Multipolarität, zweiter kalter Krieg und fünfter Weltkrieg

Deleuze/Guattari sprechen in den Tausend Plateaus vom dritten Weltkrieg. Sie schreiben: “Hier (nach dem zweiten Weltkrieg) kam es zur Umkehrung der Formel von Clausewitz: Die Politik wird zur Fortsetzung des Krieges, der Frieden löst technisch den grenzenlosen materiellen Prozess des totalen Krieges aus. Der Krieg hört auf, eine Materialisierung der Kriegsmaschine zu sein, die Kriegsmaschine wird selbst zum materialisierten Krieg. In diesem Sinne ist Faschismus gar nicht mehr nötig. Die Faschisten sind nur kindliche Vorläufer gewesen, und der absolute Frieden hatte den Erfolg, dass der totale Krieg gescheitert war. Wir befanden uns bereits im Dritten Weltkrieg.” Entscheidend für den Übergang in die nächste Periode des Kapitalismus war dann die globale Digitalisierung der Kriegsmaschine, die damit zur permanenten virtuellen Todesmaschine wurde. Die digitale Kartographisierung der Kriegsschauplätze in Echtzeit, ja der ganzen Welt, der Einsatz der Flugdrohnen, der Krieg am Bildschirm, bei dem zeitgleich der Blick in das umgebende Territorium und auf den Bildschirm mit Informationen gerichtet wird, bezeugen jene postmoderne Kriegsmaschine, die nun direkt an die Axiomatik des globalen Finanzkapitals gekoppelt ist, ja ihm untergeordnet wird. Die Waffen müssen jetzt intelligenter sein, weil wir nicht mehr so viele von ihnen einsetzen können; die Kampftruppen müssen jetzt besser geführt, mobiler und kybernetisch koordiniert werden, um den Realitäten der Konflikte nach dem Kalten Krieg gerecht zu werden. Taktische Vorteile werden eher an technologischen Aspekten als an der schieren Stärke der Truppenzahl gemessen. Der Krieg dreht sich jetzt um technisches Wissen, das zunehmend mit Hilfe von Wissen und in Zukunft vielleicht auch über Wissen und technologische Fähigkeiten ausgetragen wird. Der “Cyberwar” ist keine Science-Fiction mehr: Der Erwerb, die Systematisierung und der Einsatz von technischem Wissen sind zum Grund und zum Einsatzort blutiger Kriege geworden.

Oder man nehme auch Virilio: “Wenn wir sagen können, dass der Krieg in vergangenen Gesellschaften ausschließlich strategisch war, können wir jetzt sagen, dass Strategie nichts anderes als Logistik ist. Die Logistik wiederum ist der ganze Krieg geworden, denn in einem Zeitalter der Abschreckung ist die Produktion von Waffen bereits Krieg. . . . Abschreckung ist die Entwicklung einer Rüstungskapazität, die den totalen Frieden sichert. Die Tatsache, dass man über immer raffiniertere Waffen verfügt, schreckt den Feind immer mehr ab. An diesem Punkt besteht der Krieg nicht mehr in seiner Ausführung, sondern in seiner Vorbereitung. Die Aufrechterhaltung des Krieges ist das, was ich den reinen Krieg nenne, ein Krieg, der in unendlicher Vorbereitung ausgetragen wird. [Diese unendliche Vorbereitung, das Aufkommen der Logistik, bedeutet aber auch die Nicht-Entwicklung der Gesellschaft … Der Frieden als Krieg, als unendliche Vorbereitung, die die Gesellschaften erschöpft und schließlich vernichtet. Der totale Frieden der Abschreckung ist der totale Krieg, der mit anderen Mitteln geführt wird.”

Baudrillard knüpft an diese Thesen an. Er schreibt: “Der einzig wahre Fundamentalismus, der den einzig wahren Terror hervorbringt, ist der Fundamentalismus einer fluiden, mobilen Technokratie, der Technokratie der Ströme und Netze, einer unaufhaltsamen Verbreitung und geistigen Diaspora: ein Fundamentalismus ohne Fundament. Alle anderen Formen der reaktionären Gewalt, alle anderen Formen der Integration, des Totalitarismus, der religiösen und ethnischen Fanatismen, all diese sichtbare, spektakuläre Gewalt, die im Terrorismus gipfelt, ist weniger tödlich als die unsichtbare Form der Gewalt des unaufhaltsamen Weltprozesses, der Weltverarbeitung” Aanlässlich von 9/11 spricht er dann vom vierten Weltkrieg, wobei er den Schwerpunkt auf den Widerstand legt. Dabei führt er aus:

“Der erste Weltkrieg beendete die europäischen Vorherrschaft und der Ära des Kolonialismus, der zweite beendete den Nationalsozialismus und der dritte dem Kommunismus. Jeder brachte uns schrittweise der heutigen einheitlichen Weltordnung näher, die sich nun ihrem Ende nähert, überall im Widerstand, überall im Kampf mit feindlichen Kräften. Es ist ein Krieg der fraktalen Komplexität, der weltweit gegen rebellische Singularitäten geführt wird, Singularitäten, die wie Antikörper in jeder Zelle Widerstand leisten.”

Angesichts des Anstiegs der Riots in den letzten 20 Jahren lässt in der Tat von rebellischen Singularitäten sprechen, die die Weltbühne betreten haben, aber ohne einen hinreichenden Einfluss auf das Weltgeschehen zu besitzen. Wenn man heute von Multipolarität spricht, mit der nur die geo-politischen Verschiebungen auf dem Globus (BRICS) gemeint sein können, weil die USA mit seinem Finanzsystem, dem Dollar und dem industriell-militärischen Komplex weiterhin die hegemoniale Macht bleiben, dann kündigt sich vielleicht das an, was man den fünften Weltkrieg bezeichnen könnte. Unter dem Anzeichen “Unipolarität vs Multipolarität” wird auch schon der Krieg in der Ukraine verhandelt, und es ist nicht auszuschließen, dass der neuerliche Krieg um Gaza internationale Dimensionen annimmt. Gleichzeitig spricht man auch vom zweiten kalten Krieg, der in der Hauptseite zwischen den USA und China stattfindet. Gegenwärtig hält sich China auch im Gaza Konflikt auffällig zurück, was nicht heißt, dass man hier China nur als passiven Beobachter begreifen sollte.

