Frédéric Neyrats Atopias

Neyrat führt den Begriff der Koalition ein, der niemals auf identische Interessen oder Intentionen reduziert werden kann, vielmehr für ihn ein Ensemble von Seienden ist, ein Ensemble der Unsicherheit, das aber die Möglichkeit des Miteinander-Seins nicht ausschließt. Die Subjekte, die sich in Koalition befinden, nennt Neyrat „Trans-jekte“. Gerade als Agens einer nichtstaatlichen Politik verlangt die Koalition nach einer Organisation, die aber immer ein Abenteuer bleiben muss. Existenz und Freiheit bleiben untrennbar.

Man muss das Konzept der Freiheit angesichts der Tatsache, dass der Neoliberalismus die Freiheit unter dem Deckmantel der Flexibilität zu einer Programmierung der Verhaltensweisen umgedeutet hat, neu definieren, und zwar als das Recht ein privates Leben zu leben, das sich nicht unter der Kontrolle, Überwachung und Antizipation von regierbaren Körpern befindet, sei dies ökonomisch, medial oder politisch bedingt. Die neoliberalen Freiheiten sind keine Freiheiten, vielmehr eliminieren sie die Existenz, sie sind Operatoren oder ideale Projektionen, Auto-Realisierungen, die unendlich, lächerlich und destruktiv sind.

Man muss die Freiheit unbedingt außerhalb des Humanismus denken. Für den Humanismus ist die Freiheit nichts weiter als die Metaphysik der menschlichen Möglichkeit zur ewigen Selbstdefinition. Man muss gerade auch im Hinblick auf Sartres Position die Freiheit von jeder fundierenden Bedingung befreien, um sie als ein Faktum zu imaginieren. Solange die Freiheit bloß eine Idee bleibt, verneint sie, was wir sind, um das zu bekommen, was wir noch nicht sind. Die Essenz (frei zu sein) besteht hier vor der Existenz. Der Freiheit geht aber nichts voraus, sondern sie durchquert die Existierenden und zeigt sie als Bewegungen des Existierenden, als ec-topische Bewegungen, die als Konkretionen trans-fixiert sind.

Die Freiheit ist keine Wahl, der ein Effekt folgt, vielmehr ist Freiheit gleich Existenz: Diese Welt, dieses Trans-jekt.

Sie ist räumlich, eine Abweichung und ein Clinamen, frei nach Nancy wie Neyrat an dieser Stelle anführt. Sein und Freiheit sind dasselbe. Freiheit ist Nichtigkeit, die sich selbst affirmiert, in dem sie sich bis zum Punkt der Weißglut gleich einer schwarzen Fulguration intensiviert. Die existierende Entität ist nichts anderes als die Freiheit als die Vertiefung und Intensivierung der Negativität bis zum Punkt der Affirmation.

Die Freiheit ist laut Nancy die Verabsolutierung des Absoluten selbst. Das Absolute ist das Sein der Seienden, das in keinster Weise Essenz ist, vielmehr ist es abgetrennt und subtrahiert von jeder Relation und Präsenz. Das Absolute ist ein Sein, das nirgends lokalisiert und situiert werden kann, was aber keineswegs heißt, dass es nicht erreicht werden kann oder außerhalb eines Kreislaufs ist, vielmehr ist es der Kreislauf selbst. Freiheit ist unmittelbar Sein, und zwar in der Form des Endlichen, um zu sagen, des Existierenden. Das ist weit von jeder humanistischen Konzeption der Freiheit entfernt, insofern die Freiheit die Existenzen als spezifische Trans-jekte durchquert, egal ob Menschen oder Tiere.

Die immunisierte Monade ist heute zu einem Fulltimejob geworden. Im Herzen der neoliberalen Governance des Verhaltens gibt es die Freiheit nur, um die Selbstunterwerfung zu produzieren. Diese rein konditionale und instrumentalisierte Freiheit ist in den Prozess der Autoproduktion des Subjekts, das einer Unternehmer (mit dem Humankapital auf seinen Schultern) seiner selbst ist, eingeschrieben, ein Subjekt, das alles werden will, weil es nichts ist. Der Liberalismus garantiert die Freiheit nur im Austausch mit dem Imperativ der „unendlichen Befreiung“, einer Bewegung ohne Endlichkeit und letztendlich ohne Existenz oder höchstens einer absolut fluiden.

