Der Finanz-Staat-Nexus unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Zentralbanken

Die Verschaltung oder Verknüpfung von Staat und finanziellem Kapital wird heute in der akademischen Literatur vielfach als operativ-organisatorischer Staat-Finanz-Nexus bezeichnet. (Vgl. Malik 2014) Dieser Staat-Finanz-Nexus (das staatliche Management des Ökonomischen durch Finanzministerien, Notenbanken, ínformelle Organisationen etc. bei gleichzeitiger Existenz deterritorialisierender Geldkapitalflüsse, i . e. international operierender Finanzkonzerne, Banken und Schattenbanken) zeichnet sich als ein wichtiger Knotenpunkt im Nervensystem des nationalen Gesamtkapitals und des globalisierten Kapitals aus.Heute ist der schnell wachsende Einfluss des finanziellen Kapitals – seiner Strategien und Institutionen, seiner Marktmechanismen und Machttechnologien – auf die staatliche Souveränität und ihre diversen Regierungsformen kaum noch zu übersehen. Gerade während und nach der Finanzkrise von 2008f. wurde der Ratschlag Milton Friedmans von den ökonomischen und politischen Eliten der kapitalistischen Kernländer allzu gerne befolgt, die Krise als eine Chance zur Realisierung des politisch Unbequemen zu verstehen und zu nutzen, um eine weitere Forcierung hin zur Ökonomisierung gesellchaftlicher Bereiche und der staatlichen Politiken in Angriff zu nehmen (man denke etwa an die Privatisierung öffentlicher Aufgaben, an die Vervielfachung öffentlich-privater Unternehmen und an die Privatisierung öffentlicher Infrastrukturen). Wenn Joseph Vogl die Außerkraftsetzung von nationalen Gesetzen während der Zeit staatlicher Rettungsmaßnahmen, die Reduzierung nationaler Budgetrechte wie etwa im Fall Griechenlands und die Einsetzung informeller Exekutivorgane wie der EU-Komission als Merkmale eines kontinuierlichen Staatsstreichs bezeichnet, dann ist ihm insoweit Recht zu geben, als er den Staatsstreich nicht im Sinne eines voluntaristischen Putsches, sondern, wie im Fall der EU-Politiken, als die Durchsetzung einer neuen transnationalen Gouvernementalität zur Regulierung von auf Dauer gestellten Ausnahmesituationen versteht, bei der in Permanenz auf internationaler Ebene Rechtsregeln, die auf nationaler Ebene vielleicht noch gültig sind, transformiert oder gar suspendiert werden, falls die Sicherung der bestehenden Kapital-Interessen in Situationen der Krise oder des Notstands dies benötigt. (Vogl 2015: 18f.) Aber auch auf nationaler Ebene agiert und interveniert der Staat nicht mehr unbedingt auf Grundlage von Gesetzen und/oder allgemeiner, formaler und fixierter Normen, sondern, um es mit Foucault zu sagen, aufgrund von flexiblen diagrammatischen Normalisierungen, die spezielle Projekte und Regelungen, Leerstellen in den Gesetzen und ständige Gesetzesveränderungen beinhalten, die wiederum auf aktuelle Konjunkturen, Situationen und ökonomische Konstellationen abgestimmt sind.1 (Vgl. Foucault 2004b / Poulantzas 1978: 200) Die Regelungen der Wirtschaftspolitik erfahren eine Institutionalisierung in von demokratisch-parlamentarischer Kontrolle unabhängigen Institutionen (EZB), über die eine neue Technokratie und deren Exekutivorgane die Defintionsmacht besitzen. Dies geht mit der Stärkung exekutiver Staatsorgane und der entsprechenden Marginalisierung legislativ-parlamentarischer Strukturen einher. Zudem erfordert die Sicherung des nationalen und internationalen Finanzsystems heute umfangreiche Dispositive, Strukturen und Operationen eines eher informellen Konsortiums aus staatlichen und substaatlichen Institutionen, aus Ad-hoc-Gremien, Konzernen, Banken, Notenbanken, Hedgefonds und internationalen Organisationen. Man hat seit der Krise von 2008f. von staatlicher Seite eine Reihe von – systemimmanent betrachtet – notwendigen Maßnahmen zur Stützung und Stabilisierung des Finanzsystems ergriffen und dabei die Verflechtungsintensität zwischen den staatlichen, den substaatlichen und den finanziellen Agencies unaufhörlich weiter gesteigert – Agencies, die zum Teil informell operieren, das heißt in speziell anpassungsfähig gemachten politischen Räumen und entlang der abstrakten Linien des finanziellen Kapitals. Somit sind auch die Finanzmärkte keineswegs als deliberalisierte, sondern als spezifisch regulierte Märkte zu verstehen, wobei gerade ihre eigene differenzielle Prozessualität den Regulierungsbedarf ständig erhöht – und diese Aufgaben fallen nicht nur den staatlichen Institutionen, sondern eben auch den unterschiedlichsten halbstaatlichen und privaten Organisationen, Abkommen und Instanzen zu. Gerade das liberale Argument gegen das »Big Government« musste paradoxerweise ab den 1980er Jahren oft genug dafür herhalten, dass zunehmend Verwaltungsstrukturen geschaffen wurden, die heute viel umfangreicher sind als noch zu Zeiten des organisierten, ordoliberal inspirierten Kapitalismus der 1960er Jahre. Um nur ein Beispiel zu nennen: Um die Jahrtausendwende hat die amerikanische Regierung rund 50.000 Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen. Gleichzeitig aber hat sich im selben Zeitraum die Anzahl der Stellen bei Vertrags- und Leasingpartnern und outgesourcten Unternehmen, die im Regierungsauftrag handeln, um etwa eine Million Stellen erhöht. (Vogl 2015: 211-212) Den beschriebenen Staat-Kapital-Nexus durchziehen entlang diverser Linien fluide, diagrammatische Machtformationen, die, während sie noch in Teilen durch die etablierten Konfigurationen und Apparate des modernen Staates aufrechterhalten werden, zugleich die bisherige machtpolitische Stärke des Staates relativieren, und dies in erster Linie durch mehrere zusammenhängende Transformationen der primären Strukturen des Kapitals selbst und seiner inneren »Logik« und weniger aufgrund der Größe des gegenwärtigen finanziellen Kapitals, seiner Feuerkraft bzw. Potenzialität und seiner einzigartigen Konnektivität (und Geschwindigkeit). Allerdings haben wir es längst nicht mit einem Minimalstaat zu tun, denn das spezifisch neoliberale Moment des finanziellen Kapitals besteht gerade darin, Strategien, Programme und Verfahren zu entwickeln, die einen solide funktionierenden Staat dahingehend transformieren, dass dieser das neoliberale Ideal einer der Freiheit des Marktes verpflichteten Ökonomie sowie der Ökonomisierung von bislang nicht-ökonomischen Bereichen, Institutionen und Praktiken rigoros durchsetzt. (Mirowski 2015: Abschnitt 2. Kindle-Edition)