Die Covid-19 Pandemie und der Ukrainekrieg sind Ereignisse, die die Struktur dessen, was man heute Globalisierung nennt, transformiert haben.  Begriffe wie „Reshoring“ und „Nearshoring“ wurden infolge der Unterbrechung der globalen Lieferketten verwendet, um auf die Notwendigkeit einer Neuordnung der Produktionsstandorte sowie der Kreisläufe von Zirkulation hinzuweisen. Die russische Invasion in der Ukraine hat sich in dieser Hinsicht an die Pandemie „angehängt“, wobei der Begriff „Friendshoring“ hinzugefügt wurde. Strategische Sektoren wie Energie und Nahrungsmittel sind dadurch destabilisiert worden. Die westlichen Sanktionen gegen Russland haben weiter zur Fragmentierung des globalen Raums beigetragen.

Dennoch lässt sich weiterhin von Globalisierung sprechen, wenn man an grenzüberschreitende Infrastrukturen, Energieverteilungssysteme, Digitalisierung, Logistik, Finanzen, Forschung und Entwicklung künstlicher Intelligenz denkt. Wie die künstliche Intelligenz zeigt, sind diese Prozesse nicht frei von Handelskriegen, aber gleichzeitig wird sie weiterhin auf globaler Ebene organisiert, allerdings mit Ungleichgewichten und Unterschieden, die Länder wie die USA und China spalten. Globaler Kapitalismus bezeichnet heute globale Prozesse, welche die Akkumulation des Kapitals im multinationalen rahmen vorantreiben, Bedingungen der Kapitalisierung festlegen und eine Reihe von Effekten erzeugen, die auch die politische Dimension selbst betreffen.

Heute von einer Krise der globalen Hegemonie der USA zu sprechen, bedeutet nicht, Szenarien des „Niedergangs“ zu entwerfen oder die anhaltende wirtschaftliche und vor allem militärische Macht der Vereinigten Staaten zu leugnen. Es gibt allerdings eine Reihe regionaler Integrationsprozesse, die die Rolle der BRICS und die Vervielfachung von Handelsabkommen ohne den Dollar betreffen.  Um diese globale Ordnung zu definieren, hat Adam Tooze die Kategorie des „zentrifugalen Multipolarismus“ vorgeschlagen.

Der Weltmarkt umfasst die „großen Staaten“,  die man unter Vorbehalt als „imperial“ bezeichnen kann, wie die USA, EU, China, Indien und Russland. Ihre Fähigkeit zur Regulierung der Wirtschaft spielt eine wichtige Rolle bei der Bildung der Pole. Die multipolare Welt ist jedoch nicht ausschließlich nach territorialen Gesichtspunkten organisiert. Das, was die Globaliserun als imperialistisch kennzeichnet, geht in unterschiedlichem Maße über souverän definierte Territorien hinaus und dezentralisiert den Prozess der Polbildung. Es sind insbesondere die transnationalen kapitalistischen Unternehmen, die hier eine Schlüsselrolle spielen. Wenn spezifische kapitalistische Akteure mit den von ihnen konstruierten „operativen Räumen“ eine zweite wesentliche „Schicht“ des Prozesses der Polbildung darstellen, so ist es notwendig, eine dritte Schicht hinzuzufügen: nämlich die sozialen Kämpfe und Dynamiken, die dazu beitragen, den gesamten Prozess zu fördern, zu verlangsamen oder umzuleiten.

Die Weltökonomie ist nichteinfach die Summe von nationalen Teilen, sondern sie ist selbst ein hierarchisch differenziertes System, innerhalb dessen heute das Wachstum der Kapitalexporte der Unternehmen der führenden imperialistischen Staaten befördert, der Raum für die Kapitalzirkulation und die Finanzindustrie erweitert und ein komplexes Verhältnis zwischen führenden und subalternen Nationenim Rahmen komplizierter Netzwerke der Informationsübertragung hergestelltwird. Zudem werden die internationalen Kreditbeziehungen ausgeweitet,transnationale Konzerne gebildet, die internationalen Derivatverkäufe ausgedehnt und periphere Länder durch die von den kapitalistischen Zentrenausgehende Dynamik sukzessive in die kapitalistische Weltwirtschaft integriert , indem sie als Märkte oder als kostengünstige Produktionsstandorte erschlossen werden.

Die Beziehungen zwischen den USA und China haben sich im Jahr 2023 auf den tiefsten Punkt seit ihrer Annäherung in den 1970er Jahren verschlechtert. Man spricht inzwischen von einem Zweiten Kalten Krieg. Sowohl die USA als auch China haben in Folge der Finanzkrise von 2008 „restaurative“ politische Projekte installiert. Diese Projekte schließen sich gegenseitig aus und beleben die heutige Geopolitik. Im Gegensatz zum ersten Kalten Krieg, in dem die Großmächte versuchten, ihr Territorium in Blöcken zusammenzufassen, konkurrieren die USA und China heute auf globaler Ebene um die Vorherrschaft in miteinander verflochtenen und verbundenen globalen Netzwerken.

Die Raumlogik des Zweiten Kalten Krieges ist heute auf die Kontrolle von Netzwerken und deren Strukturen ausgerichtet. Faktoren wie Interkonnektivität und Interdependenz gehören zu den Schlüsselprinzipien der Netzwerkstrukturen, wobei die geopolitische Rivalität auf die Kontrolle nichtlinearer und nicht notwendigerweise hierarchischer Knoten in topologischen Netzwerken ausgerichtet ist, die nicht offenkundig territorial sein müssen. Die USA und China agieren insofern auf dem demselben Territorium und ihre Volkswirtschaften sind in bestimmten Bereichen eng miteinander verflochten. Daher ist es für die USA nicht möglich, China „einzudämmen“, und ebenso wenig kann Peking darauf hoffen, auf einen Block von Staaten außerhalb der Reichweite von Washingtons Einfluss zu nehmen. Die USA und China versuchen also, sich in Netzwerken zu etablieren, über die sie geopolitische und geoökonomische Macht ausüben können. In der Praxis geschieht dies durch eine Reihe von Strategien, wie z.B. die Festlegung von Regeln, die bestimmen, wie Netzwerke integriert werden oder wer an ihnen teilnehmen kann.

Die Kontrolle der Ströme von Kapital, Waren, Geld, Arbeitskraft, Wissen, Daten, technischen Standards etc. war schon immer eine Strategie der geopolitischen Machtkorodination, aber diese Aufgaben haben angesichts der netzwerkbasierten Struktur der heutigen kapitalistischen Weltwirtschaft an strategischer Dringlichkeit gewonnen. Infolge der globalen Finanzintegration, der Transnationalisierung von Produktionstätigkeiten, der zunehmenden Komplexität der internationalen Arbeitsteilung und der Entwicklung an der Technologie- und Produktivitätsgrenze ist die Weltwirtschaft zunehmend als eine Reihe hoch strukturierter Netzwerke organisiert, die sich über territoriale Grenzen hinweg erstrecken. Durch die Erlangung und Nutzung von Netzwerkzentralität – insbesondere durch die Kontrolle und Verbindung von Schlüsselknoten – können Akteure einen privilegierten Zugang zu strategischen Inputs erlangen, die Zirkulation von Informationen steuern, Kontrolle über die Arbeitsteilung ausüben, Standards festlegen und Konkurrenten ein- oder ausschließen.

