G20 Hamburg – Fragmentarische Anmerkungen zu Repression, Autonome und Atomisierung

Der Knast ist ein einsamer Ort. Aber auch ein Ort, an dem es möglich ist, neue Verbindungen einzugehen, dem Allzubekannten neue Erfahrungen hinzuzufügen. Verschwörungen aus der Taufe zu heben, sich existentiell ins Verhältnis zum Bestehenden zu setzen. Für manch einen, der anpolitisiert in jungen Jahren Bekanntschaft mit diesem Ort der Reglementierung machte, wohnte in der Folge diesem Ort kein existenzieller Schrecken mehr inne, griff der Abschreckungsgedanke des Systems künftig ins Leere.

In früheren Jahren war es für die jeweilige Generation der Bewegungszyklen ein selbstverständlich einkalkuliertes Risiko eine (im zu mindestens überschaubaren zeitlichen Rahmen) gewisse Zeit der Inhaftierung einzukalkulieren. Fast Jeder und Jede hatte irgendwelche Verfahren zu laufen, die Gerichtssäle waren Orten der permanenten Agitation und Versammlung. Kaum ein Prozess, bei dem nicht der Saal (gegen handfesten Widerstand) durch im Gericht stationierten Bereitschaftsbullen geräumt wurde. Jede Stadt hatte ihre Knastgruppe, in den Großstädten gab es davon gleich mindestens ein halbes Dutzend.

Wenn nun dieser Tage in Hamburg des „Jahrestages“ der Aktionen gegen den G20 Gipfel mit diversen Aktionen und Veranstaltungen „gedacht“ wird (1), steht u.a. neben dem obligatorischen „Rave“ auch ein neudeutsch „Cornern“ genannte Herumhängen mit Bier/Mate an. Zum Ausklang dieser Tage wird es dann auch eine Knastkundgebung geben. Was das Zahlenverhältnis der jeweiligen Beteiligungen betrifft, so ist wohl mit großer Sicherheit davon auszugehen, dass der Besuch der Knastkundgebung im Vergleich eher beschieden ausfallen wird. An den bisherigen allmonatlichen Knastkundgebungen seit #noG20 nahmen im Allgemeinen ein paar Dutzend bis um die hundert Leute teil. Als zu einem internationalen Treffen Freund*innen, Familienangehörige und Gefährt*innen der inhaftierten Internationalisten aus halb Europa anreiste, gelang es einmalig um die dreihundert Leute vor die Knastmauern – bzw. Zäune zu mobilisieren.

Jenseits der Fragestellung, was für eine Moral die Leute umtreibt, dass sie sich angesichts der seit Monaten rollenden Repressionswellen (Dutzende Inhaftierte, Verbot von linksunten.indymedia, bundes- und europaweite Razzien, eine in diesem Umfang nicht dagewesene Öffentlichkeitsfahndung) im allgemeinen eher wegducken, muss notwendigerweise auch eine politisch – soziale Analyse dieses Phänomen versucht werden. Dies kann nur in einem kollektiven Prozess erfolgen. Nur ist es leider schon im Nachgang von #noG20 einigen wenigen Individuen aus den Resten der antagonistischen Linken (2) vorbehalten geblieben, ansatzweise eine Einordnung des politischen und sozialen Geschehens zu versuchen. Von den eigentlichen Akteur*innen des militanten Geschehens gab es im Wesentlichen nur chronologisierende Broschüren, bzw. Äußerungen und Stellungnahmen zu partiellen Aspekten dieser Tage. (3) Substanzieller fielen im Allgemeinen eher die Stellungnahmen aus dem radikalreformistischen Spektrum aus. (4)

Wenn wir uns also der Fragestellung widmen, warum der existenzielle Kern einer jeden Verschwörung gegen die bestehende Ordnung, die Solidarität untereinander, sich denn im wesentlichen auf das Sammeln von Kohle auf Solipartys oder den Erwerb von „Riot- Sammelsticker“ beschränkt, stellen wir zugleich die Frage nach der eigentlichen Verfasstheit der Überreste an der Praxis orientierten radikalen Gesellschaftskritik.

Wir stoßen dabei auf genau jene Tendenz zur Atomisierung, zur persönlichen Risikominimierung, zur primären Motivation der Bedürfnisbefriedigung, die sich in die Syntax des herrschenden Gesellschaftdiskurses eingeschrieben hat. Die Bedingungslosigkeit der Solidarität wird ersetzt durch ein individuelles networking, das eine möglichst optimale win to win Situation generieren soll. Die Färbung des jeweiligen Projektes, ob subkulturell oder hedonistisch aufgeladen, bleibt völlig zweitrangig und im Kern bedeutungslos. Eine antagonistische Tendenz, die nicht in der Lage oder/und nicht willens ist, sich bedingungslos und voller Leidenschaft den infolge ihrer eigenen Handlungen Inhaftierten zuzuwenden, schreibt ihr eigenes Scheitern schon im fötalen Zustand ein.