Schon im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden in Europa politische Ausnahmesituationen, die vornehmlich auf den hohen Geldbedarf des absolutistischen Staates in Kriegssituationen zurückzuführen waren, mit Hilfe der schrittweisen Etablierung des Steuerstaates und der rechtlichen Garantien für die Gläubiger von Staatsschulden (das Zusammenspiel von Steuereintreibung und Staatskredit) auf Dauer gestellt. Vogl nennt in seinem Buch Souveränitätseffekte einige wesentliche Merkmale, die den Fiskalkomplex als einen wichtigen Teil des frühkapitalistischen Staates auszeichneten: Steuereinkommen, Staatsschulden, Münzwesen, fiskalische Integration und öffentlicher Kredit. (Vogl 2015: 76) Schon Marx erwähnte (neben der den Prozess der ursprünglichen Akkumulation bestimmenden Trias von Grundherren, Pächtern und Arbeitern, die zu »freien« Arbeits- und Kapitalströmen führte) als konstitutive Elemente für die sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals das Kolonialregime, Protektionismus, Handelskriege und eben das moderne Steuersystem sowie das Staatsschuldensystem. Entscheidender Faktor bleibt bei Marx eine durch Marktimperative gekennzeichnete Ökonomie, wie sie durch die ausschließlich in England vorkommende Transformation der Eigentumsverhältnisse im 16. Jahrhundert stattfand. (Meiksins Wood 2015: 172) Der Finanzierungsbedarf des frühbürgerlichen bzw. absolutistischen Staates (Frankreich), der zum großen Teil als Resultat von Kriegsführungen entstand, erforderte unweigerlich die Verschuldung des Staates bei privaten Kreditgebern, die jener sich nur dann leisten konnte, wenn es ihm möglich war, die kontinuierliche Steuereintreibung insbesondere gegenüber den unteren Klassen auf Dauer gewaltförmig zu etablieren. Das englische Bankensystem wiederum zeichnete sich im 17.Jahrhundert durch die Besonderheit aus, nicht auf die Handelsarbitrage zwischen getrennten Märkten angewiesen zu sein, sondern auf einen nationalen Markt mit London als Zentrum zurückgeifen zu können, und dies als das Resultat einer an der Verbesserung der Produktivität orientierten proto-kapitalistischen Landwirtschaft, die einen wachsenden Anteil einer nicht agrarischen Bevölkerung mit Lebensmittel versorgen konnte. (Ebd.: 155) Dies erlaubte es England die Vorherrschaft in einem völlig neu gestalteten internationalen Handel zu erringen. Dabei nahm der fiskalische Apparat gegenüber dem Staat von vornherein eine exzentrische Position ein und blieb als quasi-selbständige Rechtsperson bis zu einem gewissen Maß dem direkten staatlichen Zugriff entzogen. Gleichzeitig kam es zur Etablierung eines frühneuzeitlichen Kapitals, das die Staatsschulden als Quelle privater Vermögensbildung nutzte.

Vogl schreibt, dass in der Historie des Kapitals mit der Verflechtung von Steuern, öffentlichem Kredit und Staatsschulden schon früh ein neues diagrammatisches, strategisches, polit-ökonomisches Feld etabliert worden sei, das als eine »Indifferenzzone« bezeichnet werden könne (im Gegensatz zur relativen Autonomie des Staates gegenüber dem Kapital). In diesem Feld entwickelte sich laut Vogl eine »seigniorale Macht« (Vogl 2015: 69f.), mit der es dem Kapital gelang, sich in gewisser Unabhängigkeit gegenüber der juridischen Souveränität, den Parlamenten, der Exekutive und den Technologien der administrativen Staatsapparate in ein neues polit-ökonomisches Feld zu integrieren, dessen Kohäsionskraft eben gerade durch diffuse, instabile und informelle Kräftekonstellationen zwischen Staat und Kapital gekennzeichnet war. Vogl spricht bezüglich dieser polit-ökonomisch situierten Verschränkung von Staat und Kapital einerseits von Fusionen und Verdichtungen, andererseits von diagrammatischen Anordnungen, in denen heterogene Einheiten, informelle Kräfteverhältnisse und strategische Politiken unter den Beteiligten vorherrschen. Für diesen Typus seignioraler Macht zählt Vogl folgende genealogischen Merkmale auf: 1) Die Konvertierung der staatlichen Macht in private Kapital-Macht war durch die Etablierung heterogener Assemblagen (Bank of England) gekennzeichnet, in denen es zur Integration von Rechtsregeln, politischer Intervention, ökonomischen Infrastrukturen und diversen Kapitalstrategien kam. 2) Der Staat unterwarf sich mit der Emission von Staatsanleihen zunehmend stärker der Macht privater Gläubiger, womit es gleichzeitig zur verstärkten Auslösung von Kreditzyklizitäten kam, die bald von der Kapitalisierung des fiktiven Kapitals nicht mehr zu trennen waren.2 3) Es verfestigte sich schrittweise die informelle Konnexion zwischen staatlichen Strukturen und privater Finanzialisierung, mit der das Kreditsystem gestärkt und stabile Infrastrukturen für den Geld- und Kapitalverkehr geschaffen wurden, die den Handel des fiktiven Kapitals auf breiter Basis erst ermöglichten. (Ebd.:103ff.)