Risiken werden durch den umfassenden Einsatz von Technologien der Vierten Industriellen Revolution (künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen, das Internet der Dinge, fortgeschrittene Robotik und Quantencomputer) zur Organisation und Verwaltung wirtschaftlicher Netze durch Unternehmen und Staaten verstärkt, was diese anfällig für Eingriffe von Konkurrenten macht. Daher setzen Staaten und Unternehmen eine Reihe von Mittel ein, um die Anfälligkeit für Bedrohungen und Schwachstellen zu verringern, angefangen von der Abkopplung über die Verlagerung kritischer Wertschöpfungsketten in andere Länder und der Integration von Tech-Giganten im Verteidigungssektor.

Infrastruktur-Netzwerke

 Im Zuge der Wirtschaftskrise 2008 wurde ein Konsens zwischen Neu-Keynesianern und neoliberalen Hardlinern über die Vorzüge einer staatlich koordinierten, infrastrukturgeleiteten Entwicklung hergestellt.  Im Mittelpunkt stand die Erkenntnis, dass die neoliberale Umstrukturierung zu einem chronischen Investitionsdefizit in der Infrastruktur geführt hat, weil der Privatsektor nicht dort investierte, wo es am nötigsten war. Die daraus resultierende „Infrastrukturlücke“ hinderte die Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen daran, sich in die globalen Wertschöpfungsketten zu integrieren. Experten fragten sich zudem, ob die USA die Initiative im Bereich des Infrastrukturbaus unwiderruflich an China abgetreten hätte.  Washington unterzeichnete deshalb unter Trump bilaterale Rahmenabkommen zur Infrastrukturfinanzierung und zum Aufbau von Märkten mit Südkorea und Singapur sowie mit Taiwan und Indonesien im Jahr 2020. Die Biden-Regierung hat wiederum signalisiert, dass sie versuchen wird, mit China um die zentrale Rolle in den Infrastrukturnetzen zu konkurrieren.

Digitale Netze

Digitale Netze und der Cyberspace stehen im Mittelpunkt der amerikanisch-chinesischen Rivalität, aber die Art dieses Wettbewerbs hat sich in den letzten Jahren verändert. In den frühen 2000er Jahren war der Hauptstreitpunkt die (De-)Regulierung des chinesischen Marktes. Die Tech-Giganten aus dem Silicon Valley versuchten, in den chinesischen Markt einzudringen, aber das regulatorische Umfeld erwies sich als unüberwindbar. Um einen begrenzten Zugang zu erhalten, gingen amerikanische Tech-Firmen erhebliche Kompromisse ein. Google ist zwar in China präsent, insbesondere im Bereich der künstlichen Intelligenz, doch seine zentralen Internetdienste sind nicht verfügbar.

Die Erfahrungen von Google veranschaulichen die Schwierigkeiten amerikanischer Unternehmen, in China zu operieren. Obwohl sie den chinesischen Behörden sensible Nutzerdaten zur Verfügung gestellt haben, ist es vielen Firmen aus dem Silicon Valley nicht gelungen, eine beherrschende Marktposition in China aufzubauen. Ihre Aktivitäten wurden häufig durch die so genannte Great Firewall behindert, die die Nutzung vieler nicht-chinesischer Websites in China einschränkt. Dadurch wurde der aufstrebende chinesische Technologiesektor geschützt. Seit den 2010er Jahren hat sich eine Reihe chinesischer Unternehmen zu beeindruckenden Konkurrenten entwickelt.  Chinas einheimische Tech-Giganten wie Baidu, Tencent, AliBaba und JD beherrschen nicht nur die heimische digitale Wirtschaft, sondern haben auch globale Niederlassungen gegründet. Im Jahr 2015 rief Peking die Digitale Seidenstraße ins Leben, mit der die nationalen digitalen Unternehmen gestärkt und ihre Bemühungen um eine Expansion ins Ausland unterstützt werden sollen.

Silicon-Valley-Firmen hatten im Jahr 2020 die Idee einer Ausweitung ihrer Aktivitäten in China weitgehend aufgegeben, während sie gleichzeitig chinesische Firmen als Rivalen auf der globalen Bühne betrachteten. In der Zwischenzeit vollzog sich in der US-Politik während der Präsidentschaft Trumps ein bedeutender Wandel. Anstatt zu versuchen, den chinesischen Markt für amerikanische Technologieunternehmen zu öffnen, konzentrierte sich Washington darauf, die globale Reichweite chinesischer Technologieunternehmen zu begrenzen.

Die USA und China konkurrieren nun weltweit um die Integration von digitaler Infrastruktur, Hardware und Software. Die Kombination dieser Komponenten wird als „Stack“ bezeichnet: da sie sich über nationale Grenzen hinweg erstrecken und viele Unternehmen zusammenbringen, stellen sie erhebliche regulatorische Herausforderungen dar. Die „Clean Network Initiative“ ist ein Versuch, die Bildung von solchen Stacks zu verhindern, die sowohl amerikanische als auch chinesische Komponenten integrieren. Sie zwang Länder und Unternehmen zwischen amerikanischen und chinesischen Stacks zu wählen. In der Tat ist die Begrenzung der chinesischen Beteiligung an Stacks in anderen Ländern und Regionen für Washingtons Bemühungen von entscheidender Bedeutung, da sie es den USA und ihren Tech-Giganten ermöglicht, chinesische Plattformfirmen zu kontrollieren.

Washington und Peking haben versucht, ihre heimischen Plattformen für ihre geoökonomischen und geopolitischen Ziele zu instrumentalisieren. Plattformen sind digitale Schnittstellen, über die Nutzer auf Technologiepakete zugreifen. Beispiele hierfür sind Amazon und Alibaba. Ihre Macht beruht auf ihrer Fähigkeit, die Spielregeln und die Protokolle festzulegen, die die Interaktion zwischen den Nutzern strukturieren, während sie gleichzeitig enorme Vorteile aus ihrer Fähigkeit ziehen, durch Netzwerkeffekte auf Datenströme zuzugreifen und diese zu monetarisieren. Washington bindet die größten amerikanischen Plattformen zunehmend als Partner und Anbieter in den militärisch-industriellen Komplex ein.

