“Die Essenz der Polizei ist die Gewalt.”

Aktuell findet man auf Telepolis ein interessantes Gespräch mit dem Kriminologen Fritz Sack.

Wir zitieren auszugsweise und kommentieren. Schicken wir kurz voraus: Der Staat eignet sich in langen qualvollen Konzentrationsprozessen, die von militärischer Macht und dem Steuerwesen ausgehen, exakt das daraus entstehende Kapital physischer Gewalt an, das heißt die Konzentrationsprozesse sind gleichzeitig Separatíonsprozesse (sie enteignen die Bevölkerung von der Macht und dem Denken); das staatliche Gewaltmonopol, das ohne die Aneignung des symbolischen Kapitals durch den Staat nicht auskommen kann, bildet sich also auf Grundlage von historischen Enteignungen. Der Staat wurde in einem langen Staatsstreich hervorgebracht, der ein für alle mal etabliert, dass es einen Standpunkt gibt, der den Maßstab aller anderen Standpunkte bildet, der legitim und dominant ist. Die herrschenden Diskurse über die Gewalt zeichnen sich gerade durch die Abstraktion von der staatlichen und strukturelle-ökonomischen Gewalt bzw. der entgrenzten Ausbeutung aus, und der zweite strukturelle Gewaltaspekt besteht hier dann darin, dass die strukturelle Gewalt sozusagen normalisiert wird.

Die Gewalt hat also einen latenten und einen offenen Aspekt. Der Staat und die Macht können sich meistens mit latenter Gewalt begnügen, das heißt die offene Gewalt wird in Reserve gehalten. Wer ständig auf und militärische Mittel zurückgreift ist nach Machiavelli nicht auf der Höhe des Begriffs der absoluten Politik. Um ein ökonomisches System und den Staat in instabilen Situationen zu sichern, oder, und das ist heute ganz entscheidend, da derzeit zumindest die politische Situation nicht als instabil begriffen werden kann, um der Präventionslogik der Sicherheitsstaates zu folgen, kann die Polizei allerdings, was die Sprache, das Visuelle und das Materielle angeht, immer mehr in den Vordergrund geschoben werden. Das kann bis bin zu jenem auf die mögliche Katastrophe hinweisenden Blick und zugleich zur Tat auffordernder Aktion gehen, womit einer entfesselten Prävention im Vorfeld schon die entsprechende Legitimation verliehen werden soll. Gilt es das Schlimmste zu verhindern, dann muss schließlich fast alles erlaubt sein. Für Sack ist diese Art der Sicherheitspolitik als eine organisierte Kriminalität zu begreifen, mit der Unsicherheit erzeugt wird. Man kann folglich für Verbrechen bestraft werden, die man in Zukunft vielleicht begehen wird, vielleicht aber auch nicht. Eine seltsame Einschreibung der Unsicherheit in den widerständigen Körper, die der Programmierung der finanzialisierten Unsicherheit in die Gehirne der neoliberalen Subjekte komplementär ist.

Die Aufgaben und Aktionen der Polizei entspringen aber weniger der Spontaneität sozialer Relationen als einer ganz spezifischen Durch-Setzung der staatlichen Funktionen. Die Polizei besitzt laut Max Weber die staatlich ausgegebene Lizenz der Gewaltanwendung. Die Gewalt hält Sack sogar für die Essenz der Polizei, i.e. Gewalt auszuüben und Gewalt einzusetzen, egal ob es sich um demokratische oder autoritäre Staaten handelt, in denen die Polizei agiert. Regulativ ist für die Polizei zunächst das Gesetz, die Organisation einer Ordnung von Gehirnen und Körpern, welche der Allokation dessen definiert, wie etwas getan und gesagt werden kann, wie das soziale Sein ist, eine Ordnung des Sagbaren und des Sichtbaren, die dafür sorgt, dass eine partikuläre Aktivität sichtbar und eine andere es nicht ist, dass, eine Rede als Diskurs und eine andere als Noise gilt. Dabei macht der herrschende Diskurs keinen prinzipiellen Unterschied zwischen präskriptiven und den deskriptiven Aussagen und Regeln, sodass auch hier die Grenzen zwischen Rechtserhaltung und Rechtssetzung verwischt sind. Auch wenn der Staat nach allgemeinen Grundsätzen den Bürger nicht verletzen darf, so gibt es doch Verwaltungsbestimmungen, die geradezu zur Durchsetzung solcher Verletzungen auffordern.