Die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals zeichnete sich neben der Zusammenfügung von Strömen doppelt freier Arbeitskräfte und quantitativen Geldkapitals also auch durch die schrittweise Formierung eines diagrammatisch funktionierenden Staat-Kapital-Nexus aus. Über die Etablierung von Staatsschulden, Steuerwesen und ersten Regierungsbanken entstand eine quasi-souveräne Macht, die später in den Notenbanken eine institutionelle Realisierung erfuhr und sich den staatlichen Zugriffen immer wieder auch entziehen konnte. (Ebd.: 105) Und dies zeigte sich schon mit der Gründung der Bank of England von 1694, die insbesondere durch private Gläubiger, die sich zu einem Konsortium zusammengeschlossen hatten und für ihre Kredite feste Zinseinnahmen (Abtretung von Steuermonopolen) erhielten, erheblich stabilisiert wurde. Während gleichzeitig private Investoren in die Ausübung der Regierungspolitik einbezogen wurden, kam es zur weiteren Fundierung des privaten Finanzsystems, indem der Staat deren Eigentumsrechte und damit den entsprechenden Schutz der Kapitalvermögen garantierte.

Schließlich hat sich mit der Notenbank eine quasi-autonome Institution innerhalb des Staates entwickelt, die sich bis heute den direkten Zugriffen von Exekutive und Legislative ebenfalls immer wieder zu entziehen vermag. Notenbanken funktionieren als Scharniere zwischen den Staatsapparaten und dem finanziellen Kapital, indem sie die Macht von beiden Bereichen strukturell zu stabilisieren versuchen. So sind die Notenbanken in gewisser Hinsicht als ökonomische Zugkräfte und zugleich als polit-ökonomische Steuerungsinstrumente zu fassen. Dies ist bezogen auf fluktuierende polit-ökonomische Prozesse, in denen selbst noch Kriege als finanzielle Risiken kalkuliert werden und die deshalb mit ökonomischen Prozessen wie Zins- und Preisbewegungen an den Finanzmärkten gekoppelt sind. (Ebd.: 141) Dabei blieb die Notenbank über lange Zeit eine privat geführte Regierungsbank, der schrittweise polit-ökonomische Kompetenzen wie Notenemission und öffentliche Geldschöpfung, Sicherung der Währung des Landes, der Schutz der nationalen Geschäftsbanken, Regulierung der umlaufenden Geldmenge (M1-M3) und die Gewährleistung der Preisstabilität sowie Maßnahmen zur Inflationsbereinigung und Zinspolitik übertragen wurden. 3 (Ebd.: 144)

Es geht an dieser Stelle weder um die Bestätigung der These von der intensiven Verflechtung von Staat und Monopolkonzernen – wie die Theorie des »staatsmonopolistischen Kapitalismus« und Lenins Imerialismustheorie etwa annimmt – noch darum, von einer direkten Durchsetzung der Kapitalinteressen im Staat zu sprechen, sondern um die Analyse der Konsolidierung der Institution Notenbank, die selbst eine spezifische Form des polit-ökonomischen Regierens darstellt. Dies zeigt sich hinsichtlich des Einflusses auf den Staat meistens daran, dass einerseits den Regierungen der Zugriff auf die Regelung von Geldmengen nicht gestattet ist, andererseits die Notenbanken aber durchaus strategischen Einfluss auf die Ordnung der Staatshaushalte und staatliche Kreditvergaben nehmen können. Notenbanken übernehmen heute Aufgaben wie die Mindestreservepolitik gegenüber den Geschäftsbanken, die Fixierung der Zins- und Diskontsätze, Offenmarktgeschäfte, die Kontrolle und Regulierung des Geld- und Kreditsystems und die direkte und indirekte Regulierung der Staatsfinanzierung. (Ebd.) Dabei stehen im Zuge der Übernahme von monetaristischen Positionen heute insbesondere die Einhaltung der Preisstabililität und die Bekämpfung der Inflation im Vordergrund der Politik der Notenbanken.

Wie wir schon in Kapitalisierung Bd. 2 ausgeführt haben, übernimmt in der Hierarchie des institutionalisierten nationalen Geldsystems die Notenbank die führende Position, wobei sie im Kontext ihrer eigenen Bilanzierungen Bar- oder Buchgeld als erstes Zahlungsmittel ausgibt, indem sie dieses (es wird als Verbindlichkeit in ihren Bilanzen angeschrieben) gegen Wertpapiere des privaten Kapitals (Geschäftsbanken), welches sich dadurch nun im Besitz von Notenbankgeld befindet, tauscht. (Vgl. Szepanski 2014: 77ff.) Notenbankgeld ist rein formal als eine Verbindlichkeit der Notenbank zu verstehen, die in Tauschakten mit privaten Geschäftsbanken realisiert wird. In einem finanziellen System ohne Golddeckung verspricht die Notenbank keineswegs mehr, dass die Landeswährung zu einem bestimmten Kurs gegen Gold eingetauscht werden kann. Heute hat nämlich im nationalen Währungsraum Notenbankgeld Gold längst ersetzt, i. e. es fungiert selbstreferenziell, insofern der Anspruch auf Geld eine Forderung an die Notenbank ist – auf das Geld der Notenbank. (Weber 2015: 220) Dies heißt aber noch lange nicht, dass die Notenbank wie oft angenommen als »Lender of last resort« fungiert, weil sie eben in die privaten Geldkapitalbewegungen und die differenzielle Kapitalakkumulation vollständig integriert bleibt. Es wäre diesbezüglich zunächst die Kreditgeldschöpfung der privaten Banken selbst zu erwähnen, die dann stattfindet, wenn die Banken ihren Kunden qua Kredit Guthaben einräumen. Guthaben bilden hier Ansprüche auf Notenbankgeld, insofern sie als Bargeld realisiert werden können. Gewährt die Bank einem Kunden einen Kredit, so schreibt sie die Summe ihm in seiner Funktion als Schuldner auf seinem Girokonto gut, womit zugleich Buch- oder Giralgeld entsteht, sodass die Bank auf der Aktivseite ihrer Bilanz eine Kreditforderung gegenüber dem Kunden besitzt, der auf der Passivseite die Einlage des Kunden als Verbindlichkeit gegenübersteht. Zwar hat der Kunde nun die kreditierte Geldsumme zur freien Verfügung, zugleich besteht aber auch eine entsprechende Schuld gegenüber der Bank. Wenn der Kunde Rechnungen aus seinem Girokonto zahlt, dann fließt Geld in entsprechender Höhe auf Konten anderer Personen oder Unternehmen, die ihre Konten bei anderen Banken unterhalten. Bei jedem Geldschöpfungskredit fungiert die emittierende Bank also als Gläubiger und Schuldner zugleich, während umgekehrt auch die Kunden eine Forderung und eine Schuld besitzen. Hierzu kann denn auch der Ökonom Otto Veit ohne weiteres schreiben: »Die geldschaffende Bank gewährt einem Kunden Kredit; zugleich wird der geldschaffenden Bank Kredit gegeben von jedem, der das Bankgeld als vollwertige Zahlung annimmt.« (Zitiert nach Schmitt 1978: 3)

