist es nicht nur das größte Gefängnissystem der Welt, sondern erfüllt zudem zwei eng miteinander zusammenhängende soziale Funktion, die nach Loïc Wacquant auch den Schluss zulassen, dass es sich bei der Symbiose aus Gefängnissystem und neoliberaler Austeritätspolitik um die vierte große historische „race-making institution“ nach Sklaverei, Jim Crow (Segregation) und dem innerstädtischen schwarzen Ghetto handelt: Diese „peculiar institutions“ eint, dass sie fortwährend gesellschaftlichen Ausschlusses und soziale Ächtung produzieren, während sie gleichzeitig den Zugriff auf die Arbeitskraft der Ausgeschlossenen (zum Nulltarif) ermöglichen.18 So lassen sich Armut und Krise mit der „rechten Hand des Staates“ (Bourdieu) neoliberal verwalten. Diese Entwicklung haben nicht nur Republikanische Regierungen, sondern auch Demokratische (Bill Clinton, Baraka Obama) im Rahmen des sogenannten „War on Drugs“ forciert. Die Schnittmenge zwischen Demokraten und Republikanern ist in der Regel wesentlich größer als beide zugeben wollen: Austeritätspolitik, Ausbau des Gefängnissystems, Deportationen durch die United States Immigration and Customs Enforcement (ICE), Militarisierung der US-Mexikanischen Grenze, usw. Selbstverständlich bestehen fundamentale Unterschiede und divergente (Kapital-)Interessen zwischen einem zivilgesellschaftlich „progressiven“ Neoliberalismus à la Obama und Clinton auf der einen und Trumps ultrareaktionärem ökonomischen Nationalismus auf der anderen Seite. Polemisch leicht verkürzt ergibt sich aber ein trauriges Bild. Während die neoliberale Doxa TINA („There is no alternative“) aufbricht, erweist sich das nationalchauvinistische Motto MEGA („Make America great again“) als Alternative. Anstelle der Grenzzäune und des bestehenden Grenzregimes plant Trump den Bau einer Grenzmauer zu Mexiko und räumte der ICE immer weitergehende Befugnisse bis hin zur Internierung von Flüchtlingskindern ein.

Wo sich das Kapital zurückzieht, tritt der Staat vor allem in Form der Polizei auf den Plan. In diesem Kontext geht die „staatliche Verwaltung des Surplus-Proletariats“ mit einer „weltweiten geographischen Segmentierung der Arbeitskräfte“ einher, die angesichts immenser Migrations- und Flüchtlingsströme durch Verelendung, Bürgerkriege und Klimawandel sowie der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen urbanen Zentren, Vorstädten und Hinterland noch an Bedeutung gewinnen dürfte.19 Phil Neel hat in diesem Zusammenhang die vielleicht wichtigste Analyse des Amerikanischen Hinterland (2018) vorgelegt. Neels „kommunistische Geografie“ ländlicher, exurbaner und periurbaner sozialer Räum ist ebenfalls stark von der Erkenntnis geprägt, dass der „Charakter

der Produktion [fundamental] den Charakter der Klasse [prägt]“20 und untersucht sowohl den Aufstieg rechtsextremer Milizen wie auch die Rückkehr von Aufständen und (proto-)kommunistischen Akteuren und Bewegungen vor dem Hintergrund der langen Krise des Kapitals, einschließlich der dramatischen Folgen der Erderwärmung. Trumps wesentliche Funktion besteht darin, angesichts der langen Krise des Kapitals das „Ende der Absorption“ (Clover) zu verwalten, d.h. vor allem Grenzen dicht zu machen und Mauern zu bauen, um zumindest temporär den Druck von den Arbeitsmärkten zu nehmen.21 Dass diese Form des ökonomischen Nationalismus nicht nur chauvinistisch, sondern unter den Bedingen eines kapitalistischen Weltsystems auf Dauer unmöglich ist, stört Trump und andere Ultranationalisten sowie die von ihnen repräsentierten Kapitalfraktionen wenig, solange es für sie funktioniert. Ganz ähnlich wie die Leugnung der Erderwärmung, solange diese für sie profitabel ist. Der Faschismus ist sowohl genozidal als auch suizidal, nur benötigt das Kapital heute kein faschistisches Regime im engeren Sinne mehr, um dies zu „erreichen“. Dabei spielt auch der grassierende Neomalthusianismus ein fatale Rolle als ideologischer Kitt auf dem Weg zum Climate Leviathan.22 Die praktischen Vorbereitungen treffen derweil der Staat und sein Grenzregime sowie private und offen faschistische Grenzmilizen.23