Peking übt Einfluss auf chinesische Plattformen aus, indem es verschiedene Aspekte ihres Betriebs, einschließlich der Expansion ins Ausland, subventioniert. Im Gegenzug werden die Plattformen im Prozess der militärisch-zivilen Verschmelzung dem Parteistaat untergeordnet, und es wird von ihnen erwartet, dass sie die wirtschaftliche Staatsführung Pekings unterstützen. Die US-Regierung verfügt allerdings nicht über die gleiche Macht zur Kontrolle wie China. Plattformfirmen sind nicht einfach passive Verlängerungen eines der beiden Staaten, und es ist zu erwarten, dass sie auf die Bemühungen Pekings und Washingtons, ihre Aktivitäten zu lenken, reagieren werden.

Produktionsnetzwerke

Globale Produktionsnetzwerke (GPN) haben sich während der unipolaren Ära stark verbreitet. Die führenden Unternehmen – hauptsächlich multinationale Konzerne mit Hauptsitz in der OECD – nutzten den allgemeinen Abbau von Handelsschranken und setzten fortschrittliche Informations- und Kommunikationstechnologien ein, um die billigsten Produktionsfaktoren weltweit einzubeziehen. Das Ergebnis war eine dynamische Wirtschaftsgeografie in den 1990er und 2000er Jahren, die die Städte und Regionen, welche die wirtschaftliche Expansion der OECD nach dem Krieg vorangetrieben hatten, anfällig für eine Deindustrialisierung machte.  Regierungen können auf verschiedenen Ebenen zwar Einfluss auf die Standortentscheidungen multinationaler Unternehmen nehmen, wobei die Geografie der GPNs jedoch überwiegend von Unternehmen geprägt wird, die in ihrem Streben nach Gewinnmaximierung in einer zunehmend integrierten Weltwirtschaft eine regulatorische Arbitrage betreiben.

Heute wird die Produktion oft wieder an Orte verlagert, die es den Großmächten ermöglichen, Konkurrenten auszuschalten und den Einfluss ihrer heimischen Leitunternehmen weltweit auszuweiten. Beispiele hierfür sind Halbleiter, Telekommunikationshardware und Elektrofahrzeuge sowie GPNs, die künstliche Intelligenz und Biotechnologie beinhalten. Doch auch wenn die internationale Arbeitsteilung und die Geografie der fortgeschrittenen industriellen Produktion von Großmächten geprägt wird, bedeutet dies nicht immer, dass die Kapitalakkumulation nationalen Sicherheitsimperativen untergeordnet wird. Gleichzeitig betrachten Beamte in Peking und Washington die Kontrolle über strategische Sektoren der Ökonomie als eine Voraussetzung, die nicht nur für die nationale Sicherheit unerlässlich ist, sondern auch die Grundlage für die Sicherung eines nachhaltigen langfristigen Wirtschaftswachstums bildet.

Viele GPNs, die heute Gegenstand von Großmachtrivalitäten sind, wurden in der Vergangenheit von führenden Unternehmen mit Hauptsitz in den USA oder einem ihrer Verbündeten koordiniert. Chinesische Unternehmen waren zunächst als Produzenten integriert, bauten aber im Laufe der Zeit ihre Fähigkeiten aus, wobei einige von ihnen näher an die technologischen Möglichkeiten führender US-Unternehmen heranrückten. Ende der 2010er Jahre waren einige amerikanische Firmen zunehmend verärgert über das Verhalten ihrer ehemaligen chinesischen Partner, da der Diebstahl von geistigem Eigentum an der Tagesordnung war und die Industriepolitik in erster Linie lokale Konkurrenten begünstigte.  Im Vergleich zu Chinas früherer Industriepolitik räumen heutige Strategien dem Parteistaat einen größeren Spielraum bei der Zuweisung von Ressourcen ein, und zwar durch Zuschüsse, Steuererleichterungen, Darlehen und Direktinvestitionen aus einer wachsenden Zahl von Investitionsvehikeln, bei denen die Grenzen zwischen staatlicher und privater Kontrolle zunehmend verschwimmen.

Chinas Industriestrategie mag darauf abzielen, die Autarkie in Schlüsselsektoren zu fördern, aber dieses langfristige Ziel erfordert eine Lernphase, die nur möglich ist, wenn chinesische Unternehmen mittelfristig an GPNs teilnehmen. Daher versuchten die USA, auf Peking Einfluss zu nehmen, indem sie drohten, ihre Beteiligung an GPNs einzuschränken. Die Transpazifische Partnerschaft (TPP) war der Eckpfeiler dieser Bemühungen. Bei der TPP handelte es sich um ein umfassendes Abkommen zwischen den Ländern des pazifischen Raums, das weitreichende Mandate zum Abbau versteckter Subventionen und anderer nichttarifärer Handelshemmnisse sowie zum Schutz des geistigen Eigentums beinhaltete. Das TPP wurde 2016 von 12 Nationalstaaten unterzeichnet, aber nie von den USA ratifiziert, und Trump zog sich nach seinem Amtsantritt aus dem Abkommen zurück.

Das ursprüngliche Ziel von Trumps Handelskrieg bestand darin, das US-Handelsdefizit zu verringern, und nicht darin, China am Ausbau seiner industriellen Kapazitäten zu hindern. In der Folge unternahm Trump jedoch wichtige Schritte in die letztgenannte Richtung, die nun von der Regierung Biden weiter ausgebaut werden. So verbot Biden beispielsweise ZTE (einem teilweise in Staatsbesitz befindlichen chinesischen Telekommunikationsunternehmen) vorübergehend die Einfuhr von US-Komponenten und unterzeichnete eine Durchführungsverordnung, die es amerikanischen Firmen untersagt, mit chinesischen Unternehmen zusammenzuarbeiten.

Die Bemühungen der USA, Chinas Beteiligung an strategischen GPNs einzuschränken, konzentrieren sich auf „nachgelagerte“ Bereiche und schränken den chinesischen Fortschritt in den fortgeschrittenen Produktionsstadien ein. In der Zwischenzeit haben chinesische Firmen die Kontrolle über Ressourcen, die für fortgeschrittene industrielle Prozesse notwendig sind, wie kritische und seltene Erden, weiter ausgebaut. So haben chinesische Unternehmen beispielsweise Rechte an einigen der weltweit größten Lithiumvorkommen erworben, die für die Herstellung von Elektrofahrzeugen benötigt werden .