Verfügt die kreditierende Bank an einem bestimmten Auszahlungstag über ausreichende Geldmittel, so zahlt sie die abgerufenen Summen aus ihrem Bestand; bei einem Minus fragt sie das Geld in der Regel auf dem Interbankenmarkt nach. Die aus diesen Kontenbewegungen entstehenden Salden zwischen den Geschäftsbanken werden in Notenbankgeld beglichen. Man kann nun zwar weiterhin von der qualitativen Dominanz des Notenbankgeldes sprechen, allerdings sind heute die von den Geschäftsbanken geschöpften Gelder in quantitativer Hinsicht wesentlich bedeutender als das Notenbankgeld, sodass man auch an dieser Stelle langsam über die Bedeutung des Umschlags von Quantität in Qualität nachdenken muss. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde also ein wesentlicher Kompetenzbereich der Zentralbanken, der in der quasi-autonomen Geld- und Währungspolitik bestand, zunehmend an das finanzielle Kapital selbst transferiert. Giralgeld ist längst nicht mehr nur das, was die Notenbank als ihr Geld ausgibt, sondern auch das, was private Geschäftsbanken als Kreditgeld schöpfen. Damit sind die Notenbanken auch nicht mehr exakt darüber informiert, welche Geldmengen aktuell im Umlauf sind – und wie viele Risiken damit an den Finanzmärkten zirkulieren.

Somit üben die Notenbanken nicht mehr unangefochten die Funktion eines »Lenders of last resort« aus, weil ein hoher Anteil der nationalen und transnationalen Operationen des finanziellen Kapitals (der Geschäfts-, Investitions- und Schattenbanken) unabhängig von der Notenbank exekutiert wird, während hingegen die regierungstechnische Interventionskraft der Notenbanken von den Preisbewegungen des derivativen Geldkapitals stets abhängig bleibt. Gerade in ökonomischen Krisenzeiten wird dann aber der Einsatz des Sicherheitsdispositivs »Notenbank« von gefährdeten finanziellen Kapitalteilen selbst wieder eingefordert. Ihre Operationen wie Mindestreservebildung, Liquiditätssicherung und Zinspolitik verknüpfen die Notenbanken ständig mit den Strategien des privaten finanziellen Kapitals. Gerade die Etablierung der Notenbanken als »vierte Gewalt im Staat«, die legale Abkopplung gegenüber Exekutive und Legislative und die Transformation der Notenbank in Richtung einer quasi-autonomen Regierungspraxis bestätigt zudem die Ausrichtung der Notenbanken an den Dynamiken und Notwendigkeiten der finanziellen Kapitalakkumulation. (Vogl 2015: 192ff.) Ohne den massiven Einfluss auf das Regierungshandeln des Staates und der Notenbank durch das finanzielle Kapital direkt beim Namen zu nennen – Vogl spricht stets von den »Finanzmärkten«4, ohne ihre Funktion für das Kapital genauer zu bestimmen -, weist er mehrmals darauf hin, dass gerade über das Scharnier der Notenbank der ökonomische Faktor »zyklische Akkumulation des Geldkapitals« integrativer Bestandteil politischer und staatlicher Regierungspraxen geworden sei. (Ebd.: 162) Die Notenbanken bleiben also stärker denn je an die Zyklizität der Kapitalakkumulation gebunden, was sich auch darin zeigt, dass die Notenbankzinsen in fast allen konjunkturellen Zyklen der BRD den marktdominierten Anstieg der Geldmarktzinsen nachvollzogen haben. Allerdings hat im Zuge der Politik des »Quantitative Easing« (QE) die Zurücknahme der Notenbankzinsen gerade die expansiven Entwicklungen an den Geldmärkten stark befördert und beschleunigt, ohne dass bis heute eine schlagende Verbesserung der Investitionsdynamik des industriellen Kapitals zu vermelden ist (vgl. dazu die entsprechenden Statistiken; Krüger 2015: 459). Gegenwärtig kommt den kurzfristigen Zinssatzänderungen aufgrund der Politik des QE kein zyklischer Einfluss mehr zu, weil die Unternehmen in der Rezession eher Schulden abbauen als Kredite aufnehmen, womit auch der Leitzinssatz seine Steuerungs- und Allokationsfunktion für die (industrielle) Kapitalakkumulation zumindest graduell verliert.

Ein wichtiges neues Charakteristikum des regulatorischen Frameworks innerhalb der Finanzsphäre selbst besteht definitiv in der rasanten Entwicklung des Extra-Banken-Systems. Diese Unternehmen finanzieren ihre Aktivitäten meistens durch nicht-traditionelle Quellen der Kreditierung. Die heute an den internationalisierten Märkten vorzufindenden Finanzierungsmodelle haben die globale »Securitization« der Schulden und die internationale Mobilität des real-finanziellen Kapitals zu ihrer Voraussetzung, das heißt, einen globalen Raum für multiple Investments, der unter anderem auch bestimmte Funktionsweisen und Erfordernisse der modernen Finance in erweiterte Konsequenzen der Märkte umsetzt. Dabei haben sich die globalen Finanzmärkte zu komplexen, multidimensionalen Systemen ausdifferenziert, die nicht nur die Geld-, Anlage-, Aktien- oder Devisenmärkte einschließen, sie inkludieren zudem die Derivatmärkte und Märkte für alle Arten von Sicherheit. (Vgl. Sotiropoulos//Milios/Lapatsioras 2013a: 118ff.) In diesem Rahmen sind die Derivate selbst als Kapitalformen der finanziellen Innovation zu verstehen, wenn sie auf internationaler Ebene Folgendes leisten: 1) Die Überwindung der Friktionen, die auf nationale Grenzen zurückzuführen sind. 2) Die Öffnung der nationalen Ökonomien für den ausländischen Wettbewerb. 3) Die Überwindung der Schwerfälligkeit der klassischen Produktion. 4) Die Verbesserung der Rolle der modernen Finance bezüglich der Förderung des Wettbewerbs.

