Wahlen, Staat: Enteignungsinstrumente. (1)

Wahlen

Die Demokratie und ihr Instrument Wahl basieren darauf, dass die Staatsbürger ihre Machtbefugnisse an Repräsentanten abgeben bzw. an eine professionelle Gruppe delegieren, die in ihrem Namen entscheidet. Dies inkludiert eine Verkennung, denn nur weil die Repräsentanten existieren, existiert die repräsentierte Gruppe, die im Gegenzug ihre Repräsentanten als Repräsentanten der Gruppe erschafft. (Bourdieu 2013: 24) Diese Repräsentanten sind Mitglieder einer entsprechenden bürokratischen Organisation und werden von dieser mit einem Mandat versehen. Im Grunde genommen funktioniert eine politische Partei nicht anders wie die Kirche, bei beiden stellen die Delegierten, die Minister oder Sekretäre werden, die Usurpation von Plätzen als einen Dienst an der Organisation und an denjenigen dar, die sie delegiert haben. Und will sich der Minister als legitim anerkennen lassen, dann muss er eine Nachfrage nach seinem Produkt schaffen. Indem der Politiker angeblich im Volk aufgeht, macht er sich zum Volk, löscht sich aus und wird damit alles. Das Individuum geht in einer Rechtsperson auf, die wiederum diejenigen, die nichts als sich selbst sind, zu nichts macht, weil sie nicht für das Volk sprechen, nicht in dessen Namen sprechen, während der Repräsentant, der für das Volk spricht, eben alles ist. Dies nennt Bourdieu einen Orakeleffekt. Bourdieu erkennt in der Delegation an die Politprofis eine Enteignung, denn mit der Wahl überlässt der Bürger ihnen alle Macht. Nur durch die Enthaltung oder Nichtwahl kann der Bürger im Rahmen der repräsentativen Demokratie immanent Widerstand leisten, und oft ist dies die einzige Möglichkeit für die Unterklassen, denn sie verfügen nicht über die Bildung und die politischen Ressourcen, um überhaupt in politische Debatten eingreifen zu können, womit gerade ihr Schweigen als Rache an einem System begriffen werden kann, das sie per ausschließt, indem es sie einschließt. Gerade ihre Apathie muss als ein unbewusster Protest gegen die Monopolisierung der Politik in den Staatsapparaten angesehen werden.

Wahlen nötigen dazu, eine Vielzahl heterogener und oft ausschließender Diskurse, die im Kontext konfliktueller Klassenhabiti, -interessen und -strategien auftauchen, in einem singulären Akt zu verdichten, in einem Wahlakt Dinge zur Entscheidung zu stellen, für die man Tausende von politischen Auseinandersetzungen in Permanenz benötigt. Reale politische Einflussmöglichkeiten verschiedener Gruppen werden nicht nur beschränkt, vielmehr erkennt der von seinen Interessen, Wünschen und Begehren entkleidete Staatsbürger mit der Wahl an, dass jeder Einfluss an professionelle Mandatsträger delegiert wird, die innerhalb eines Büros oder Apparates fungieren.

Dabeibefinden sich die Parteien in einem politischen Feld, das sie gemeinsam besetzen, in einer gewissen Konkurrenz zueinander, wobei sich ihr Einfluss jedoch nicht in erster Linie an ihrer politischen Position bemisst, sondern vor allem an der Potenz, eine möglichst große, heterogene Wählerschaft mobilisieren zu können, was jede Partei von vornherein auch zur Unschärfe zwingt, um eine bestimmte Klientel hinter sich zu bringen. Die hegemoniale politische Meinung, die eine Partei vertritt, ist ein Leitgedanke, der gerade dann in die Tat umgesetzt werden kann, je größer und mächtiger die Gruppe ist, die er durch seine symbolischen Aktivitäten mobilisiert. (Ebd.: 149) Zugleich soll ein Einklang der politischen Dispositionen von denjenigen, die politische Meinungen verbreiten, und denjenigen, die die sie aufnehmen und affirmieren, erzeugt werden, wobei in der letzten Instanz die politische Relevanz der Meinungen, Ideen und politischen Positionen in der Stärke einer Partei liegt, die sie mobilisieren kann. In den Meinungsumfragen, die zu Wahlzeiten zunehmen, wenn nicht epidemisch werden, kommt es zur Abfrage des schon Formulierten, ohne die Produktion der Formulierung, hinter der sich Klassenstrategien verbergen, auch nur im Ansatz zu berücksichtigen.