Da die Geografie strategischer GPNs zunehmend von geopolitischen Rivalitäten geprägt ist, könnten einige Länder, die in der Vergangenheit Schwierigkeiten hatten, sich mit GPNs zu verbinden, dies tun, indem sie sich für Peking oder Washington attraktiver machen. Andererseits könnten sich bestimmte Länder oder multinationale Unternehmen den Versuchen der USA und Chinas widersetzen, die GPNs neu zu gestalten.  Die Hinwendung der USA zu einer expansiven Industriestrategie wird wahrscheinlich auch einge gewisse Feindseligkeit bei den Verbündeten hervorrufen, die weiterhin von den Vorteilen der globalen Wirtschaftsordnung profitieren wollen, die durch die Unipolarität der USA aufrechterhalten wurde. Als Reaktion auf die hohen Subventionen des US Inflation Reduction Act Bidens, die die heimischen grünen Technologien und die Produktion von Elektrofahrzeugen fördert, sagte der französische Präsident Macron, dass solche Subventionen den Westen zu zersplittern drohen, indem sie die europäische Produktion bedrohen, und bezeichnete sie als „super aggressiv für unsere Unternehmen.“

Finanzielle Netzwerke

Die globale Finanz- und Währungsarchitektur hat sich parallel zur Konsolidierung der amerikanischen Hegemonie entwickelt. Infolgedessen sind die zentrale Stellung der USA in diesen Netzwerken und ihre Fähigkeit, sie zu gestalten, beispiellos. Die USA hat einige der mächtigsten Finanzinstitute und Weltfinanzzentren, die die Kontrolle über das globale Finanzsystem zentralisieren und die tiefsten und liquidesten Finanzmärkte beherbergen. Der US-Dollar steht immer noch an der Spitze des globalen Währungssystems. Die meisten globalen Finanz- und Handelstransaktionen und die wichtigsten Rohstoffmärkte werden in Dollar abgewickelt. US-Staatsanleihen sind die wichtigsten Währungsreserven der Welt und der Dreh- und Angelpunkt des globalen Finanzsystems. Im Gegensatz dazu ist Chinas untergeordnete Position innerhalb des globalen Finanz- und Währungssystems wirtschaftlich kostspielig. Ein Haupthindernis für die Internationalisierung der chinesischen Wirtschaft und die Bemühungen um eine zentrale Stellung in anderen Netzwerken besteht darin, dass viele der international tätigen chinesischen Unternehmen für ihre Handels- und Geschäftstätigkeiten US-Dollar verwenden.

Es überrascht daher nicht, dass das Finanzwesen der wichtigste Faktor der neuen Weltordnung bleibt. China hat eine mehrgleisige Strategie verfolgt, um seine Position in den globalen Finanznetzwerken zu verbessern und sie gleichzeitig neu zu gestalten. Seine Politik der kontrollierten Liberalisierung der Finanzmärkte und der begrenzten Öffnung des Kapitalverkehrs (mit Kapitalverkehrskontrollen für Zu- und Abflüsse und einem aktiven Wechselkursmanagement) zielt darauf ab, die Risiken und Kosten der Integration in die US-zentrierten globalen Finanzmärkte zu mindern. Die Politik der Internationalisierung des Renminbi will die Abhängigkeit vom Dollarverringern, während andere Initiativen ausdrücklich darauf abzielen, Chinas Position in Finanznetzwerken zu verbessern.

Die Entwicklungsfinanzierung ist vielleicht die bekannteste der jüngsten Maßnahmen Chinas in diesem Bereich. Die Enttäuschung über die geringen Stimmanteile Chinas in der Weltbank und im Internationalen Währungsfonds hat zu Bemühungen geführt, parallele institutionelle Arrangements zu schaffen. Während von China geleitete multilaterale Initiativen wie die Neue Entwicklungsbank der BRICS-Staaten und die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank an Bedeutung gewinnen, bleiben sie im Vergleich zur bilateralen Kreditvergabe der beiden wichtigsten politischen Banken Chinas, der Chinesischen Entwicklungsbank (CBD) und der Chinesischen Export-Import-Bank (CHEXIM), unbedeutende Akteure. Zusammen haben die CBD und die CHEXIM zwischen 2008 und 2019 fast eine halbe Billion Dollar an internationalen Krediten vergeben, womit sie im gleichen Zeitraum mit der Weltbank gleichgezogen haben. Der größte Teil davon entfällt auf die Finanzierung von Infrastrukturprojekten, obwohl gelegentlich auch allgemeine Haushalts- und Zahlungsbilanzhilfen an Staaten wie Pakistan, Argentinien, Venezuela und Sri Lanka vergeben wurden.

Schon früh wurden Chinas Entwicklungskredite in US-amerikanischen Politikerkreisen als „Schurkenhilfe“ abgetan, die zur Stützung autoritärer Regime eingesetzt wird.  In jüngerer Zeit haben sich die Befürchtungen des Westens auf Chinas mangelnde Integration in das institutionelle Gerüst konzentriert, das das US-zentrierte System der Entwicklungsfinanzierung umgibt – und überwacht. So ist China beispielsweise kein Mitglied des Pariser Clubs, der (zusammen mit dem IWF) die Reaktionen der wichtigsten Gläubigerstaaten auf Länder in Schuldennot koordiniert. Angesichts der sich nun zuspitzenden Staatsschuldenkrise nach dem Zusammenbruch des Kaukasus haben Chinas besondere Kreditvergabemodalitäten und seine Vorliebe für Verhandlungen von Fall zu Fall (sogar von Kredit zu Kredit) dazu beigetragen, dass die Umstrukturierungsbemühungen für Staaten, die mit der Rückzahlung ihrer Schulden bei einer Vielzahl von privaten, bilateralen und multilateralen Gläubigern zu kämpfen haben – wie Sri Lanka, Sambia und Äthiopien – ins Stocken geraten sind.