Es hat sich heute ein global zirkulierendes Kapital herausgebildet, das permanent auf der Suche nach halbwegs sicheren Profiten ist. »Sichere Profite« bedeutet, dass das Risikomanagement (die Wahrscheinlichkeit, einen erwarteten Gewinn zu realisieren) an grundlegender Bedeutung an den Finanzmärkten gewinnt. Dabei umfassen die Funktionsweisen des finanziellen Systems nicht nur die Kapitalisierung der spekulativen Investments, sondern auch die Komponenten eines Kontrollmechanismus, der die jeweilige Mobilität der Einzelkapitale »reguliert« und wenn möglich befördert, indem er die Bedingungen für den Wettbewerb ständig neu erzeugt. Indem die Einzelkapitale dem nationalen und internationalen Wettbewerb ausgesetzt und ihre Aktivitäten finanziert werden, schafft man zugleich Methoden, um profitables Kapital zu belohnen und unprofitables Kapital zu bestrafen.

In diesem Kontext findet auch die Transformation der Aktivitäten der klassischen Geschäftsbanken statt, und dies aufgrund der Veränderung der Korrelation zwischen den Geschäftsbanken und den Geld- und Kapitalmärkten. Das Autorenteam Sotiropoulos/Milios/Lapatsioras hat dies in den folgenden Punkten zusammengefasst (Ebd.):

  1. Assets und Aktien gelten beide als »Securities«. Um aber eine umfassende Finanzierung voranzutreiben, mussten in den letzten Jahrzehnten definitiv neue Formen der »Securitization« der Schulden entwickelt werden. Die »Securitization« von Schulden ist ein wichtiger Prozess geworden, der das traditionelle Kreditsystem und seine Krisen massiv beeinflusst.

  2. Die verschiedenen Nicht-Banken-Systeme, die an den internationalen Geld- und Kapitalmärkten operieren, sind von den regulativen Restriktionen, denen die klassischen Geschäftsbanken unterliegen, weitestgehend nicht betroffen und sie sind damit permanent befähigt, Geld zu extrem niedrigen Zinsraten auszuleihen. Dies hat wiederum Konsequenzen für die Struktur und die Funktionsweise des gesamten Bankensystems. Die neuen Arrangements und Strategien der Schattenbanken haben die Profite der klassischen Geschäftsbanken reduziert und damit deren innere Kompositionen der Bilanzierung verändert. Somit müssen sich jetzt auch die Geschäftsbanken viel stärker auf die Prozesse der Securitization konzentrieren. Wenn eine Bank einen Kredit aufnimmt, dann ist sie gezwungen, eine bestimmte Summe des aufgenommen Geldes zu versichern, um im Falle einer misslungenen Verwertung ihren nach wie vor bestehenden Verpflichtungen nachzukommen. Dies schmälert jedoch ihre Aussichten, weiteres Fremdkapital auszuleihen, da sie außerdem gezwungen ist, eine gewisse Summe an Eigenkapital zu halten. Wenn die Bank aber den Kredit weiterverkauft, dann bedarf es an dieser Stelle keiner Versicherung, und damit ist die Bank in der Lage, einen Teil ihrer Cashflows zurückzuhalten, um neue Sicherheiten zu hinterlegen und zugleich neue Profitquellen anzuzapfen, die wiederum von der Expansion der Kreditierung abhängig sind. Nichtsdestotrotz beinhalten auch diese Prozesse eine Reihe von Restriktionen. Es kommt auch zu einer neuen Verbindung von Innovationen, die im »Realsektor« und schließlich im gesamten gesellschaftlichen Feld stattfinden, und denen im Sektor des finanziellen Kapitals, die die Derivate und Finanzdienstleistungen betreffen. Dabei entstehen neue Markt- und Anpassungsimperative für die Unternehmen, die mit der Zerstörung tradierter technologischer und ökonomischer Strukturen verbunden sind. So haben die Prozesse der Securization, der an Märkten handelbaren Verbriefung von Krediten (vgl. dazu Hartmann 2015: 72f.), über die Schaffung enormer Liquiditätspotenziale und der Reorganisation und Entfesselung der Risiken mit Hilfe virtueller Maschinen zur Zerschlagung alter Bankenstrukturen beigetragen. Die Securization ist als eine Technologie zu verstehen, die insbesondere die Schatten- bzw. Investmentbanken anwenden, um die traditionellen Großbanken in der Konkurrenz zu überholen. Dabei werden standardisierte Kredite und Wertpapiere gebündelt, in einem Pool verpackt (und wieder tranchiert) und auf speziellen Märkten verkauft, um als Sicherheit für weitere Kreditaufnahmen und deren Verkäufe zu dienen (die Verkäufe sind häufig mit Rückkaufversprechen verbunden). Die zu bestimmten Einheiten gebündelten Derivate werden in Klassen von Papieren mit unterschiedlichen Risiken und Herkünften geteilt, und darauf bezogen werden weitere Wertpapiere (Securities) von neu konstruierten Institutionen (SPV) verkauft. (Siehe dazu Szepanski 2014b: 194f.) Gegenüber dem alten Bankensystem sind nun das Einlegen und das Ausleihen von Krediten entkoppelt, insofern die Investementbanken nicht mehr Ersparnisse einsammeln, um sie als Kredite zu vergeben, sondern Kredite direkt durch den Verkauf von Wertpapieren finanzieren. Die zumiest institutionellen Käufer tragen nun das damit verbundene Risiko, gewinnen aber zugleich über die Mechanismen der Finanzmärkte neue Machtpositionen gegenüber den Banken. Über die Funktionsweisen der Finanzmärkte differenziert sich das finanzielle Kapital aus, was seine Sektoren, Machtbereiche, Instrumente und Technologien betrifft.

