Kapitalisierung ist Schuldenproduktion sui generis

Dieter Schnass schreibt im Kontext der aktuellen Hilfsmaßnahmen der EU in einem Artikel in der Wirtschaftswoche, dass die infinite Verschulden die Geschftsgrundlage des kapitalistischen Systems sei: “… Ohne Stimuli der Regierungen und Notenbanken würde die Weltwirtschaft jahrelang „in einem deflationären Labyrinth feststecken“. Was es daher brauche, so Südekum weiter, seien Steuersenkungen, öffentliche Investitionen – und Schulden, die „möglichst langfristig finanziert und durch permanentes Überwälzen – also die Ausgabe neuer Anleihen zur Bedienung der alten – immer weiter in die Zukunft geschoben werden“… Jede Zahlung eröffnet die Aussicht auf eine anschließende Zahlung; und jedes Zahlungsversprechen hat immer weitere, also prinzipiell unabschließbar viele Zahlungsversprechen zur Folge… Eine Kompensation der umlaufenden Schulden ist in diesem Geldsystem explizit nicht mehr gewünscht – und seine Stabilität besteht einzig und allein darin, dass jeder in ihm auf den anderen verwiesen ist, weil er weiß, dass das, was er (nicht) besitzt, immer auch von allen anderen (nicht) besessen wird. Der kontrollierte Bankrott wird dadurch gleichsam mitlaufend zur Institution der neuen Scheinwirtschaft, die aufgeschobene Insolvenz zu ihrem konstitutiven Faktor, die systematische Verschuldung zu ihrem mitlaufenden Credo. Ganz so wie heute.”

In meinem Buch “Kapital und Macht im 21. Jahrhundert” habe ich die infinite Verschuldung thematisiert und ausführlich beschreiben. Hier einige Auszüge:

Das fiktive und spekulative Kapital (finanzielle Instrumente und Zahlungsversprechen) waren als eine Art Embryo von Beginn des Kapitalismus an präsent, zumal wenn man bedenkt, dass die kapitalistische Produktion der Unternehmen prinzipiell vorfinanziert werden muss und damit Schulden, die mit den zukünftig produzierten Waren ja quasi versichert werden, je schon entstehen. Demnach ist das Kapital nicht als ein (absoluter) positiver Wert zu verstehen, wie dies bspw. der berühmte Ökonom Joseph Schumpeter noch angenommen hat, sondern als ein sozio-ökonomisches Verhältnis, bei dem gerade das intentional Negative (Verschuldung) als positive Bedingung für die kapitalistische Produktion aufzufassen ist, wie dies etwa der ehemalige DDR-Peter Ruben ausführt – Kapital bzw. Kapitalisierung ist Schuldenproduktion sui generis. (Ruben 1998: 53) In vielen Fällen werden, sieht man einmal von der Selbstfinanzierung der großen Unternehmen ab, die kapitalistischen Produktionsprozesse uno actu mit einem Kreditkontrakt in Bewegung gesetzt. Und die Möglichkeit der kapitalistischen Unternehmen, ihre zukünftigen Waren als Sicherheit zu verpfänden, inkludiert, dass ihre Produkte (das Recht mit ihnen einen Surplus zu extrahieren) potenziell schon Kapital sind, bevor irgendetwas überhaupt produziert und dann als Ware realisiert wird. Wir haben es also je schon mit einer finanzialisierten Kapitalproduktion zu tun und auch deshalb nennt Marx sein Buch das Kapital und nicht etwa die Ware oder das Geld.

Dabei ist in den letzten Jahrzehnten das Verhältnis der Schulden zu den eigenen Zahlungsmitteln, das heißt den besonders liquiden Wertpapieren wie Staatsanleihen und Zentralbankgeld stark angestiegen, sodass immer mehr riskante Sicherheiten eingesetzt werden. Insgesamt hat sich das Geschäft mit den Sicherheiten und dem Pfand diversifiziert und zugleich multipliziert; so sicherte im Jahr 2007 ein einziges Pfand drei verschiedene Kredite ab. (Ebd.: 5538) Relativ sichere Schuldtitel wie Staatsanleihen werden nun von den Gläubigern auch immer stärker dazu benutzt, um die eigenen Schulden abzusichern, womit schnell sog. Collateral Chains entstehen können, Ketten von Versicherungen und Sicherheiten, die immer weiter wuchern.