Als sich die Bewegung der Black Liberation radikalisierte und anfing den sozialen Raum der US amerikanischen Gefängnisse zu betreten, politisierte sich eine ganze Generation von Inhaftierten, brachen überall Revolten aus, gerieten ganze Gefängnistrakte in die Hand aufständischer Gefangener. (5).

Die ersten Hungerstreiks der Gefangenen aus den bewaffneten Gruppen in der BRD zielten auf eine Gleichbehandlung aller Gefangener und eine Verbesserung der Haftbedingungen für alle ab. Der Credit, den sich die inhaftierten Mitglieder der Stadtguerilla bei den anderen Gefangenen erarbeitet hatten, sollte noch jahrelang wirksam sein. Als sich Jahre später die „politischen“ Gefangenen gegen die auf Vernichtung ausgerichtete Isolationshaft mit erneuten Hungerstreiks zur Wehr setzten, traten hunderten von „sozialen“ Gefangenen zeitgleich mit ihren eigenen Forderungen in einen Hungerstreik und bezogen sich solidarisch auf den HS der Gefangenen aus der RAF. (6)

Die Hausbesetzerbewegung in Westberlin Anfang der 80iger radikalisierte sich nicht nur durch die polizeiliche Räumung besetzter Häuser, sondern auch durch die repressive Reaktion auf die ersten Krawalle, die Inhaftierung von Demonstranten sowie auf Abschreckung abzielende erste Verurteilungen zu langen Haftstraßen. Eine Demonstration mit der Forderung nach der sofortigen Freilassung aller bei den Krawallen inhaftierten sah um die zehntausend Menschen vor den Gefängnissen im Stadtteil Moabit. Über lange Zeit konnte der Beschluss des Berliner Gesamtbesetzerrates „Keine Verhandlungen solange nicht alle Gefangenen frei sind“ gegen den verhandlungs- und integrationswilligen Teil der Bewegung verteidigt werden.

Die jüngsten Durchsuchungen, die nicht nur als Beifang auf Riseup und das Freie Sender Kombinat aus Hamburg abzielten, zeigen noch einmal genauso wie die von Merkel und Seehofer initiierten EU Beschlüsse zur Abschottung der Festung Europa, wohin die Reise geht. Winter Is Coming.

Einer antagonistischen Linken, die sich zu mindestens in ihren Haltungen auf der Höhe der Zeit bewegen will, ist dringend angeraten, sich der Warenförmigkeit ihrer Binnenverhältnisse bewusst zu werden, um einen grundsätzlichen Bruch mit dem Bestehenden überhaupt wieder denkbar zu machen. Die aktive Beteiligung an den in dieser Woche anvisierten Solidaritätsdemonstrationen könnte in diesem Kontext ein erster Schritt zu mehr gelebter Solidarität sein. Lang – und – mittelfristig wird sie aber nicht um eine komplette Bilanzierung ihres grundsätzlichen Scheiterns herum kommen. Der Nachgang der Geschehnisse rund um den G20 Gipfel in Hamburg hat dies ironischerweise noch einmal nachträglich auf die Tagesordnung gesetzt.

(1) Programm des „Festival der Solidarität“

http://www.g20hamburg.org/de/jahrestag-programm

(2) Dankenswerter hatte K.H. Dellwo sich wenige Tage nach dem „Miniriot“ in der Schanze öffentlich mit dem Beitrag „Nicht distanzieren“ zu Wort gemeldet. Auch gegen die Tendenz zur Diffamierung, die von Einigen aus dem Umfeld der Roten Flora kam.

https://www.g20hamburg.org/de/content/zum-riot-im-schanzenviertel-nicht-distanzieren

(3) siehe dazu u.a. den Schwerpunkt zu #noG20 im „Autonomen Blättchen“

https://autonomesblaettchen.noblogs.org/files/2017/09/nr30web.pdf

sowie die Broschüre „Da war doch was in Hamburg“

http://www.magazinredaktion.tk/docs/hh.pdf

(4) „Die rebellische Hoffnung von Hamburg“

http://blog.interventionistische-linke.org/g20-gipfel/die-rebellische-hoffnung-von-hamburg

(5) Am meisten beachtet war der Aufstand in Attica 1971

https://arapberlin.wordpress.com/2011/09/08/eine-gesellschaft-ohne-knaste/

(6) Die Gefangenen aus der „Bewegung 2. Juni“ hatten noch mal ein anderes Verständnis zur Fragestellung sozialer, politischer Gefangener, etc.. Nachzulesen auf der hervorragenden

website blues berlin

zum 2. juni

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