Die Wahl ist Teil eines politischen Marktes, der jedoch keineswegs durch eine unsichtbare Hand dirigiert wird, sondern an dem insbesondere die Profis und Repräsentanten der privilegierten Klassen Angebote formulieren, die über Werbung, Medien, Fernsehen und Internet an die Repräsentierten verbreitet werden, die den Wahlakt konsumieren, insofern ihre politischen Entscheidungskapazität auf eine einzige synkretische Zeichnung verdünnt wird, mit der Dinge zur Entscheidung gestellt werden, für die man vernünftigerweise tausende Fragen, Probleme, Konflikte und Debatten benötigte. Letztlich ist die Beziehung zwischen Wahlverhalten und sozialer Klasse in der Wahl gerade ausgesetzt, vielmehr ist die Wahl aufgrund ihrer eigenen Logik »ein Instrument zur Verwischung von Konflikten und Gegensätzen.« (Ebd.:254) Die Mehrheit erkennt mit den Wahlen an, dass ihr Einfluss auf konkrete politische Entscheidungen gleich Null ist, Entscheidungen, die durch die repräsentativ-demokratische Form der Wahl zwischen austauschbaren Parteien, von einer professionell-technokratischen Kaste getroffen werden, und zwar unter Ausschluss und gegen die Bevölkerung, die allerdings mit einem Minimum an Chancen und Rechten, zu denen auch der Sozialstaat gehört, im demokratischen Spiel gehalten werden soll.

Der Staat

Wir nehmen hier Bourdieus Vorlesungen zum Staat hier als Folie, nicht weil wir denken, dass diese Analyse das Nonplusultra linker Staatstheorie darstellt, sondern weil Bourdieu die relative Autonomie des Staates betont, indem er ihn als ein Feld analysiert und sich damit gegen allzu vereinfachende funktionalistische Analysen, wie man sie im traditionellen Marxismus findet, abwendet. Die staatliche Konstruktion ist eine Fiktion, ja sogar eine Illusion, weil sie nur existieren kann, wenn an sie geglaubt wird, wird aber an sie geglaubt, dann wird diese Fiktion wirkungsmächtig. Der Staat erreicht dann seine Festigkeit, wenn er als eine Selbstverständlichkeit anerkennt wird, nach deren Genese niemand mehr fragt. Der Staat ist unter diesem Gesichtspunkt der organisierte Bereich von Vertrauenswerten, das organisierte Vertrauen bzw. der organisierte Glaube an eine kollektive Fiktion, die vom Glauben als real anerkannt wird und gerade dadurch auch real wird. Der Staat ist immer auch eine kollektive Fiktion, die sehr wohl existiert, aber nicht so existiert, wie man glaubt. (Bourdieu 2014: 78) Der Staat artikuliert sich als der Standpunkt aller Standpunkte, oder wie Bourdieu mit Leibniz sagt, als der “geometrische Ort aller Perspektiven”. Der Staat ist unter diesem Aspekt also als eine Vergöttlichung, als eine säkularisierte Kirche zu verstehen. Dafür muss er glaubhaft machen, dass er der standpunktlose Standpunkt ist, was in tagtäglichen trostlosen Spektakeln des Allgemeinen andauernd und ermüdend vorgeführt wird. Es ist der Effekt des Staates den Leuten den Glauben einzuimpfen, dass er selbstverständlich sei, sodass sich die Frage des Staates gar nicht mehr erst stellt.