Die hohen Kosten der Schuldenkrise hat einige Regierungen dazu veranlasst, Reformen zur Regulierung des Finanzsektors vorzuschlagen. Da aber der finanzielle Sektor, insbesondere in den USA und Großbritannien, eine führende Rolle in der ökonomischen Macht dieser imperialistischen Staaten spielt, erscheint eine Umkehr schwer möglich. Die Liberalisierung der Zinsen, der Herstellungsbedingungen von Derivaten und ihr Handel können nicht ohne Weiteres zurückgeschraubt werden. Es ist davon auszugehen, dass je stärker der Staat auf die Effizienz der Zentralbankpolitik, die in der unbedingten Vermeidung von systemischen Risiken besteht, und auf die eigenen finanziellen Kapazitäten seiner Haushaltspolitik setzt, desto eher wird er sich gegen ganz spezifische Formen der Regulierung der Finanzmärkte wenden. Generell ist davon auszugehen, dass Schulden heute nicht nur recycelt, sondern spiralförmig wachsen, denn schon auf der Mikroebene sehen wir, dass neu geschaffene Zahlungsversprechen wieder als Sicherheit für weitere Kredite eingesetzt werden können und damit die Verkettung der Kreditvergaben endogen verlängert wird. Es findet hier eine Transferierung von Kreditwürdigkeit statt.

Ob die staatliche Haushalts-, Konjunktur-, Geld- und Strukturpolitik die nationale Kapitalakkumulation gefördert oder im wesentlichen nur den Schuldenstand des Staates erhöht hat, das bewerten die Finanzmärkte unter anderem mit der Festlegung der Zinsraten auf Staatsanleihen. Jedenfalls muss die Wirtschaftspolitik der Staaten und ihrer Regierungen hinsichtlich der Finanzmärkte zumindest darauf ausgelegt sein, die eigene Kreditwürdigkeit (u.a. auch durch die Politik der Zentralbanken) an den Finanzmärkten unter Beweis zu stellen sowie die Finanzunternehmen der eigenen Nation zu unterstützen, sodass man in der internationalen Konkurrenz als nationale Volkswirtschaft bestehen und an den Weltmärkten die entsprechenden Erfolge aufweisen kann, das heißt die nationalen ökonomischen Ressourcen etwa durch die Vergabe von Lizenzen zur Exploitation nationaler Rohstoffe zu stärken sowie das nationale Finanzsystem zu unterstützen und die Produktivität der einheimischen Unternehmen mittels der Finanzierung von wichtigen Forschungsprojekten zu fördern. Die Kreditwürdigkeit der Finanzunternehmen ergibt sich vor allem aus die Qualität ihrer Finanzanlagen, und wenn es sich um Kredite handelt, auch aus der Kreditwürdigkeit ihrer Schuldner, die wiederum von ökonomischen und konjunkturellen Prozessen abhängig ist, in die immer auch die Risikomodelle, Preisbewegungen und die Ratings der Finanzindustrie integriert sind. Auch die Kreditwürdigkeit der Staaten ist von der Finanzindustrie abhängig, was paradoxerweise auch dazu führt, dass im Falle einer staatlichen Rettung der privaten Banken der Staat die Mittel bei diesen Banken leiht, wobei diese wiederum ihre Kreditwürdigkeit zum Teil gerade auf den Handel mit Staatsanleihen stützen. Somit ist die Kreditwürdigkeit von Staaten und Finanzunternehmen eng miteinander verkoppelt. Es besteht heute eine implizite Subventionierung der privaten Banken durch die Rettungsversprechen des Staates. Zur Messung dieser Subventionierung werden die Finanzierungskosten der Banken (Zinsen, mit denen sie ihre Schulden bezahlen) mit ihren Kosten, die ohne die impliziten Bürgschaften des Staates anfallen würden, in Beziehung gesetzt. Die Bank of England hat festgestellt, dass zwischen den Jahren 2002 und 2007 in Großbritannien die Summe an jährlichen staatlichen Subventionen an diejenigen privaten Banken, die auf globaler Ebene operieren, im Durchschnitt 70 Milliarden Pfund betrug. (Sahr 2017: Kindle-Edition: 5699) Allein die Erwartung einer staatlichen Unterstützung im Notfall, die schon einer informellen und impliziten Subventionierung der privaten Banken gleichkommt, forcierte massiv den Handel von Finanzprodukten.