Obwohl die chinesische Kreditvergabe zur aktuellen Staatsschuldenkrise beigetragen hat, liegt ihr Ursprung in erster Linie darin, dass viele Regionen der Welt seit 2008 verstärkt den zyklischen Dollar-Finanzierungsbedingungen ausgesetzt sind. Die ultralockere Geldpolitik in den USA und in weiten Teilen des globalen Nordens in den 2010er Jahren löste bei institutionellen Anlegern einen größeren Risikoappetit aus. Im Gegenzug konnten mehr Staaten auf den globalen Kapitalmärkten Kredite aufnehmen, oft zu hohen Zinsen. Nachdem der erste Covid-Schock im März 2020 zu einer massiven Kapitalflucht aus dem globalen Süden geführt hatte, stabilisierte die Federal Reserve die globalen Finanzmärkte. Den Zentralbanken wurde in unterschiedlichem Umfang Zuga Dollar lautenden Vermögenswerten gewährt, um sie bei der Stützung ihrer Landeswährungen zu unterstützen. Diese Maßnahmen lassen eine mehrstufige, auf die USA ausgerichtete Finanzhierarchie erkennen, bei der der direkte Zugang zum Dollar über Swap-Linien den verbündeten Staaten mit hohem Einkommen und einigen wenigen „vertrauenswürdigen“ Schwellenländern vorbehalten ist. In dem Maße, in dem die US-Behörden ihre Geldpolitik als Reaktion auf die Inflation im eigenen Land straffen, hat die Aufrechterhaltung der weltweiten Liquidität jedoch an Priorität verloren. Die Zukunft bestimmter Institutionen ist zunehmend umstritten, und die US-Notenbank ist nur dann bereit zu handeln, wenn die allgemeine Systemstabilität bedroht ist. Unterdessen wird Chinas Entwicklungsfinanzierung vorsichtiger und gezielter.

Chinas Zögern, seine Kapitalbilanz vollständig zu liberalisieren, schien lange Zeit die Aussichten für den Renminbi als Dollar-Konkurrenten auszuschließen. Eine Reihe von Maßnahmen zur Förderung der Internationalisierung des Renminbi in den letzten Jahren sowie Chinas Status als wichtigster Handelspartner für die Mehrheit der Länder der Welt erhöhen jedoch die Anreize für Staaten und Investoren, auf Renminbi lautende Vermögenswerte zu halten. Von besonderer Bedeutung sind Rohstoffderivate, da sie als an eine bestimmte Währung gebundene Benchmark-Preise fungieren und dem Emittenten dieser Währung erhebliche Macht auf den Rohstoffmärkten verschaffen. Ganz allgemein besteht ein wesentlicher Pfeiler der US-Hegemonie seit den 1970er Jahren darin, dass das meiste Öl in Dollar gepreist wird, die über westliche Banken recycelt werden. Dieses Petrodollar-System könnte jedoch allmählich ins Wanken geraten, da die USA nicht mehr direkt auf westasiatisches Öl angewiesen sind und China nun der Hauptimporteur aus dieser Region ist. Darüber hinaus stellen die konzertierten chinesischen Bemühungen, eine Vorreiterrolle bei der Einführung digitaler Währungen durch die Zentralbanken zu übernehmen, ein weiteres Mittel dar, mit dem China einige Dollar-Transaktionen verdrängen könnt.

Die Vorrangstellung der USA im globalen Finanzsystem wird derzeit nicht in Frage gestellt, obwohl die jüngsten Ereignisse die amerikanische Hegemonie eher schwächen könnten.  Finanzsanktionen gegen Länder wie Kuba, Iran und Nordkorea gibt es schon seit mehreren Jahrzehnten, aber die Bereitschaft der USA und ihrer Verbündeten, Russland (einer G20-Wirtschaft und dem größten Ölexporteur der Welt) den Zugang zu Währungsreserven, dem SWIFT-Zahlungssystem und dem Korrespondenzbankennetz zu verweigern, scheint ein Zeichen für einen Wandel in der Art und Weise zu sein, wie die USA ihre Finanzmacht ausüben. Wenn die USA die Verweigerung des Zugangs zu Finanznetzwerken weiterhin als wirtschaftliche Waffe einsetzen, werden wahrscheinlich mehr Akteure Alternativen verfolgen, die außerhalb der amerikanischen Reichweite liegen. Die in China ansässigen Finanzinstitute stellen kein vollwertiges alternatives Finanzsystem dar. Dennoch werden sie wahrscheinlich die Hauptnutznießer sein, wenn der Anteil der Weltwirtschaft, der vom Ausschluss aus den US-Netzen bedroht ist, wächst.

 Der Zweite Kalte Krieg unterscheidet sich vom Kalten Krieg durch den Wettbewerb um die Vorherrschaft in Infrastruktur-, Digital-, Produktions- und Finanznetzwerken. In räumlicher Hinsicht findet dieser Wettbewerb in denselben Gebieten statt, und der Staat oder die Unternehmen, die innerhalb eines bestimmten Netzes eine Vormachtstellung erlangen, haben die Möglichkeit, die Integration zwischen den Netzen zu gestalten, Konkurrenten auszuschließen und den Fluss der Ströme innerhalb der Netze zu steuern. Infolgedessen beeinflusst der Wettbewerb der Großmächte Entwicklungsverläufe, soziale Beziehungen und Muster der Staatsbildung sowie die Beziehungen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren auf neuartige Weise.

Die Netzwerke, die Gegenstand der Großmachtrivalität sind, sind eng miteinander verknüpft. Heutzutage sind die Ozeane von Internetkabeln durchzogen, die wichtige Bestandteile digitaler und infrastruktureller Netzwerke sind. Die Infrastruktur- und Digitalnetze werden durch Finanznetze untermauert, die ihrerseits die globalen Produktionsnetze beleben. Sowohl Washington als auch Peking setzen ihre Macht in einem Netzwerk ein, um sich Vorteile in anderen Netzwerken zu verschaffen. Die USA versuchen, Chinas privilegierte Position in den Infrastrukturnetzen zu untergraben, indem sie ihre Macht in den Finanznetzen ausspielen. In ähnlicher Weise versucht China, seine überragende Stellung in den digitalen Netzen durch die Verbesserung der Zahlungssysteme und das Projekt des digitalen Yuan, das der Internationalisierung des RMB dient, zu verstärken. Inzwischen kaufen sich chinesische Staatsunternehmen in die Börsen in Pakistan, Bangladesch und Kasachstan ein, was Möglichkeiten zur Gestaltung von GPNs bieten könnt. In einigen Fällen kann also die Macht in einem Netzwerk genutzt werden, um einen Vorteil in einem anderen Netzwerk zu erlangen, während Washington und Peking in anderen Fällen gezwungen sein könnten, Kompromisse einzugehen und Macht in einem Netzwerk aufzugeben, um in einem anderen zu gewinnen.

Da sich die Rivalität der Großmächte auf die Zentralität der Netzwerke konzentriert, ist es schwer vorstellbar, dass eine der beiden Seiten einen durchschlagenden Sieg erringt. Viele Länder orientieren sich sowohl an den USA als auch an China – so können beispielsweise Finanznetzwerke mit der Wall Street verbunden und einheimische Firmen in von amerikanischen multinationalen Konzernen koordinierte GPNs integriert sein, während Huawei und andere chinesische Technologieunternehmen digitale Netzwerke ausbauen und chinesische Staatsunternehmen Straßen, Häfen und Energienetze bauen. Selbst wenn ein Land in allenNetzen auf China oder die USA ausgerichtet ist, kann sich dies ändern. Im Gegensatz zum Kalten Krieg, als sich die Allianzen nach einer Revolution oder einem Staatsstreich änderten, kann heute eine neu gewählte Regierung ein Infrastrukturprojekt streichen oder Huawei-Komponenten aus ihren digitalen Netzen entfernen.