Die Demokratie impliziert immer die Definition, dass die offizielle Meinung die Meinung aller ist, oder zumindest derer, die es wert sind, eine Meinung zu haben. Dazu muss man mit den durch den Staat erzeugten und kontrollierten Spielregeln auch spielen können, gerade indem man durch dieses Spiel mit den Spielregeln dem Spiel, das der Staat ist, die höchste Ehre erweist. Dazu gehören der von den Unterklassen ausgeübte Respekt, die Höflichkeit und der Anstand den Offiziellen, den Autoritäten gegenüber, die das obligatorische und fiktive »Wir« artikulieren, indem sie glauben machen, sie sprächen nichts weiter als für dieses Wir. “Wo es heute heißt: die Meinungsumfragen sind für uns, sagte man früher im anderen Kontext, Gott ist für uns.” Will sagen, Parteien produzieren einen Diskurs und vor allem den Glauben an die Universalität ihres Diskurses, indem sie Phantome produzieren, Deutschland, die Sicherheit, die Überfremdung, die soziale Gerechtigkeit, das Volk, die Freiheit usw., und das nennen sie dann Demokratie, die zusammengeschweißt wird vom Glauben an die Phantome. Die Demokratie ist unter diesem Gesichtspunkt eine akkumulierte und im Staat konzentrierte Phantomhaftigkeit, die sich als Logik der Dinge repräsentiert. Dazu bedarf es eines offiziellen Diskurses bzw. einer offiziellen Rede, die innerhalb der Institutionen, der Verwaltung, der Instanzen und des Staates zirkuliert. Der Staat ist der Raum der Zirkulation der offiziellen Rede, der öffentlichen Meinung (plus Fernsehen und Medien), der Ordnung, der Mandate und letztendlich der Ort einer noch im Protest offiziell anerkannten universellen Macht. Man hat diese Macht über lange Perioden der Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit als Konsens verstanden und dabei übersehen, dass die Inhaber des allgemeinen Wohls auch diejenigen sind, die Inhaber des Zugangs zu den öffentlichen Gütern sind. Der Staat bricht den Diskurs über Phantome ab, indem er sie sich aneignet und sie konzentriert, das heißt bestimmte Phantome als Naturnotwendigkeit deklariert – er und nur er zeigt, dass Sinn gleich Laut ist und Laut gleich Sinn, dass seine Mandatsträger im Besitz der guten Manieren und der vorzüglichen, der offiziellen Art und Weise zu reden sind. An dieser Stelle müsste man die Frage stellen, was wäre, wenn es keinen zentralen Ort mehr gäbe, und damit das staatliche Monopol auf die Benennung einem Zufallsprinzip unterstellt würde, womit jeder Akteur das Recht auf seine eigne Perspektive behielte, und damit der Staat als der geometrische Ort aller Perspektiven ad absurdum geführt würde.

Der Staat ist der Ort, von dem aus das Offizielle spricht. Worüber sich die Bevölkerung letztendlich einig ist, weil der Staat zu jedem bestimmten Zeitpunkt nicht nur in das politische Feld, sondern in die Köpfe der Leute eingeschrieben ist. Dabei ermächtigt nicht die Bevölkerung den Staat, sondern der Staat bringt mittels der Statistik die Bevölkerung hervor, indem er gleichzeitig den Einzelnen eine Staatsbürgerschaft verpasst, i.e. der Staat als eine Gesamtheit der Behörden, Verwaltungen und Dienstleitungen einer territorialen Einheit bringt den Staat als eine Gesamtheit von Bürgern innerhalb einer territorialen Einheit hervor. (Ebd.: 70) (Meistens wird an dieser Stelle Ursache und Wirkung verkannt, als ob der Staat als organisierte und repräsentierte Bevölkerung der Ursprung sei.) Die vielfach aufgemachte Opposition Staat/bürgerliche Gesellschaft ist damit als ein Kontinuum zu setzen, das eine spezifische Verteilung des Zugangs zu den materiellen, kollektiven und öffentlichen Ressourcen sichert, mit denen der Name Staat angezeigt ist.

Bourdieu schreibt: „Anders gesagt, der Staat ist kein Block, er ist ein Feld. Das administrative Feld als besonderer Sektor des Feldes der Macht ist ein Raum, der gemäß den Oppositionen strukturiert ist, die mit spezifischen Kapitalformen, mit unterschiedlichen Interessen verbunden sind.“ (Ebd.: 48) Feld heißt hier, dass seine Konstitution durch implizite Regularitäten, Gewohnheiten, Regeln und Sanktionen gleich einem Quasi-Spiel der immanente Momente ist, die ständig neu ins Spiel gebracht werden. Der Staat ist ein Kampffeld, in dem man siegt, wenn man die immanenten Regeln des Spiels perfekt beherrscht. Wer sich den Regeln des kapitalistischen Staates nicht beugt, der wird ein- oder ausgeschlossen, im besten Falle beides. Die immanenten Regeln bleiben meistens unausgesprochen, werden aber durch Strafen und Sanktionen auch immer wieder ins Spiel gebracht. Die Zwänge, unter denen das Spiel gespielt wird, sind selbst Produkt des Spiels. (Ebd.: 177) Die strukturale Analyse des Spiels ist also auch immer die seiner Kämpfe und seines Werdens.