Auf ökonomischer Ebene sind die Staatsanleihen nur insofern als »Werte« zu fassen, als der Staat das geliehene Geld aus eigenen Guthaben, das heißt über zukünftige Steuereinnahmen auch zurückzuzahlen vermag. Letztendlich gelten die Staatsschulden aber heute solange als gedeckt, wie die Staaten für den Abgleich der fälligen Altschulden (Zinsen) mit der Ausgabe von neuen Staatsanleihen neue Gläubiger finden, die ihnen weitere Geldmittel zur Verfügung stellen, mit denen die Staaten dann den bisherigen Gläubigern zumindest die Zinsen auf die Altschulden bezahlen können. Dieses Verfahren der Anschlussfinanzierung impliziert den fortlaufende Emission von Staatsanleihen, womit die Staaten sich zusätzliche Haushaltsmittel unter dem Titel »Netto-Neuverschuldung« sichern.1 Was da kapitalisiert wird, sind weniger die zukünftigen Steuereinnahmen, sondern die Geldzuflüsse, die aus der zukünftigen Kreditaufnahme des Staates herrühren.2 Gleichzeitig fungieren die Steuern weiterhin als Beglaubigung der Potenz des Staates zu weiterer Kreditaufnahme. Geht aber die bisherige Praxis der Verschuldung weiter, dann müsste ein Großteil der kapitalistischen Staaten im Jahr 2040 zumindest die Steuereinnahmen rein dazu verwenden, um die Zinsen auf ihre Staatsanleihen zu bezahlen. (Stelter 2013: Kindle-Edition: 689) Für die Gläubiger sind die staatlichen Schulden zum Teil auch durch den potenziellen Wert der staatlich hergestellten physischen und sozialen Infrastrukturen gedeckt, insofern eine Privatisierung derselben immer im Bereich des Möglichen liegt. Das Dilemma besteht hier generell in Folgendem: Wenn die Ausgabe neuer Staatsanleihen tendenziell immer stärker nur zur Rückzahlung der Zinsen von alten Staatsschulden dient, dann generiert der Staat mit ihnen immer weniger zusätzliches Geld, das er zur Fundierung und Stimulierung der Kapitalakkumulation einsetzen kann. Wenn er dennoch ständig weitere Staatsanleihen ausgibt, also Umwälzung betreibt (die an sich kein Problem ist, da es bei den Staatsschulden nicht um Tilgung geht), um all seine Infrastrukturmaßnahmen und sich selbst zu finanzieren, dann riskiert er, dass die Gläubiger ihr Vertrauen in seine Rückzahlungsfähigkeit allmählich verlieren und die Staatsanleihen nur noch gegen höhere Zinsen kaufen, was die Zahlungsfähigkeit des Staates natürlich enorm einschränken kann. Es stimmt zwar, dass die Staaten, solange sie sich in der eigenen Währung verschulden, prinzipiell nicht bankrott gehen können, aber sie müssen beachten, dass das Wachstum ihrer Ausgaben (unter Berücksichtigung der Inflationsraten) das Wachstumspotenzial der Ökonomie nicht überschreitet.