Der vernetzte Charakter dieser Rivalität begünstigt die Möglichkeit für Drittländer, unabhängige Ziele zu verfolgen. Da die Länder bis auf weiteres gleichzeitig einige Netzwerke mit China und andere mit den USA ausrichten können, gibt es kaum Anreize, sich für eine Seite zu entscheiden. Anstatt ihren bündnisfreien Status zu akzeptieren, müssen Volkswirtschaften möglicherweise einen schmalen Pfad beschreiten, der von beiden Seiten unter Druck gesetzt wird, mit dem Risiko, sich mit dem einen oder anderen Block zu zerstreiten. Je stärker der Zwang ist, sich zwischen der Mitgliedschaft in US- oder chinesisch geprägten Netzwerken zu entscheiden, desto wahrscheinlicher wird die Bildung von territorialen Blöcken, die an den ersten Kalten Krieg erinnern. Wenn die Welt gezwungen ist, sich vollständig auf die USA oder China auszurichten, könnte sie sich tatsächlich in zwei rivalisierende Blöcke aufspalten, von denen jeder seine eigenen parallelen Netzwerke hat, die sich kaum oder gar nicht überschneiden. So könnten in der Zukunft zwei weitgehend voneinander getrennte Internets entstehen, bestimmte GPN entkoppelt werden und die chinesisch geprägten Finanznetze weiter expandieren.

Weltkapitalismus

Kommen wir zum Schluss auf einige Phänomen der derzeitigen Entwicklung des Weltkapitalismus zu sprechen:

Eine deutliche Verlangsamung des Wirtschaftswachstums gibt es in Europa. Nach den Anfang Juni 2023 veröffentlichten Zahlen schrumpfte das BIP des Blocks der zwanzig Länder der Eurozone zwei Quartale in Folge, mit einer Kontraktion von 0,1 % zwischen Januar und März 2023, gefolgt von einem Rückgang in gleicher Höhe zwischen Oktober und Dezember 2022. Auch wenn es sich um begrenzte Rückgänge handelt, ist die Eurozone somit Anfang 2023 offiziell in eine technische Rezession eingetreten. Diese Rezession ist in Deutschland besonders ausgeprägt.

Auf globaler Ebene ist die schwache Performance insbesondere auf die schwache Binnennachfrage zurückzuführen. Die Staatsausgaben weisen einen deutlichen Rückgang auf, während der private Konsum vor dem Hintergrund der Inflation und der restriktiveren Kreditbedingungen auf der Stelle tritt. Die Auswirkungen der Straffung der Geldpolitik werden sich allmählich bemerkbar machen. Die Immobilienkäufe der Haushalte dürften 2023 zurückgehen. Auch die Unternehmensinvestitionen dürften sich verlangsamen, da sie durch den Anstieg der Zinssätze gebremst werden. Nach den Prognosen der OECD ist in den wichtigsten Ländern eine deutliche Verlangsamung zu verzeichnen. Das US-Wachstum, das in diesem Jahr 1,6% betrug, wird sich bis 2024 auf 1% verlangsamen. Das chinesische BIP wächst bis 2022 nur um 3%. Weit entfernt vom offiziellen Ziel von 5,5% und mit einer der niedrigsten Raten seit vier Jahrzehnten. Pekings Ziel, in diesem Jahr ein Wachstum von “etwa 5%” zu erreichen – eines der niedrigsten seit Jahrzehnten -, ist immer noch ein frommer Wunsch.

Die Entscheidung der Regierungen und Zentralbanken, die Zinssätze zu erhöhen, um die Inflation zu bekämpfen, ist einer der Gründe für die Stagnation und hat eine Reihe von Spillover-Effekten. Durch Wirtschaftsabschwung und Arbeitslosigkeit will die Geldpolitik die Inflation bekämpfen, natürlich zum Nachteil der unteren Klassen.

Die weltweite Staatsverschuldung hat sich in 11 Jahren verdoppelt. Sie stieg im letzten Jahr – bei konstanten Wechselkursen – um fast 8 % auf die Rekordsumme von 66,2 Billionen US-Dollar. Die Zinssätze, die lange Zeit niedrig waren, sind aufgrund der Politik der Zentralbanken (Erhöhung der Zinssätze, Einstellung der Wertpapierkäufe) gestiegen. Nach Angaben des Unternehmens Janus Henderson werden die Zinskosten im Jahr 2025 2800 Milliarden US-Dollar erreichen, was 2,8 % des erwarteten weltweiten BIP entspricht. Das ist doppelt so viel wie der Durchschnitt der letzten zehn Jahre. Damit haben sich die Kreditkosten für die OECD-Länder seit 2021 mehr als verdoppelt.

Die ärmsten Länder sind in der schwierigsten Lage. Nach drei Jahrzehnten eines starken Rückgangs ist die extreme Armut in den letzten drei Jahren wieder angestiegen. Das Wiederaufleben der Inflation, die durch den Krieg in der Ukraine verstärkt wurde, erschwert die Lage seit Herbst 2020. Steigende Zinsen führen dazu, dass diese Länder noch weiter stranguliert werden. Die Zinsdifferenzen zu den US-Staatsanleihen sind explodiert. Ein großer Teil ihrer öffentlichen Einnahmen wird für den Schuldendienst verwendet: 26,8% im Jahr 2021 für Senegal (gegenüber 7,6% im Jahr 2011). Auf der einen Seite hat die Unterbrechung der Versorgungsketten (durch Covid19, den Krieg in der Ukraine und die Klimakatastrophen) die Lebensmittel- und Energiepreise in die Höhe getrieben und die Spirale des Elends angetrieben. Da die Zinsen seit einem Jahr gestiegen sind, droht einigen Staaten aufgrund ihrer Schuldenlast der Bankrott. Nach Angaben der Weltbank konzentrieren sich in Subsahara-Afrika heute 60% der weltweiten extremen Armut, und die Zahl der Menschen, die in extremer Armut leben, nimmt weiter zu.