Der Staat, der kein Subjekt darstellt (er tut nichts), entwickelt sich über die Konzentrations- und Monopolisierungsprozesse verschiedener Kapitalsorten, die er als eine Art Metakapital verwaltet und reguliert. (Ebd.: 329) Der Staat als Besitzer eines Metakapitals ist ein Feld, innerhalb dessen die Akteure um den Besitz eines Kapitals kämpfen, das Macht über die anderen Felder verleiht. (Ebd.: 348) Die Ausdifferenzierung des Feldes der Macht beginnt im 12. Jahrhundert und zieht sich über die Französische Revolution hinaus. Die Macht konzentriert sich zunächst und differenziert sich dann in ein Netz von Abhängigkeiten, sodass das Feld der Macht entsteht. Die Ausdifferenzierung der curia regis und das Aufeinandertreffen von König und Parlament sind die historischen Kulminationspunkte eines Prozesses, den Bourdieu an der Praxis der Verwendung des königlichen Siegels als Etablierung gegenseitiger Kontrollverhältnisse zeigt. »Der Staat ist „derjenige Sektor des Feldes der Macht, den man als »administratives Feld« oder »Feld der öffentlichen Verwaltung« bezeichnen kann“ und der „sich durch den Besitz des Monopols der legitimen physischen und symbolischen Gewalt definiert “(ebd.: 18). Die Geburt des Staates ist historisch mit der Niederlage des Königs verbunden, der seine Macht nur unter dem Verzicht auf die absolute Macht noch erhalten kann. (Ebd.: 527).

Der Staat konzentriert und monopolisiert nicht nur das physische, sondern vor allem des symbolische Kapital. Damit wird die Akkumulation und Konzentration von symbolischem Kapital zum entscheidenden Aspekt der Genese des Staates, ja der Staat ist die „Zentralbank des symbolischen Kapitals“ (ebd.: 222), die symbolische Macht, die die legitime Kultur über die Produktion und Kanonisierung bestimmte sozialer Klassifikationen festlegt, die nun national und durch staatliche Instanzen durchgesetzt wird (ebd.:404). Das umfasst auch die Monopolisierung der Sprache durch den Staat, insofern er eine offizielle Sprache über das Recht, die Schule und die Universität konstituiert, durchaus ein historische Zwangsmaßnahme, die in der Normalisierung der Sprache und der sie gebrauchenden Subjekte besteht, die damit auf die eigenen bzw. radikale Perspektiven verzichten, um die Äquivalenz aller Perspektiven bzw. die universelle Austauschbarkeit aller Standpunkte zu legitimieren. Der Prozess der Monopolisierung geht mit der Universalisierung einher, wobei es die Professionellen sind, die das Vorrecht auf das Universelle haben, gerade indem sie es monopolisieren. Dieser Prozess der Aneignung vollzieht sich als Konzentration und Vereinheitlichung, mit der das Lokale, Regionale und Verstreute einem universellen Standard unterstellt wird, man denke hier an den Konsens und das metrische System. Zugleich wird man als Staatsbürger konstruiert, und das heißt mittels der staatlichen Statistik quantifiziert, codiert und klassifiziert, man bekommt eine staatliche Identität verpasst. Als Staatsbürger bist du dein Pass. Bourdieu untersucht in diesem Kontext das Verhältnis von sozialem Raum, Feldern und Staat Er schreibt dazu: „Die Konstruktion des Staates als relativ autonomes Feld, das eine Macht ausübt, die die Zentralisation der physischen Gewalt und der symbolischen Gewalt bewirkt, und somit einen Einsatz von Kämpfen bildet, geht untrennbar einher mit der Konstruktion eines vereinheitlichten sozialen Raumes, der sein Gebiet ist.“ (Ebd.: 223f.) Diese Vereinheitlichungsprozesse sind solche der Sprache, der Maße und Gewichte, ja der Reden.