1 Eine positive Nettoneuverschuldung besteht dann, wenn das Volumen der vom Staat neu aufgenommenen Kredite das Volumen der Kredittilgungen übersteigt. Insofern die Kreditaufnahme geringer ist als die Kredittilgungen, liegt eine negative Nettoneuverschuldung vor. Die Schuldenquote wiederum ist die Kennzahl zwischen der Höhe der Staatsschulden und dem BIP. Sie kann dann reduziert werden, wenn die Wachstumsraten des realen BIP höher als die Realzinsen auf Staatsanleihen sind, wobei Defizite im Primärhaushalt jenen positiven Effekt nicht kompensieren.

Das zukünftige ökonomische Wachstum einer Volkswirtschaft, zu dem die Masse der staatlichen Schulden in Relation gesetzt wird, basiert prinzipiell auf Spekulation. Wenn die Zunahme der Staatsverschuldung und das zukünftige Wachstum der Wirtschaft nach der Bewertung der Investoren zu sehr divergieren (weil etwa die Inflationsrate steigt und die staatliche Kreditaufnahme trotzdem weiter zunimmt), dann steigen zunächst die Zinsen auf die Staatsanleihen und später stockt womöglich sogar der Absatz der Papiere insgesamt. Allerdings hängt es nicht vom absoluten Stand der Staatsverschuldung ab, ob ein Land mit einer Verschuldungskrise zu kämpfen hat, denn für den Erfolg des Landes als Kapitalstandort ist eben auch entscheidend, ob es mittels der Verschuldung von den Zyklen der Bildung von fiktivem Kapital profitiert oder eben nicht. Wenn das durch diverse Maßnahmen, Projekte und Politiken des Staates unterstützte Wirtschaftswachstum einer Nation stagniert oder in der Rezession die Steueraufkommen sinken, dann steigt gerade auch der Finanzbedarf des Staates. Mit dem Gebrauch von staatlichen Schulden als fiktivem Kapital und der Verwendung von Kreditzeichen als Zahlungsmittel muss ständig das Verhältnis zwischen der Höhe der Staatsverschuldung und dem wirtschaftlichen Wachstum der Unternehmen des Landes austariert werden

Die Politik des QE führt also nicht automatisch zu höherem realem wirtschaftlichem Wachstum, aber sie beschleunigt den Anstieg der Aktienkurse und fungiert in Zeiten der Rezession generell als ein monetäres Anreizsystem für das spekulative Kapital, das mit den zufließenden Geldströmen zunehmend riskantere Geschäfte tätigt. Eine bestimmte Phase waren die Kaufprogramme der Fed hinsichtlich Laufzeit und Volumen nicht mehr begrenzt. Die Fed hielt im Jahr 2012 27% aller US-Treasuries. (Stelter 2016: Kindle-Edition: 2473) Ohne die Politik der Fed wären die Zinsen auf US-Staatsanleihen deutlich höher. Mit der Senkung der Zinsen und ihrem Einfrieren auf einem niedrigen Level kommen die reichen Investoren nicht nur billig an Geld, sondern es soll damit auch die Realisierung von Schulden vermieden werden. Man nennt die Vergabe von billigen Krediten Evergreening, womit auch solche Unternehmen gestützt werden, die am Markt kaum noch Chancen haben. So monieren etwa die Analysten der Deutsche Bank, dass die Geldpolitik der EZB »Kreditnehmern mit der geringsten Bonität einen überproportionalen Nutzen gebracht« und den Prozess der schöpferischen Zerstörung verhindert habe. Niedrige Zinsen der Zentralbanken verringern zudem die Haushaltsdisziplin des Staates, sie führen zur Vermögensinflation, zum längeren Überleben von unrentablen Unternehmen und der Zombiebanken und schließlich zur Unzufriedenheit der Sparer.1