3) Die Liberalisierung der Finanzmärkte hat zu einer exzessiven Expansion von ganz bestimmten Großbanken geführt, die in die internationalen Transaktionsketten überdimensional involviert sind, womit sie als systemrelevant nicht nur in Hinsicht der Größenordnung ihrer Transaktionen gelten, sondern auch hinsichtlich der Verbindungen und Knoten, die sie innerhalb der Netzwerke des internationalen finanziellen Systems bilden und herstellen.

4) Die Entwicklung der Over-The-Counter-Märkte (OTC), der diversen Offshore-Zentren, der Special Purpose Vehicles (SPV), der verschiedenen Geld- und Kapitalmärkte mit ihren Instrumenten (bonds, securities, swaps, etc.) oder, anders ausgedrückt, die generelle Entwicklung des finanziellen Regimes als einem Netzwerk von Transaktionen und Geldkapitalströmen samt der Aktivitäten, mit denen bestimmte Organisationen in der Lage sind, Aufsichtsbehörden und Beaufsichtigungen zu umgehen, machen das globale finanzielle System insgesamt wesentlich komplexer und komplizierter. Die Entwicklung von neuen Formen der Finance (Derivate) hat komplexe Modelle der Preisfindung und der Risikobewertung hervorgebracht, die von Strukturen und Parametern abhängig sind, für die bis heute keine verlässlichen Daten vorhanden sind.

Gerade auch in Europa wurde in den letzten Jahren eine Art Ad-hoc-Reservestruktur geschaffen, mit der europaweit geltendes Recht ständig umgangen wird, um direkt in die Haushaltspolitik souveräner Staaten – wie etwa Griechenland – einzugreifen und diverse Rettungspakete zu schnüren, die in ihren Verlaufsformen bis heute zwingend an die Erfordernisse des finanziellen Kapitals und dessen derivative Instrumente gebunden bleiben. (Varoufakis 2012: 239ff.) Vogl spricht hier von einer neuen Verflechtungsintensität und Organisationsdichte zwischen finanzwirtschaftlichen, staatlichen und transstaatlichen Strukturen und Institutionen, und zwar auf systemischer (Koordination von staatlichen Regierungspraxen und Ökonomie), auf technischer (Ausrichtung der Fiskalpolitik am Kapital) und auf personeller Ebene. Er schreibt von der Ko-Evolution zwischen staatlichen Strukturen und privaten Machtmechanismen/wirtschaftlichen Dynamiken, von der Ko-Evolution zwischen Staaten und Finanzmärkten, in der beständig wechselseitige Abhängigkeiten sich verstärken und ein neuer spezifischer Machttypus sich herausbildet. Zwar betont Vogl weitergehend auch die aktuelle Dominanz des Finanzregimes gegenüber den Staaten, allerdings bezieht er diese hauptsächlich auf das Problem der neoliberalen Regierungsrationalität und der Ökonomisierung des Regierens, das sich in der Verkopplung zwischen staatlichen Instititutionen und finanziellem Kapital, »in der effizienten Verknüpfung von Markt und Macht« manifestiere. Vogl schreibt: »Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als ­Gläubiger letzter Instanz platziert.« (Ebd.: 251) Damit wird jedoch die gegenwärtige unilaterale Dominanz des finanziellen Kapitals nicht in Gänze getroffen, da sich diese Art Dominanz eben nicht nur durch die neoliberale Gouvernementalität auszeichnet, sondern durch den immanenten Determinationstypus des Kapitals selbst, und zwar nicht nur gegenüber dem Staat, sondern als die Überlagerung der Geldkapitalströme der verschiedenen Fraktionen des Kapitals unter der Dominanz des finanziellen Kapitals. Dies bedeutet aber keineswegs, dass von einer Verselbständigung oder Abkopplung des finanziellen Kapitals gegenüber dem »Realkapital« gesprochen werden muss, sondern, im Gegenteil, von einer immer stärkeren Verzahnung und Integration der verschiedenen Kapitalformen und -fraktionen sowie des Staates unter der Vorherrschaft des finanziellen Kapitals. Vogl hebt in seinem Buch Souveränitätseffekte hingegen immer wieder hervor, dass es ihm nicht in erster Linie um die Ökonomie, sondern hauptsächlich um die Frage ginge, was heute eine effiziente und kapitalkonforme neoliberale Regierungspolitik bedeuten könne. Vogl bezieht sich hier explizit auf Foucault und dessen Fragestellung, wie man die Bevölkerung, die durch diverse Biopolitiken produziert wird, so regieren kann, wie sie regiert werden will. Es geht Vogl also um die gouvernementale bzw. regierungstechnische Dimension der Finance.