Die Polizei ist weniger um die Disziplin der Körper bemüht, sondern sie organisiert die Regeln, wie die Körper erscheinen, nämlich als eine Konfiguration der Besetzungen und der Eigenschaften von Räumen, wo diese Besetzungen und Positionen verteilt werden. Und sie kann dies durchaus mit Gewaltmitteln durchsetzen. Polizei und Militär sind disziplinierte und disziplinierende, symbolische und zentralisierte Gruppierungen/Institutionen, die beauftragt sind, die Ordnung zu garantieren, nach außen als Armee, nach innen die Polizei, eine Ausdifferenzierung, die heute teilweise wieder aufgehoben wird. Die wichtigste Aufgabe der Polizei besteht keineswegs darin, den Bürgern zu helfen und sie zu beschützen, wenn sie in Gefahr sind, sondern vielmehr darin, sowohl das ökonomische System auf nationaler Ebene zu sichern (indem sie selbst Realitäten konstruiert) als auch diejenigen in die Illegalität zu drängen, die sich außerhalb des offiziellen Arbeitsmarktes und des Systems der Lohnarbeit befinden.

Pierre Bourdieu stellt in seinen Vorlesungen zum Staat ganz unangenehme Fragen: Wie kommt es, dass der Staat genötigt ist, auf das Verbrechen zurückzugreifen, um das Verbrechen zu bestrafen? Kann die Ahndung nicht ebenso ein Verbrechen sein wie das Verbrechen, das sie ahndet? Zweifelsohne begeht der Staat selbst ständig Verbrechen, die sein Legitimationsdiskurs wiederum maskiert und zu eliminieren versucht. Aber es geht insgesamt weniger um die Verbrechen, sondern um die alltägliche Penetration durch die Polizei: Die Polizei ist derjenige Teil des Staates, der am aggressivsten die Kommune penetriert, in das Leben der Bevölkerung eindringt, die Überwachung organisiert und Verbote erteilt. Als die Städte im 19. Jahrhundert industrialisiert wurden, besaß die Polizei die Aufgabe, die neue einströmende Arbeiterschaft zu disziplinieren. Die Gesetze, die sie umsetzte, waren stets nach Klassen codiert, wenn die Polizei nicht einfach darauf trainiert war, die Armen zu kriminalisieren. Im 19. Jahrhundert wurde das Vagabundentum kriminalisiert und damit auch die Arbeitslosigkeit, und heute wird das Betteln und das Schlafen in Parks zumindest teilweise kriminalisiert, die Polizei agiert in Zeiten der Streiks als private Armee der Industrie, und daneben entstehen private Sicherheitsdienste, die mit Polizeimacht ausgestattet sind.

Das Training der Polizei, ihre Taktiken und Technologien, ihr organisatorisches Modell und ihre Ideologie, all dies ist heute längst militarisiert und in erster Linie gegen die Linken ausgerichtet. Polizeieinsätze wie in Hamburg sind aber nur Teil der Story. Egal ob im Ausnahmezustand oder in ihrer normalen Existenz gemäß den Gesetzen ist es klar, dass die Polizei sich für das Leben der Bevölkerung interessiert, dafür, wen man kennt, mit wem man ausgeht, welchen Beschäftigungen man nachgeht, welche Kleidung man trägt, welchen Akzent und welche Hautfarbe man hat. Sack verweist in diesem Kontext auf den amerikanischen Polizeitheoretiker Egon Bittner, der auch das polizeiliche Alltagshandeln als Gewalt bezeichnet. Sack resümiert: »Krieg führen darf nur der Staat, der dafür aus seinen Bürgern Soldaten macht. Wer sonst Krieg führt, ist ein Verbrecher.«

Bekannt sind die Ausführungen von Walter Benjamin zur Gewalt. Zur Polizei schreibt er: «Das ‹Recht› der Polizei bezeichnet den Punkt, an dem sich der Staat nicht mehr durch die Rechtsordnung garantieren kann. Daher greift ‹der Sicherheit wegen› die Polizei in zahllosen Fällen ein, wo keine klare Rechtslage vorliegt …Das schmachvolle einer solchen Behörde liegt darin, dass in ihr die Trennung von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt aufgehoben ist. Wird von ersterer also verlangt, dass sie sich im Sieg ausweist, so unterliegt die zweite der Einschränkung, dass sie sich keine neuen Zwecke setzt. Von beiden Bedingungen ist die Polizeigewalt emanzipiert.« Die Polizei besitzt somit immer auch eine gewisse Autonomie. Weiter heißt es: »Die Gewalt des Polizeiinstituts ist gestaltlos wie seine nirgends fassbare, allverbreitete gespenstische Erscheinung im Leben der zivilisierten Staaten. Und vermag sich die Polizei auch im einzelnen überall gleich sehen, so ist zuletzt doch nicht zu verkennen, das ihr Geist weniger verheerend ist, wo sie in der absoluten Monarchie die Gewalt des Herrschers repräsentiert, als in Demokratien, wo ihr Bestehen durch keine derartige Beziehung gehoben ist und dadurch die denkbar größte Entartung der Gewalt bezeugt.« Die Polizei konstruiert also mit ihren Interventionen Wirklichkeit, indem sie Regeln, die der Normalisierung der Bevölkerung dienen, setzt. Sack sagt dazu: »Mit einem Urteilsspruch oder auch mit einem polizeilichen Intervenieren in gesellschaftliche Abläufe werden neue Wirklichkeiten etabliert. Neue Wirklichkeiten geschaffen. Und nicht die Anwendung von Regeln observiert oder sanktioniert. Also das, was viele Leute nicht so akzeptieren können und nicht akzeptieren wollen: Dass mit der Intervention eines Polizisten ein Eingriff und eine Etablierung und eine Setzung von Wirklichkeit und nicht eine Sanktionierung von Wirklichkeit passiert.« Für die Konstruktion von Wirklichkeit bedarf es der grundsätzlich gegebenen Polizeigewalt. In die Polizei ist damit ein Korpsgeist eingeschrieben, eine informelle Regel, wie man insbesondere in Konfliktsituationen zu agieren hat.