1 Die EZB hat seit dem Jahr 2015 die Einlagezinsen für die privaten Banken auf Minus 0,4 und die Leitzinsen auf Null gesenkt und zusätzlich ein enormes Anleihekaufprogramm von monatlich 80 Milliarden Euro aufgelegt, das aktuell auf 60 Milliarden Euro reduziert wird. An den Sekundärmärkten kann die EZB die Staatsanleihen der EU Staaten, die sich am EMSF und ESM beteiligen, unbegrenzt kaufen. Bisher wurde allerdings weder eine Anhebung der Inflation noch wurden höhere Wachstumsraten der Unternehmen erreicht. Angeschoben wurde allerdings eine weitere Explosion der Kurse an den Aktienmärkten, mit sehr hohen Kurs-Gewinn Relationen (Verhältnis Marktkapitalisierung der Unternehmen und BIP) sowie weiteren Erhöhungen des Tobin Q (Markt-Substanzwert des Unternehmens). Auch der Immobiliensektor ist inzwischen aufgrund der Niedrigzinspolitik der Notenbanken in Japan, China und Teilen Asiens und Europas deutlich überhitzt. Zudem sind die negativen Folgen der Niedrigzinspolitik für die Sparer, Renten- und für die Lebensversicherungen zu beachten.

Seit 2007 wurde die Aufblähung der Zentralbankbilanzen insbesondere durch Maßnahmen zur Rettung des bestehenden Finanzsystems vorangetrieben, während sich die Qualität der Vermögenswerte der Zentralbanken deutlich verschlechtert hat. 1 Während die Aktiva der Zentralbanken im Vergleich zum BIP keineswegs auf einem historischen Rekordniveau liegen, sind die Kriterien zur Deckung des von den Zentralbanken geschaffenen Geldes (Bargeld und Reserven) noch nie so prekär gewesen. Früher wurde das Zentralbankgeld durch Gold, dann durch sichere Schulden (Staatsanleihen) gedeckt, aber heute ist es nicht einmal durch sichere Schulden gedeckt, denn in den Aktiven der Zentralbanken befinden sich riskante Aktien, Hypotheken und nicht handelbare Kreditforderungen der Geschäftsbanken.

Schulden werden eigentlich nur dann zum Problem, wenn sie die Kapazität von Unternehmen, Staaten und Haushalten sie zurückzahlen zu können auf Dauer übersteigen. Deshalb sollten, wenn man an dieser Stelle Keynes folgen will, die realen Zinsraten der Geschäftsbanken niedrig genug sein, um kontinuierlich Rückzahlungen, egal ob sie aus Einkommen, Profiten oder Steuern resultieren, zu ermöglichen und es sollte zudem eine politische Steuerung der Kreditvergaben stattfinden, weil zu hohe (reale) Zinsraten zur Intensivierung und Verlängerung der Arbeitszeit, zum Druck auf die Profitraten und zu höheren Steuern führen. Trotz der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken und des Überangebots an Geld und Geldkapital sind die realen Zinsen der privaten Banken aber in den letzten Jahrzehnten nicht gesunken, wie die Mainstream-Ökonomie das gerne annehmen möchte, sondern sie sind gestiegen. Die niedrigen Zinsen der Zentralbanken, die oft genug als Krisenursache angenommen werden, sind zum Teil ja gerade eine Reaktion auf die Operationen der Geschäftsbanken, die sich durch die Expansion der Derivate und nicht zuletzt durch hohe reale Zinsen auszeichnen und somit zu den vielbeschworenen finanziellen Bubbles führen. Die Zinsraten der Zentralbanken und die der Geschäftsbanken müssen also keinesfalls synchron verlaufen. Und nur wenige Institutionen können sich bei der EZB ihr Geld für Null Prozent Zinsen leihen, während die Zinssätze für die Kreditvergaben der Geschäftsbanken von diesen selbst festgelegt werden, wobei sie stets das Risiko der Schuldner bewerten, ihre Returns kalkulieren und die Politik der Konkurrenten bei der Kreditvergabe beobachten. Es gilt aber auch zu konstatieren, dass die Schuldner sehr wohl die Macht besitzen, das Geldangebot und die Geldpolitik zu beeinflussen.