Wenn das finanzielle Kapital mit seinen Verwertungsbedingungen im Vergleich zu den Raten und Kennzahlen industrieller Profite stärker denn je die Bedingungen für das ökonomische Wachstum von nationalen Volkswirtschaften setzt, dann beeinflusst es auch die Höhe des nationalen BIP entscheidend. Das BIP als Gesamtwert aller Güter und Dienstleistungen in einem Jahr wird in Geldgrößen bewertet (der gesamtwirtschaftliche Produktionswert zu konstanten Preisen) und in die Bestandteile Brutto- und Nettowertschöpfung, Nationaleinkommen, Unternehmens- und Vermögenseinkommen geteilt. (Vgl. dazu Krüger 2015: 14) Die verschiedenen transnationalen und staatlichen Wirtschaftspolitiken, die Politik des QE in den USA und Großbritannien und neuerdings auch durch die EZB, die Bankenrettungen und die illiquider Unternehmen durch Staaten, das Aufspannen des Rettungsschirms ESM in der Europäischen Union in Kombination mit dem SMP-Programm – dies alles zeigt allein schon durch die Größenordnung, dass das finanzielle Kapital an Einfluss und Macht gegenüber den Staaten und allen anderen Kapitalfraktionen im globalen Maßstab deutlich hinzugewonnen hat. Man kann in diesem Kontext durchaus auch die neuen Funktionen staatlicher Regierungspolitiken ansprechen, die sich als »Versicherungsschutz« für das private Kapital charakterisieren lassen. Die Politik des QE besteht darin, dass die Notenbanken – allen voran die FED – die Geldmengen enorm ausweiten, indem sie u. a. Wertpapiere wie Staatsanleihen an den Sekundärmärkten in der Größenordnung von Hunderten Milliarden ankaufen, wobei nun keinesfalls sicher ist, dass die Geschäftsbanken diese Art des Swapping überhaupt weitergeben können, weil in der Rezession weder Unternehmen noch private Haushalte Geld leihen wollen, sondern in erster Linie ihre eigenen Schulden abzubauen versuchen. Hier steht die Frage im Vordergrund, ob wir es gerade auch bei den industriell orientierten Unternehmen mit einer strukturellen Investitionsschwäche oder einer Überakkumulation von Kapital zu tun haben, während klar ist, dass die privaten Haushalte ganz offensichtlich aufgrund stagnierender oder teilweise sinkender Reallöhne nicht zu Kreditneuaufnahmen in der Lage sind. Die Politik des QE führt eben nicht automatisch zu höherem wirtschaftlichem Wachstum, vielmehr fungiert sie in Zeiten der Rezession effektiv als monetäres Anreizsystem für das private Spekulationskapital, das riskante Geschäfte tätigen und der Tendenz der Minimierung von Profitraten mit einer Erhöhung von spekulativen Risikoeinsätzen begegnen will.5 Es gilt weiterhin zu konstatieren, dass die phasenweise stark gestiegene Liquidität an den Finanzmärkten (inklusive der ständigen Möglichkeit des kurzfristigen Auftauchens von Liquiditätsproblemen), die Multiplizierung der Derivatinstrumente, das ausgeweitete Risikomanagement und die Geldschöpfung der Geschäftsbanken in der Tendenz jede Geldmengenkontrolle (M1 bis M3) durch die Notenbanken obsolet machen.

Damit muss sich die EZB zwangsläufig an den Preisbewegungen des finanziellen Kapitals orientieren, das nun selbst immer stärkeren Einfluss auch auf die Geld- und Fiskalpolitik gewinnt, oder, um es anders zu sagen: Wenn europäische Notenbanken in Europa emittierte Staatspapiere eben nur an den Sekundärmärkten kaufen können, so bleiben die Mitgliedstaaten der EU und ihre Fiskalpolitik stärker denn je an die Preisbewegungen der Finanzmärkte gebunden, und dies verstärkt wiederum den Schuldenwettbewerb zwischen den Staaten der EU. (Varoufakis 2012: 207f.) Man kann hier einen Strom des Geldes nachzeichnen, der von den Staatshaushalten über die Geschäftsbanken und privaten Spekulanten wieder zurück zu den Notenbanken fließt, sodass die quasi-autonomen Notenbanken die Abhängigkeit der Staatshaushalte von den Finanzmärkten mitzutragen haben. Die Kopplung von Staatsschulden und finanziellem Kapital, für die die Notenbanken bis zum Ende des 20. Jahrhunderts als entscheidendes Scharnier dienten, ermöglicht heute in macht-ökonomischer Hinsicht einen weiteren Drift hin zum finanziellen Kapital. Mit dessen Machtgewinn wird die regulative Rolle der Notenbanken auf jeden Fall fragiler. Vogl spricht von den Notenbanken als Sicherheitsdispositven für Geschäftsbanken, Finanzmärkte und Währungssysteme. (Vogl 2015: 196) Dies zeigt eben nicht nur die Stabilisierungsfunktion der Notenbanken für die Geldkapitalbewegungen an, sondern demonstriert deren Einbindung in jene Bewegungen und damit auch die Abhängigkeit von der monetären Zirkulation des Geldkapitals und der mit ihr in engem Zusammenhang stehenden Entwicklung der Profitraten und der Investitionsquoten privater Unternehmen.

Vogl schreibt von den Notenbanken als »effiziente(n) Konvertern von Regierungsmacht, die ihre Unabhängigkeit von Regierungen in eine zunehmende Abhängigkeit der Regierungen von Finanzmärkten transformieren.« (Ebd.: 198) Gerade die explizite Orientierung der Notenbanken an der Geld- und Preisstabilität6 bindet diese auf Dauer an die Akkumulationsmechanismen des finanziellen Kapitals und fördert dessen spekulative Profitproduktion strukturell (inflationäre Prozesse führen bei Nichtanpassung der Zinssätze zur Schwächung der Gläubiger, zur Umverteilung von Gläubigern zu Schuldnern). Das Liquiditätsmanagement und die Kreditpolitik der Geschäftsbanken sowie das Management der Geldkapitalströme wurden bis Mitte der 1970er Jahre effektiv von den Notenbanken durch ihre Geldmengenpolitik eskortiert. Die Durchsetzung von neuen Formen des spekulativen Geldkapitals, die Expansion der Finanzmärkte und des Schattenbanksystems haben die Verkopplung der Notenbanken mit den Kreditsystemen und generell mit den globalen derivativen Preisbewegungen gelockert. Die Kreditgeldschöpfung der Geschäftsbanken bei gleichzeitigem Rückgang ihrer Kreditvolumen, die verstärkte Liquiditätsbereitstellung durch das Schattenbanksystem und die anwachsende Kreditvergabe durch außerbankliche Institutionen haben die Wirkungsweise und die Mobilität des finanziellen Kapitals erhöht und gleichzeitig Instrumente der Notenbanken wie Leitzinspolitik in ihrer Wirkung geschwächt. Das Finanzregime »reguliert« nun mit Hilfe der großen Volumina der Transaktionen und mit seinem hohen Grad an Vernetzheit zu einem stärkeren Grad die globalen Kreditvergaben, Zinshöhen, Preisbewegungen und Devisen selbst. So wird etwa der Wert der Währungen heute von Zinssätzen bestimmt, die weitgehend über die Finanzmärkte selbst geregelt werden. Die Preisbewegungen der Derivate, Zinssätze und Kreditvolumina an den globalen Finanzmärkten sind also dem Zugriff der Notenbanken teilweise entzogen, wobei diese umgekehrt sich immer stärker auf ihre Offenmarktpolitik und ihre Operationen am Geldmarkt konzentrieren müssen.