Der Staat eignet sich in langen qualvollen Konzentrationsprozessen, die von militärischer Macht und dem Steuerwesen ausgehen, exakt das daraus entstehende Kapital physischer Gewalt an, das heißt der Konzentrationsprozess ist gleichzeitig ein Separatíonsprozess (er enteignet die Bevölkerung von der Macht und dem Denken); das staatliche Gewaltmonopol, das allerdings ohne die Aneignung des symbolischen Kapitals durch den Staat nicht auskommen kann, bildet sich also auf Grundlage von historischen Enteignungen. Der Staat wurde sozusagen in einem langen Staatsstreich hervorgebracht, der ein für alle mal etabliert, dass es einen einzigen legitimen und dominanten Standpunkt gibt, der den Maßstab aller anderen Standpunkte bildet. In Überspitzung spricht Bourdieu vom Staat als einer organisierten Verbrecherbande, die Schutzgelder erpresst, wie man es aus Chicago kennt, i.e. sie unterscheidet sich nicht so sehr vom Staat. Bourdieu fasst zusammen: 1. Der Staat ist eine Erpresserbande, aber nicht nur. 2. Er ist eine legitime Erpresserbande. 3. Eine legitime Erpresserbande im symbolischen Sinne.

Bourdieu versteht die Entwicklung des Staates als Prozess der Integration und Homogenisierung, als produktive Objektivierungsinstanz: „Der Staat ist eng verbunden mit der Objektivierung und mit sämtlichen Objektivierungstechniken: Er behandelt die sozialen Tatsachen als Dinge, die Menschen wie die Dinge – er ist Durkheimianer lange vor Durkheim.“ (Ebd.: 377) Vereinheitlichung und Integration sind von der Enteignung nicht zu trennen, insofern Kenntnisse und Kompetenzen, die auf lokale Werte und Maße bezogen sind, nun entwertet sind. So geht die Universalisierung Hand in Hand mit der Konzentration der Universalität. Dieser Übergang kennzeichnet auch die Transformation vom lokalen Markt zum nationalen Markt, egal ob auf ökonomischer oder symbolischer Ebene. Exakt die letztere Ebene ist ein Effekt der Macht, die mit der Institution des Staates verbunden ist, und dieser Effekt besteht in einer Naturalisierung, einer doxa, die auf relativ willkürlichen Voraussetzungen beruht, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Staates gemacht wurden. (Ebd.: 208) Dabei existiert die Institution in der Objektivität und in der Subjektivität, in den Dingen und in den Gehirnen, wie Bourdieu sagt. Indem sie in der Objektivität des Reglements und in den mentalen Strukturen existiert, verschwindet die Institution. (Ebd.: 209) Der Staat kann dann mit dem So-ist-es-Effekt spielen, eine äußerst gewaltsame Aktion des Staates, die der Bevölkerung aufgenötigt wird und die sie ohne Wenn und Aber zu akzeptieren hat. Der Staat schließt also immer den Raum der Möglichkeiten, insbesondere den des Widerstands.

Und was unbedingt zu beachten ist, das besteht darin, dass die Prozesse der Homogenisierung, Standardisierung und Vereinheitlichung, durch die der Staat sich zum Staat macht, mit den Prozessen seiner Reproduktion einhergehen. (Ebd: 219) Schulabschluss, Nation, Bildung oder Orthographie werden als Formen der Verkennung generiert und reproduziert. Der Staat (A) als Verwaltung, Apparat, Ministerien, ja als Regierungsform bringt den Staat (B) als Territorium und als die Gesamtheit der Bürger hervor, nicht umgekehrt, wie oft angenommen wird. Der Staat A bildet sich, indem er den Staat B bildet, und zwar durch Anerkennungsbeziehungen der Bürger. Bourdieu fasst die zugleich im Staat existierenden Differenzierungen nicht funktionalistisch, sondern konfliktuell als Ausdifferenzierung von Macht. An dieser Stelle kommt die Ausdifferenzierung des juridischen Feldes ins Spiel. Historisch war die Institution der Juristen schon früh das Parlament, sie erhielten eine königliche Vollmacht, das Recht zu wahren, und „das ist der Wurm, der in die Frucht eindringt“ (ebd.:578).