Fassen wir zusammen: In einem vom Gold abgelösten Geldsystem entsteht das gesetzliche Geld in der Kreditbeziehung zwischen Geschäftsbanken und Zentralbank. Letztere beziehen fiktives Kapital, wenn sie Kredite an Geschäftsbanken vergeben, die Zahlungsansprüche darstellen. Seit der Finanzkrise von 2008 hat sich auch diese Beziehung verschoben. Die stabilitätsorientierte Geldpolitik, derzufolge die Geschäftsbanken Zentralbankgeld nur gegen erstklassige Sicherheiten leihen können, wurde generell aufgekündigt: Bei den Zentralbanken sammelt sich heute fiktives Kapital mit einer hohen Wahrscheinlichkeit der Entwertung anstatt erstklassiger monetärer Ansprüche an. Zudem sind die Zinssätze, zu denen die Geschäftsbanken von den Zentralbanken Kredite erhalten, in den letzten Jahren so weit herabgesetzt worden, dass inflationsbereinigt die Geschäftsbanken einen geringeren Betrag als die ursprünglich ausgeliehene Summe an die Zentralbanken zurückzahlen müssen. Faktisch spielt es keine Rolle mehr, was die Zentralbanken den Geschäftsbanken abkaufen, damit diese an zusätzliche Reserven kommen, es genügt anscheinend allein schon die Hoffnung auf kommendes Wirtschaftswachstum, womit irgendwann die Schulden dann vielleicht auch zurückgezahlt werden könnten

Hinsichtlich der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken wird von ihren Befürwortern damit argumentiert, dass sie die Kreditaufnahmen der Unternehmen und Konsumenten fördern würde. Dies ist nach der Finanzkrise 2008 nachweislich ausgeblieben, stattdessen steigt durch diese Politik die Nachfrage nach Unternehmen, Wertpapieren, Aktien, Immobilien etc. weiter an und damit auch die Preise der Vermögenswerte. Niedrige Zinsen kehren generell das Verhältnis von Spar- und Verschuldungsanreizen um: Wer Geld spart, erhält niedrige Geldbeträge, wer Kredite aufnimmt, um etwa zu spekulieren, erhält »billiges Geld« und zumindest die Option auf hohe Renditen (Stelter 2013: Kindle-Edition: 834)1 Wie wir schon gesehen haben, verhalten sich die Zinsen und die Preise von Wertpapieren invers zueinander. Die aus der Niedrigzinspolitik resultierenden Preissteigerungen der Vermögenswerte machen diejenigen reicher, die schon genügend Vermögenswerte halten, bevorzugen also vor allem diejenigen, die ihr Vermögen in Unternehmen, Wertpapiere, Aktien, Immobilien und Derivate anlegen. Davon profitiert wiederum die Finanzindustrie, die mit dem Handel der Vermögenswerte nicht nur Gebühren, Boni und Provisionen kassiert, sondern mit dem Kauf von Wertpapieren darüber hinaus auch Kredit schöpft und Renditen realisiert.2

Es gilt natürlich auch die negativen Aspekte der Nullzinspolitik für die Geschäftsbanken zu beachten, weil sie den Spread zwischen Kreditzinsen und Einlagenzinsen senkt. Zudem müssen Geschäftsbanken heute dafür bezahlen, wenn sie Geld bei der EZB parken. Aufgrund der Anleihekäufe der EZB der als stabil geltenden Staatsanleihen sinken auch auf diese die Zinsen, insbesondere auf deutsche Staatsanleihen. So fließen bei 80% aller deutschen Staatsanleihen keine Zinszahlungen mehr vom Staat an die Geschäftsbanken, vielmehr müssen diese bezahlen, um überhaupt an die Staatsanleihen zu gelangen.3

Aufgrund der Niedrigzinspolitik der Zentralbanken vergeben die Geschäftsbanken heute nicht signifikant mehr Kredite, vielmehr lassen sie heute sogar die Reserven liegen, denn es gibt heute weniger profitable Verwendungsmöglichkeiten als noch vor der Finanzkrise 2008. Die industriellen Unternehmen wiederum haben aufgrund der Überakkumulationskrise mit niedrigen Profitraten und mangelnder effektiver Nachfrage zu kämpfen. Und wenn die Gewinne der Unternehmen wieder steigen, weil etwa die Zinsbelastung niedrig ist, dann kaufen diese häufig genug eigene Aktien, um ihren Aktienkurs zu steigern. Neue Investitionen in die Produktion finden nur dann statt, wenn ein Anstieg der Profitrate auf zukünftige Investitionen und zugleich eine Erhöhung der Nachfrage erwartet wird.