Europa und Nordamerika, die wohlhabendsten Regionen der Erde, sind auch die Regionen mit den höchsten Pro-Kopf-CO2-Emissionen (zusammen mit den ölproduzierenden Golfstaaten); Afrika hingegen hat den weltweit niedrigsten Pro-Kopf-Energieverbrauch – der durchschnittliche Afrikaner verbraucht weniger Strom als ein Kühlschrank, und rund 600 Millionen Menschen leben ohne Zugang zu Elektrizität. In diesem Sinne ist es der “grünste” Kontinent der Welt. Er ist aber auch der ärmste, denn fast eine halbe Milliarde Afrikaner lebt in extremer Armut.

Afrika verfügt über riesige Reserven an Kohle, Erdöl und Erdgas. Doch um diese Ressourcen zu fördern und für die Entwicklung des Landes zu nutzen, sind Geld, Infrastruktur, Fachwissen und institutionelle Kapazitäten erforderlich – und daran mangelt es den ärmsten Ländern Afrikas, insbesondere in der Subsahara. Eine Lösung besteht darin, Partnerschaften mit ausländischen Energieunternehmen einzugehen – bis vor kurzem vor allem mit europäischen und amerikanischen Firmen -, was jedoch bedeutet, dass ein Großteil des im Inland geförderten Gases und Öls exportiert und nicht für die lokale Entwicklung verwendet wird. Tatsache ist, dass fossile Brennstoffe nach wie vor der schnellste und billigste Weg sind, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, wie das chinesische Wirtschaftswunder der letzten drei Jahrzehnte zeigt. Auch wenn erneuerbare Energien für die Entwicklung Afrikas und anderer armer Regionen eine Rolle spielen können, haben viele afrikanische Länder keine andere Wahl, als in den kommenden Jahren auf fossile Brennstoffe zu setzen, wenn sie ihren Lebensstandard erhöhen wollen.

Es drohen Spekulationsblasen, die jederzeit platzen können, und es gibt derzeit ein geschwächtes Finanzsystem, wie Bankenzusammenbrüche im März 2023 (vier US-Regionalbanken sowie Credit Suisse) belegen. Die gegenwärtige Phase des Kapitalismus ist nach wie vor durch die Hypertrophie des spekulativen Finanzkapitals gekennzeichnet – es ist mittlerweile entgrenzt: Die Zahl der Finanzinstrumente steigt weiter an. Die großen Finanzakteure werden immer mächtiger und die industriellen Oligopole werden finanzialisiert.

Die Inflation verlangsamt sich, bleibt aber hoch und führt zu einem Rückgang der Kaufkraft der unteren Einkommensschichten. Im ersten Quartal 2023 stiegen die Löhne in der EU langsamer als die Preise. Die Kaufkraft ging um 0,6% zurück. Die Warenkäufe, die nach den Konfiskationen sprunghaft angestiegen waren, befinden sich seit Ende 2021 auf einem Abwärtstrend, wobei es bei den Produkten, die sich am stärksten verteuert haben, zu dramatischen Einbrüchen kam. So führt der Anstieg der Lebensmittelpreise, der laut Insee zwischen Juni 2002 und Juni 2023 13,7 % betrug, zu einem beispiellosen Rückgang des Lebensmittelkonsums – 9,7 % im Jahresvergleich -, der die Entbehrungen aufzeigt, die viele Haushalte belasten. Abgesehen von den Durchschnittswerten sind die Auswirkungen des Preisanstiegs für niedrige und mittlere Einkommen am stärksten: Der Großteil ihrer monatlichen Einnahmen fließt in den Konsum (hohe Einkommen haben natürlich eine höhere Sparquote), und die Ausgaben für Lebensmittel (und oft auch für Energie) machen einen größeren Teil des Familienbudgets aus. Diese Ausgaben hängen größtenteils von Faktoren ab, auf die die Haushalte kurzfristig nur wenig Einfluss haben: Familienzusammensetzung, Wohn- und Arbeitsort, Art der Beheizung der Wohnung etc.

Es ist schwierig, die Bewegung der Profitraten anhand der Daten aus den nationalen Buchhaltungen und der Informationen aus den Unternehmen zu erfassen. Im Moment und trotz des Fehlens von Unternehmensschließungen (die eine Erhöhung der Profitrate durch die Eliminierung der weniger profitablen Unternehmen ermöglichen), sind nach Aussage der Manager die Profite der großen Unternehmen gestiegen.

Die Gewinne stiegen 2020 stark an und scheinen sich trotz steigender Kosten vorerst zu halten. In Frankreich stieg die Gewinnspanne trotz des Konjunkturrückgangs und der steigenden Zinssätze ebenfalls an. Sie erreichte zwischen Januar und März 2023 32,3% der Wertschöpfung, gegenüber 31,9% im dritten und vierten Quartal 2022.

Hierfür waren zwei Faktoren verantwortlich. Zunächst wurden die Gewinne durch staatliche Maßnahmen angekurbelt, sei es die erneute Senkung der Produktionssteuern durch die Abschaffung der Hälfte der Abgabe auf die Wertschöpfung der Unternehmen oder die Hilfen, die eingesetzt wurden, um den Schock des Anstiegs der Gas- und Strompreise für die Unternehmen abzufedern. Zweitens haben die Unternehmen die Kostensteigerungen (Löhne und Vorleistungsgüter) weitergegeben und damit ihre Gewinne gesteigert und zur Inflation beigetragen. In einem Dokument von IWF-Ökonomen wird der Anteil der Gewinne an der Inflation in der Eurozone zwischen Anfang 2022 und Anfang 2023 auf 45% geschätzt. Es gibt derzeit tatsächlich eine „Preis-Gewinn-Schleife“ und nicht eine „Preis-Lohn-Schleife“, aber es müssen Einschränkungen müssen in Bezug auf die „Greedflation“ hervorgehoben werden: nämlich die Heterogenität der Situation der Unternehmen, die je nach ihrer Größe und ihrer Position in der Produktions- und Vertriebskette mehr oder weniger Möglichkeiten haben, ihre Preise anzuheben.

Die Investitionen in produktives Kapital in den Volkswirtschaften der Mitgliedsländer waren seit 2010 wesentlich geringer als in den Jahrzehnten zuvor. Der Fall Japan ist bezeichnend: In den 1980er Jahren betrug das Wachstum des Produktivkapitals mehr als 5% pro Jahr. Seit 2010 ist es fast auf Null gesunken. In der Eurozone sind die Zahlen von fast 3% auf unter 1% gefallen.

Was die Produktivität betrifft, so besteht eine Diskrepanz zwischen dem allgemeinen Diskurs und den Feststellungen, die viele von uns treffen können, einerseits und den makroökonomischen Daten andererseits: Die neuen Informationstechnologien (IKT) führen nach wie vor nicht zu einer Beschleunigung der Produktivitätszuwächsen.

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