Dem steht das „Let it be“ gegenüber, das aber keineswegs auf das liberale Laissez-Faire hinausläuft, das mit der Phantasie vom sich selbst regulierenden Markt verschwistert ist, einer Phantasie, die sich heute in die Ratingagenturen hinein verlängert, die weit davon entfernt die Ökonomie der Staaten zu regulieren diese destabilisieren, um die Souveränität der Finanzmärkte zu bezeugen.

Gegen die neoliberale, automatisierte Fabrik will Neyrat das „Let it be“ und die Existenz setzen. Ein ec-topischer Raum, der endlich und frei ist, hat immer ein interiores Korrelat: ein leerer Fall, ein Crack. Wir wären nicht im Außen, wenn das Außen nicht in uns selbst wäre. Dies ist eine seltsame Topologie, ähnlich einem a ȹ mit seinen zwei Löchern, sich selbst für immer loopend und nicht-loopend. Es geht nicht um ein Außen, das in Symmetrie zum Innen steht, sondern um ein dynamisches Ver-räumlichen, um die Abweichung, das Clinamen oder die Disjunktion in der subjektiven Konstitution der sprechenden Subjekte.

Der leere Fall wird an seinem Platz immer vermisst, indem er die Differenzen über die gesamte Struktur streut, das heißt, er ist die Differentation der Differenz in sich selbst: der Blindspot oder die Null, das Objekt x, das auf das x eines Subjekts referiert. Ohne den leeren Fall würden wir nicht sprechen, weil alles schon gesagt wäre; es wäre ein Schreiben von Dingen, die durch eine tote Sprache strukturiert wären, eine Sprache, die den leeren Platz eingenommen hätte. Sprechen beinhaltet dagegen immer den Missbrauch der Sprache. Abweichung und dis-joining, immer ist die Negativität bei der Konstitution des Subjekts im Spiel. Die Negativität wird nicht nur durch das Subjekt in die Welt gebracht, sondern sie befreit das Subjekt als solches.

Zivilisiert zu werden heißt für Neyrat in gewisser Weise ver-rückt zu werden, dies aber keinesfalls im Sinne einer klinischen Psychose, sondern im Sinne eines dis-joining, der Annäherung an ein neues Atopia, dem die Saturation der Leere, das Overtopia entgegensteht. Dieses besteht aus der Proliferation von Plätzen, die von allem Bewohnbaren und jeder Art von freiem Platz befreit sind, um die Fragmentierung der Welt und leere Junk-Orte zu beherbergen. Dies beschreibt am besten die zeitgemäße Pathologie: ein eingefrorenes Atopia, voll von Furcht und Sicherheitsmaßnahmen, über-territorialisiert im absoluten Flux. Die Ver-rückheit des Atopischen hingegen widersteht dem schmählichen Prinzip der Identität. Das Prinzip der Vernunft, wie Michel Serres brilliant gezeigt hat, führt nicht zur Konformität, ganz im Gegenteil, es führt zum Fakt des Seins, i.e., dass es mehr als nichts gibt, dass es andere Dinge außer dem reinen Sinn und der reinen Grammatik gibt, nämlich die Konfusion zwischen Wörtern und Dingen. Aus dieser Perspektive ist das Subjekt keine Identität, die sich aus der Zivilisierung seiner Triebe ergibt, vielmehr eine Differenz, die sich der Ver-rücktheit des Singulären annähert, inklusive des Umherirrens der Vernunft, die keine andere Basis außer dem Clinamen hat. Das Subjekt befindet sich immer im Ungleichgewicht.

Lacan argumentiert, dass das Subjekt nicht aus seinen Trieben, sondern einer Fissur entsteht, das Freudsche Unbewusste eine Art dis-joing ist, bei dem immer etwas falsch iläuft, zwischen dem Grund und dem, was er hervorbringt, und wenn wir das Unbewusste suchen würden, fänden wir immer nur eine Lücke. Somit ist das Unbewusste zuallererst kein Trieb, sondern ein Bruch und eine Diskontinuität, der wie Lacan betont, keine Totalität vorausgeht.

Fotot: Bernhard Weber

Teil 1 und 2:

Frédéric Neyrats Atopias (1)

Frédéric Neyrats Atopias (2)

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