1 Die Sparquote sank in den USA von 11% zu Beginn der 1980er Jahre unter 1% im Jahr 2015. Geliehenes Geld wurde insbesondere zur Spekulation oder auch für den Konsum benutzt.

2 Der größte Teil der ausgegebenen langfristigen Unternehmenskredite diente im Jahr 2015 im Euroraum den Käufen von bereits bestehenden Immobilien, Wertpapieren und Derivaten (2,4 Billionen Euro). (Häring 2016: Kindle-Edition; 144) Mit Hypothekenkrediten in der Höhe von 3,9 Billionen Euro und Konsumentenkrediten in der Höhe von 1,2 Billionen Euro waren private Haushalte verschuldet, mit 1,2 Billionen Euro andere Finanzinstitutionen; 2 Billionen Euro Kredite gingen an das Ausland außerhalb des Euroraums, 1,1 Billionen Euro an andere Euroausländer. (Ebd.) Bezüglich der Hypothekenkredite lässt sich sagen, dass mit einem Preisanstieg der Immobilien auch die Vermögen der Hauseigentümer steigen, die wiederum als Sicherheit dienen, um neue Kredite, bspw. Konsumentenkredite, aufzunehmen. Durch die Niedrigzinspolitik der Notenbanken werden vor allem auch die Rohstoff- und Kapitalmärkte gestärkt, während die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes sinkt. Es handelt sich hier um deflationäre Prozesse.

3 Die Erzeugung von weiterem fiktivem Kapital nutzte nach der Finanzkrise 2008 gerade auch Deutschland, weil Länder wie China oder Brasilien mit Hilfe des weltweit flottierenden fiktiven Kapitals umfangreiche Investitionen vornahmen und ein beträchtlicher Anteil ihrer Aufträge für die benötigten Investitionsgüter an deutsche Unternehmen ging. Und weil der deutsche Kapitalmarkt von früheren Finanzkrisen nicht so stark betroffen war, orientierte sich auch das Anlage suchende finanzielle Kapital stärker nach Deutschland. Zudem kommen deutsche Unternehmen relativ leicht und günstig an Geldkapital, während der deutsche Staat seine Staatsanleihen zu negativen Realzinsen veräußern kann, womit, von beiden Faktoren angeschoben, die Verschuldung des deutschen Staatshaushalts geringer als in anderen Ländern bleibt und im Zuge dessen auch die staatlichen Zinsausgaben sinken.

Die Fed kann die zirkulierenden US-Staatsanleihen natürlich auch selbst aufkaufen. Zugleich können Staatsschulden an den Finanzmärkten generell relativ leicht monetarisiert werden (der Aspekt der Rückzahlung tritt hier zurück), womit der implizite Zwang für die Staaten auftritt, Einsparungen im Haushalt vorzunehmen (Austerität), weil ständig neues Geld mittels der Emission von Staatsanleihen geliehen werden muss, was für den privaten Sektor weitere relativ risikolose Geldanlagen impliziert, um noch risikoreichere Geschäfte zu tätigen (Lee, Martin 2016: Kindle-Edition: 2791). Diese Optionalität, die mit dem Dollar zusammenhängt, eröffnet auch die Möglichkeit für die Erhöhung der finanziellen Liquidität im Zusammenhang mit dem Öl, denn mit Optionen kann man den Preis des Öls und des Dollars so hedgen, dass der Ölpreis ansteigen kann, ohne dass der Wert des Dollars sinkt. Ölreserven werden nun selbst zur Finanzanlage, die umso wertvoller werden, je volatiler der Ölpreis ist.

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