Die zentrale Strategie des US-amerikanischen Bonapartismus im Bezug auf die Klassenkämpfe in den USA ist es aber, die nativistisch definierte und prekarisierte Arbeiter- und Mittelklasse Amerikas gegen diejenigen auszuspielen und aufzuhetzen, die bereits von der kapitalistischen Ausbeutung ausgeschlossen und häufig rassifiziert sind. Das Surplus-Proletariat wird als Abjekt gesetzt, Universalismus und Solidariät geächtet und bekämpft. Ein Aphorismus des Amerikanisten und Historikers Michael Denning bringt das Dilemma folgendermaßen auf den Punkt: „Under capitalism, the only thing worse than being exploited is not being exploited“.24 Diese Einsicht verweist ex negativo auf den Kommunismus als wirkliche Bewegung der Aufhebung und emanzipatorisches Projekt der Selbstabschaffung des Proletariats. Die Erde erwärmt sich, das Kapital befindet sich in seinem Herbst. Trump ist die Fratze des in die Krise geratenen Weltsystems und seines Hegemons. Möge sein Winter bald kommen.

Hamburg, 19. Juni 2019

1Vgl. Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, Free Press, 1992 und die Revision seiner Thesen in Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution, Farrar, Straus and Giroux. 2002.

2„Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen” (1939). Max Horkheimer, “Die Juden und Europa.” Gesammelte Schriften. Vol. 4. Hg. Alfred Schmidt. Fischer, 1988.

3Vgl. Dylan Riley, „What is Trump?“ New Left Review 114, November/December 2018, 5-31.

4Vgl. Dylan Riley, „What is Trump?“ New Left Review 114, November/December 2018, 5-31.

5Karl Marx, MEW, Band 8, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Dietz, 1960, 359.

6Sam Miller und Harrison Fluss, „The 18th Brumaire of Donald J. Trump?“, SocialistWorker.org, 5. Dez., 2016.

7Karl Marx, MEW, Band 7, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850, Dietz, 1960, 44.

8Miller/Fluss, 2016.

9Karl Marx, MEW, Band 8, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Dietz, 1960, 115.

10Nach Marx verwandelt sich im Kapitalismus der Wert in der Zirkulationssphäre in ein „automatisches Subjekt“, vgl. hierzu das Kapitel „Verwandlung von Geld in Kapital“ (in Das Kapital, 1867) sowie Moishe Postones Reinterpretation der Marxschen Kritik in Time, Labor, and Social Domination, Cambridge University Press, 1993.

11Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie 1857-58, 2. Auflage, Dietz, 1974, 593.

12Vgl. exemplarisch Robert Brenner, The Economics of Global Turbulence: The Advanced Capitalist Economies from Long Boom to Long Downturn, 1945-2005 (Verso, 2006) und Aaron Benanav, „Precarity Rising“, Viewpoint, 15. Juni, 2015 (online).

13Vgl. hierzu den Artikel des deutsch-amerikanischen Autorenkollektivs Surplus Club: „Trapped at a Party Where No One Likes You“ vom 19. November 2015. <https://surplus-club.com>.

14Surplus Club, 2015.

15Joshua Clover, Riot. Strike. Riot: The New Era of Uprisings, Verso, 2016, 26ff.

16Chris Chen, „The Limit Point of Capitalist Equality“, Endnotes 3, 2013, 217.

17David Harvey, „Globalization and the ‚Spatial Fix‘“, Geographische Revue 2 (2001). Zur Transformation und Funktion des Gefängnissystems in den USA s. Ruth Wilson Gilmore, Golden Gulag: Prisons, Surplus, Crisis, and Opposition in Globalizing California, University of California Press, 2007 und Jackie Wang, Carceral Capitalism, MIT Press, 2018.,

18Vgl. Loïc Wacquant, „Deadly Symbiosis: When Ghetto and Prison Meet and Mesh“, Punishment & Society 3/1 (2001): 95-134 und Punishing the Poor: The Neoliberal Government of Social Insecurity, Duke University Press, 2009.

19Surplus Club, 2015.

20Phil A. Neel. Hinterland: America‘s New Landscape of Class and Conflict, London: Reaktion Books, 144.

21Vgl. hierzu Joshua Clovers Interview mit Jack Chelgren in The Rumpus: „The Causality Runs Both Ways: A Conversation with Joshua Clover“, 1. Januar, 2018.

22Vgl. Geoff Mann und Joel Winwright, Climate Leviathan: A Political Theory of Our Planetary Future, London: Verso, 2017.

23Vgl. Jordan von Manalastas, „Walls On a Drowning World“, Aestheticide, 27. April 2019.

24Michael Denning, „Wageless Life“, New Left Review 66, November/Dezember 2010, 79.

Foto: Stefan Paulus

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