Und generell richtet sich die polizeiliche Intervention eher gegen linke als rechte Kräfte. Sack verweist in diesem Zusammenhang auf den Mathematiker und Pazifisten Emil Julius Gumbel, der in der Weimarer Republik pedantisch genau Strafmaße für Linke und Rechte ausgezählt hat, wobei das Resultat die grundlegende Asymmetrie bestätigt, also ein asymmetrisches Muster, das sich in der BRD fortgesetzt hat, und sehr wohl mit tödlichen Ausgängen für die Linke. Das liegt natürlich auch daran, dass die deutsche Polizei personell bis in die Führungsspitzen hinein nicht entnazifiziert worden ist.

Sack geht weiterhin davon aus, dass heute das Konzept der »European Riot Police« zumindest bezüglich der Beteiligung von österreichischen oder französischen Einheiten bei Großeinsätzen in Deutschland realisiert worden sei. Bezüglich einer fortschreitenden Militarisierung der Polizei, die auch immer eine Frage der Technologien ist, muss die Einschätzung ambivalent bleiben. Natürlich muss der öffentliche Diskurs, der von Gewaltexzessen, Bürgerkrieg und Terror fabuliert, als ein Mittel begriffen werden, um neue Technologie einzuführen, bspw. Sondereinsatzgruppen mit Ausrüstungen einzusetzen, über die sonst nur das Militär verfügt. Dennoch handelt es sich bei den Polizeieinsätzen gegen Riots und Demonstrationen meist noch um die Anwendung von konventioneller Gewalt. Sack zählt auf: »Mittelalterlich anmutende Durchführung militärischer Strategien. Schildkrötenformationen laufen wie beim Stürmen einer Burg in eine Horde von Demonstranten. Eine Hundertschaft geht rein, in der Mitte haben sie die Schilder oben, und außenrum haben sie die Schilder alle seitlich, und preschen vor. Keine Taser, kein “active denial system” (eine Art Schmerzfernstrahler), nur Knüppel und Pfeffergas.« Natürlich wird auch im Bereich militärischer und polizeilicher Techniken weiter geforscht, vom lähmenden Strom über Psychopharmaka bis hin zum Einsatz eines ethnien-spezifischen Gases. Alles zur Prävention, die auf die Niederschlagung von kommenden Riots abzielt. Prävention auch im Sinne der Herstellung eines Schock-Traumas, das durch den Einsatz von Maximalschmerz-Waffen erreicht wird, sodass Leute im besten Fall nie wieder den öffentlichen Raum mit der Absicht betreten, Widerstand zu leisten.

Auch gerade deshalb erhöht die Polizei den Gewaltpegel in Auseinandersetzungen wie in Hamburg und lässt die Gewaltanwendung eskalieren. Oft genug brauchte man in der Geschichte der Konflikte auf der Straße dazu den agent provocateur, der die Situation anheizt. Sack erwähnt etwa die Verteilung von Molotowcocktails bei den Demonstrationen gegen Springer im Jahr 1968 oder den Sachverhalt, dass in den USA bei schweren Riots für Polizisten die Regel galt, dass sie zwei Pistolen bei sich führen mussten. »Eine Pistole, mit der sie sich selber verteidigen, und die andere Pistole, die sie dem Verdächtigen unterschieben als Beleg, dass er gewaltbereit oder vorbereitet war. Das darf man bei uns gar nicht erzählen, sowas.«

Auch das Vermummungsverbot hat eine Vorgeschichte, insofern die meisten Anklagen und die Anzeigen, die nach den Demonstrationen bei den Studentenunruhen im Jahr 1968 gegen die Polizei eingereicht wurden, von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurden, und zwar wegen Nicht-Identifizierbarkeit der Polizisten, die ja nicht zu identifizieren sind, weil sie einem per se vermummt begegnen. Die Studenten wehrten sich dagegen, indem sie sich unwahrnehmbar machten.