1 An dieser Stelle ist an Deleuze/Guattari zu erinnern, die darlegen, dass nicht-staatliche Gesellschaften und solche mit Staatsform nicht einfach Erscheinungen der Tendenzen von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung, sondern Aktualisierungen dieser Tendenzen sind. Die von und in Staaten in Szene gesetzte Diagrammatik ist dann als der interne Einbruch der Deterritorialiserung in die Reterritorialisierung zu denken.

2 Ein Kapitalist hieß bis ins 18.Jahrhundert hinein eine Person, die Anleihen, Investitionsmittel, mobiles Kapital und eben auch Staatsanleihen besaß.

3 Es wurden zwei Institutionen geschaffen: der Steuerstaat, mit dem der Kreislauf Steuerfinanzierung und Schuldendienst hergestellt wurde, und die Zentralbank, die für Rechtssicherheit bei den Gläubigern sorgen sollte. Die Bank von England geht auf den Zusammenschluss von privaten Finanziers zurück, denen zugesichert wurde, für die Bereitstellung öffentlichen Kredits Zinsen beziehungsweise Steuermonopole zu beziehen. Staatsfinanzierung und Schuldendienst wurden entfeudalisiert und zur Sache des Verfassungsstaats. Der nächste Schritt der Konsolidierung vollzog sich mit der Etablierung der Notenbanken im 20. Jahrhundert. Die Federal Reserve Bank in den USA entstand – anders als die Bank von England – nicht mehr aus fiskalpolitischen Interessen, sondern als eine Sicherungsinstanz für die Geldkapitalmärkte selbst. Es ging hier nicht mehr in erster Linie um die Finanzierung von Staaten und Staatsschulden, sondern eher um die generelle Absicherung der Geschäftsbanken, des Finanz- und Kreditsystems.

4 Finanzmärkte sind Geldkapitalsammelstellen und und -tauschstellen, deren wichtigste Elemente institutionelle Anleger wie Versicherungen, Pensionsfonds etc. sind, generell jede Art von Fonds (Hedgefonds) sowie Investmentbanken und Staatsfonds. An diesen Märkten geht es nicht um die Kreditvergabe, sondern um die Spekulation mit verbrieften Unternehmensanleihen, Grundstückfonds, CDO, CDS etc. auf einer transnationalen Ebene. Die in dieses Gefüge integrierte Institutionen der Wissensökonomie, welche die Bewertungen der Player und der Derivate vornehmen, setzen sich aus Ratingagenturen, Beratungsabteilungen der großen Unternehmen und eigenständigen Beratungsunternehmen zusammen.

5 Allerdings handelt es sich bei der Politik des QE, insofern sie den Kauf von Staatsanleihen durch die Notenbank betrifft, nicht um eine Operation des Gelddruckens. Die Geschäftsbanken führen bei der für sie zuständigen Notenbank Reservekonten, auf denen sie ihre Einlagen bzw. Bankreserven halten. Über die Reservekonten werden auch Überweisungen zwischen den Banken abgewickelt. Die Reservekonten erfüllen für die Geschäftsbanken eine ähnliche Funktion wie die Girokonten für private Haushalte oder Unternehmen. Kauft nun eine Notenbank auf dem Sekundärmarkt Staatsanleihen, so schreibt sie den Geschäftsbanken die entsprechenden Geldbeträge auf deren Reservekonten gut. Letztendlich findet ein Anlagentausch (»asset swap«) statt: Staatsanleihen, die sich in den Händen des privaten Kapitals befinden, werden gegen zusätzliche Bankreserven eingetauscht und wechseln so den Eigentümer, sie gehören jetzt der Notenbank. Wenn die Notenbank Wertpapiere aller Arten von Banken erwirbt, dann räumt sie diesen weitere Überziehungskredite ein, die an andere Unternehmen ausgeliehen werden können, aber nicht ausgeliehen werden müssen. Allenfalls handelt es sich beim QE also um einen Versuch, Geld zu schöpfen, der gegenwärtig aber nicht funktioniert.

6Man spricht häufig vommagischen Viereck der Nationalökonomie: Preisstabilität, Beschäftigungsgrad, Wachstumsentwicklung und außenwirtschaftliches Gleichgewicht. Die Konzentration auf die Preisstabilität besitzt eine polit-ökonomische Dimension. Während die meisten westlichen Staaten mit ihrer Geldpolitik in erster Linie die Erhöhung von Beschäftigung und Wachstum anstreben, setzt die in der EU produktivste Nation und daher exportstarke BRD auf Preisstabilität.

Literatur:

Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/M.

(1981): Archäologie des Wissens. Frankfurt/M.

(2004a): Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesungen am Collège de France 1977-1978. Frankfurt/M.

(2004b): Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesungen am Collège de France 1978-1979. Frankfurt/M.

Malik, Suhail (2014): Ontology of Finance. Price, Power and the Arkhéderivative. In: Collapse Vol.VIII: Casino Real. Hrsg. MacKay, Robin. Falmouth.303-480.

Mandel, Ernest (1972): Der Spätkapitalismus. Versuch einer marxistischen Erklärung. Frankfurt/M.

Mirowski, Philip (1986): The Reconstruction of Economic Theory. Berlin.

– (2015): Untote leben länger. Warum der Neoliberalismus nach der Krise noch stärker ist. Berlin.

Poulantzas, Nicos (1978) : Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Sozialistische Demokratie. Hamburg.

Varoufakis , Yanis (2012): Der globale Minotaurus. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft. München.

Varoufakis,Yanis/Halevi, Joseph/Theocarakis, Nicholas (2011): Modern Political Economics: making sense of the post-2008 world. London/NewYork.

Vogl, Joseph (2010): Das Gespenst des Kapitals. Zürich/ Berlin

– (2015): Souveränitätseffekte. Zürich/Berlin.

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