Staat und Faschismus

Die AfD dominiert derzeit den Wahlkampf, indem es ihr in der Öffentlichkeit gelungen ist, den Gegensatz zwischen arm und reich durch den Gegensatz Deutsche versus Ausländer zu ersetzen, und alle großen Parteien ihre Politik danach mehr oder weniger ausrichten. Mit ihrem unermüdlichen Warnen vor der AfD zeigt aber der aufgeklärte Flügel der Deutschen vor allem eines, dass man nämlich wild entschlossen ist weiterzumachen wie bisher, in seinem kleinen Land zusammenzurücken und beide Augen vor der Welt da draußen zu schließen, außer sie als billiges Urlaubsparadies und als Müllhalde für die eigenen Waren zu imaginieren, in sozialer Amnesie, jede Institution, der man sich unterwirft, als selbstverständlich hinzunehmen und vor allem alles, was stört, sei es die AfD, als ein Anlass für seelische Verdauungsstörungen zu begreifen, die unter Umständen dazu führen könnten, dass in zwei Jahren die Depressionen weiter zu nehmen und die Einweisungen in geschlossene Anstalten sprunghaft ansteigen. Die Zuschreibung des Rassismus allein an die AfD verdeckt den Rassismus der Mehrheit. Um den Flüchtling zu beherrschen, muss man ihn integrieren und ihn gleichzeitig zum Kameltreiber oder wahlweise zum potenziell Kriminellen machen, zu rassistisch verachteten Beherrschten. Integration heißt für den Flüchtling, den Deutschen nachzuäffen. Darin bestand und besteht die verkannte Idee der deutschen Bildung: Einen Affen zu erziehen.

Der Staat kann die Wahrnehmungskategorien innerhalb der Grenzen seines Territoriums universalisieren, indem er eine Bevölkerung konstituiert, deren Mitglieder die gleichen Wahrnehmungskategorien besitzen, nachdem sie die gleichen Konditionierungen und Einimpfungen bestimmter Prozeduren durch den Staat durchlaufen und erlitten haben, bspw. die Schule, die ihnen gemeinsame Wahrnehmungs- und Einteilungsprinzipien gibt. Der sog. Nationalcharakter, der keineswegs mit der Staatsbürgerschaft gleichzusetzen ist, den aber die Deutschen immer mit dieser vermischen, ist das Ergebnis von bestimmten Einimpfungsprozeduren, die allesamt auf einen sublimierten Rassismus hinauslaufen. Im Gegensatz zum Nationalcharakter ist der Bürger eine rein juridische Einheit, die existiert, insofern sie Relationen von Rechten und Pflichten zum Staat unterhält, wohingegen die Nation als eine ethnokulturelle Einheit gilt, die zwar gesetzlich definiert werden kann, aber deutlich von der Staatsbürgerschaft unterschieden ist. Der Bürger ist jeder, der von einer Verfassung als solcher anerkannt wird, er muss keine besonderen Eigenschaften haben, die mit dem Blut oder der Herkunft verbunden sind, wie es der völkische Rassismus annimmt.

Werden die Massen als Nation konstituiert, dann ist das ein spezifischer Prozess, den George Mosse in seinem Buch »Ein Volk, ein Reich, ein Führer« exakt beschrieben hat. Für Mosse ist der Nationalsozialismus lediglich der Grenzfall der Demokratie, indem er die Indoktrination homogener kollektiver Vorstellungen, die in Demokratien immer zu beobachten sind, in das Extrem hinein treibt. (Ebd.: 606) Die Predigt der Macht ist hier dem Irrationalismus einer faschistischen Massenpolitik verwandt, die eine Einheit, die erst nur auf dem Papier besteht, gewissermaßen fühlbar macht. Der allgemeine Wille wird als kollektive Emotion vorgeführt. Die Nazis haben den Prozess der Konstruktion einer Einheit der Emotion auf ein ganzes Volk ausgedehnt und zum Äußersten der Vernichtung vorangetrieben. Es ist eine rasante Steigerung von Tendenzen, die in bestimmten demokratischen Verfahren und Zeremonien auch anzutreffen sind. Deleuze und Guattari haben die Demokratie in all ihren Kollaborationen scharf kritisiert, indem sie sie gewöhnlich den Cousin des Totalitarismus nennen. Die Nation gerinnt jetzt zur imaginären Inkarnation des Volke, eine nationale Selbstrepräsentation, die auf dem beruht, was das Volk vereint: Sprache, Geschichte, Heimat, Blut etc.

Bourdieu, Pierre (2013): Politk. Schriften  zur Politischen Ökonomie 2

  • (2014): Über den Staat.

Foto: Bernhard Weber

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