Die Polizeieinsätze besitzen insofern eine virale Wirkung, als gerade mit der Eskalation der Einsätze der Ruf nach mehr Polizei hergestellt wird. Sack dazu: »Den stellt man her, indem man Regeln verletzt, indem man Regeln übertritt, indem man kriminell wird … Er (ein amerikanischer Historiker) vergleicht das mit diesen Erpressungskartellen, die abends kommen und Mobiliar zerdeppern und am nächsten Morgen wieder kommen und sagen: Damit das nicht mehr passiert zahlst du mir jetzt 2000 Euro. Von daher sind das meiner Meinung nach konstitutive Prozesse und konstitutive Abläufe, die sich nicht verändert haben.«
Dazu benötigt die Polizei wiederum die sogenannten Hardliner, i.e. Personen, die bereit sind, gezielt Regeln zu verletzen und zu übertreten. Sack spricht angesichts der Polizeieinsätze in Hamburg von teilweise »wütendem Heer, das am Boden liegende, ungeschützte Menschen tritt und boxt, sie mit Gas einsprüht, sie die Wand hochtreibt an Orten, wo sie nicht flüchten konnten.« Das deckt sich mit einer Aussage von Arthur Kroker zum Robocop: »Lustlose Technik. Indem er steif aufgerichtet ist, ist der Robocop Erektion ohne Entladung, eine Sekunde Kommen, die überhaupt kein kommen ist.« Es ist nur folgerichtig, dass die Anwendung von Gewalt in der Selbstrezeption der Polizei »gar nicht als Gewaltanwendung definiert wird, sondern als eine berufliche Verpflichtung und als eine Aufgabe, die man hat; dass das als Gewalt gar nicht erlebt wird, sondern dass es erlebt wird als eine staatsbürgerliche Pflicht.«

Auch die Polizeistrategie bei den Riots in Hamburg hatte etwas von einer sehr spezifischen Eskalation, einer Art »milieu control«, das heißt, einen Ring anlegen, den Riot beobachten, warten und dann mit militärischen Einheiten, SEK-Truppen eindringen und den Riot eliminieren.

Sack sieht hier zudem eine Art »pädagogischer Operation«, eine »thought reform« im Sinne einer »totalitären«, also nicht rechtsstaatlich gebundenen Psychologie der Erziehung zu unmündigen Bürgern. Ihnen klarzumachen, wie in der Schwarzen Pädagogik: “Wenn du das Maul aufmachst, gibt’s was auf die Fresse.” Dafür einen ganzen Stadtteil kriminalisieren, stigmatisieren, absondern von der Normalität.« Sack verweist in diesem Zusammenhang auf das Buch »The dialectics of legal repression« von Isaac D. Balbus, in dem dieser feststellt, dass ab einer gewissen Intensivierung der Riots die Rechtsstaatlichkeit, die sui generis ein Regelsystem für ein pazifiertes Volk ist, temporär ausgesetzt wird.

Sack spricht schließlich von der (Gegen)-Gewalt als einer Aufmerksamkeitsressource für Minoritäten, und im Gegenzug ist für ihn das prinzipielle Gewaltverbot für die Bevölkerung eine Form von Terror, und dies im Sinne der Eliminierung und der Ausschaltung von natürlichen Ressourcen, die Menschen haben, die in Bedrängnis sind. Hier wäre jetzt insbesondere auf die Gewaltsoziologie bei Bataille einzugehen, der die Analyse der Gewalt nicht auf Systeme, die sie repräsentiert, reduziert, sondern die Gewalt als ein Phänomen versteht, das Ordnungen überschreitet. Hingegen beansprucht der Staat die Gewalt als eine Ressource, um Ordnung oder Stabilität herzustellen, während er wiederum der Bevölkerung verweigert, die Gewalt als eine Ressource einzusetzen. Sack: »Man kann nicht mehr über die positive Funktion der Gewalt reden. Deshalb darf man die staatliche Gewalt nicht als Gewalt bezeichnen, sondern die staatliche Gewalt ist irgendetwas anderes. Die Leugnung, die gehört zur Gewalt dazu wie das Amen in der Kirche. Beim Militär spielt das eine große Rolle. Die werden ja trainiert darauf ,Gewalt kontrolliert und zivilisiert einzusetzen… Von daher ist es in unserer Gesellschaft täglich konkret erfahrbar, welche Doppelbödigkeit und welche Heuchelei mit dieser Forderung nach Gewaltverzicht und Gewaltausblendung und Gewaltleugnung verbunden sind.«

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