Kunst und Dervivat. Die Performance des Neuen

Vortrag, gehalten an der HBK Saar

Kurze Einführung zum spekulativen Kapital. Wann immer ein professioneller Trader einen Trade beginnt, so versucht er, die involvierten Risiken zu bewerten. Prinzipiell kann man heute drei Strategien des derivativen Handels unterscheiden: Arbitrage, Hedging und Spekulation. Arbitrage intendiert die Realisierung eines möglichst risikolosen Gewinns durch die gleichzeitige Exekution von finanziellen Transaktionen auf mindestens zwei oder gar mehreren Märkten. Beim Hedging benutzt man Derivate, um das Risiko (der Spekulation), das aus der zukünftigen Veränderung von ökonomischen Marktvariablen resultiert, zu minimieren. Spekulation bedeutet, dass Derivatverträge gekauft oder verkauft werden, um Gewinne aus der zukünftigen Operationalisierung der Differenz zwischen den fluktuierenden Preisen des Underlyings und den Preisen des Derivats zu erzielen. Generell sind dem Spekulanten diverse Möglichkeiten anheim gegeben, um mit einem wesentlich höheren Leverage als ein traditioneller Investor zu arbeiten, der das Underlying oder eine Sicherheit zum jeweiligen Marktpreis handelt. Der Spekulant handelt in erster Linie die Preise der Derivate selbst.

Eine Position zu hedgen impliziert, sich gegen zukünftige Verluste abzusichern, man denke an eine Versicherung gegen fallende Preise. Heute kauft und verkauft man Forward-Verträge, Optionen, Swaps und Futures, um einen zukünftigen Preis zu bestimmen und zu realisieren. Optionen sind Derivatverträge, die das Recht beinhalten, Underlyings bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem festgelegten Preis zu kaufen oder zu verkaufen, ohne dass man die Option auszuführen braucht, das Underlying zum vereinbarten Preis und Zeitpunkt auch wirklich zu handeln. Ein geringer Aufwand jetzt kann spätere HOHE Gewinne garantieren. Eine weitere Strategie besteht in der Konstruktion eines Portfolios, das heißt in der Diversifikation und dem Bündeln von multiplen Positionen, deren Risiken sich gegenseitig neutralisieren sollen. Die Venture-Sammler an den Kunstmärkten arbeiten oft auf Grundlage der Portfoliotheorie. Sie kaufen viele Werke von jungen Leuten. Dies hilft die Risiken zu diversifizieren. Weder die Portfoliodiversifikation noch das Hedging, bei dem die Operationen der Deckung dahingehend laufen, dass man den Kauf von Risikopapieren mit dem Kauf gegenläufiger Derivate kompensiert, garantieren jedoch die in den Modellen unterstellte paradoxale Stabilität des Risikos.

Die Kapitalisierung inhäriert den berechneten (diskontierten) gegenwärtigen Wert der in der Zukunft zu erwartenden, risikobereinigten Gewinne einer ökonomischen Einheit. Die Preise von Derivaten basieren auf den Marktkalkulationen zukünftiger monetärer und volatiler Gewinnströme, die aufgrund von Marktzinsraten und den Erwartungen der Marktakteure diskontiert werden. Oder, um es anders zu sagen, sie resultieren aus der Diskontierung der zukünftig erwarteten Gewinne mit dem aktuellen Marktzins und einem von der Qualität des Wertpapiers sowie der konjunkturellen Situation abhängigen Risikoaufschlag oder -abschlag (gewichteter Zins). Spekulation und Messung im ökonomischen Bereich vollziehen sich heute am effektivsten durch das Schreiben und Auspreisen von Derivaten. Die Standardauffassung der Finanzökonomie definiert den Derivatvertrag als ein Asset (Vermögenswert oder spekulatives »Investment«), dessen Wert von etwas anderem, das als Basiswert bezeichnet wird, abhängig ist, wobei mit dem möglichen zukünftigen Wert des Underlyings spekuliert wird. Das Derivat ist also kein Ding, das man wie ein Buch in den Händen hält. Es ist essenziell relational, ja es ist eine Relation von Relationen. Dabei ist es die Aufgabe des Spekulanten, die Volatilität des Derivats in Relation zur Volatilität des Underlyings im Lauf der Zeit einzuschätzen. Bei Derivatvertrag »wetten« also zwei Kontrahenten darauf, was mit der Relation zwischen dem unterliegenden Asset und dem Derivat in der Zukunft passieren wird. In gewisser Weise wird auf die Relation selbst gewettet und ein Tango mit der Zeit gespielt. Das ist aber nur insoweit wahr, als auch die Prinzipien der euklidischen Geometrie nicht immer falsch, aber eben nur manchmal wahr sind. Es wird nämlich auch mit dem zukünftigen Wert des Assets selbst spekuliert, das heißt es gibt einen Bezug des Derivats auf sich selbst, und nicht nur auf das Underlying. Das Entscheidende der Replikation des Derivats ist seine Größe und die Geschwindigkeit der Volatilität. Hier zeitkomplex?

Laut McKenzie Wark fungiert das Kunstwerk heute als ein Derivat seiner Simulation. (Wark 2016) Wir würden eher sagen, es fungiert in seiner Verbreitungsweise und Diskursivierung ähnlich einem Derivat. Um es noch genauer zu sagen, Kunstwerke sind risiko-gesättigte Finanzanlagen, weil die Ökonomie mit ihnen arbeitet, oder, um es noch einmal anders zu sagen, das Kunstwerk fungiert auf dem Kunstmarkt potenziell als eine risikoreiche Finanzanlage, die zur Absicherung gehedgt oder diversifiziert werden muss. Wenn man die Werke eines Künstlers kauft, dann kauft man riskante Positionen. Und wenn man Werke sammelt, dann sollte man das Risiko auch diversifizieren. Das Werk ist dann Teil eines Portfolios, das verschiedene konkrete Arten von Risikoprodukten enthält, mit denen das allgemeine Risiko des Portfolios gemanagt werden soll. Das Portfolio von mehreren Werken ist dann effizient, wenn es bei kleinstem Risiko den höchsten Profit einbringt. Es ist ein Mix, der dem langfristigen Hedge gegen Risiken entspricht, die stets auch verschiedene Arten des Absterbens von simulierten Werten inkludieren – dies kann ein fallengelassener Künstler, das Sterben seines Diskurses, von dem die Arbeit abhängt, oder die Überproduktion durch den Künstler selbst sein.

In der Sprache der Finanzmärkte bedeutet hedging, eine Anlage gegen mögliche künftige Verluste abzusichern. Eine gängige Methode besteht darin, Investments zu streuen. Die Investoren-Sammler von heute diversifizieren also ihr Portfolio, indem sie nicht einen oder wenige Künstler, sondern viele verschiedene Künstler kaufen. Der zweite Weg der Diversifizierung liegt im Erwerb von Garantien auf Zukunft, in Form von Derivaten, Futures, Optionen oder Swaps. Derartige Papiere gibt es für Gegenwartskunst kaum. Man kennt allerdings Strategien und Manöver, die nahezu denselben Zweck erfüllen. Eines besteht darin, die Werke mit historischen, theoretischen oder philosophischen Bezügen aufzuladen. Auch wenn die Verbindung zwischen Kunst und Philosophie nicht dazu gedacht war, für die Aufnahme der Werke in Lager zu werben, hat das philosophische hedging doch, ob gewollt und genau diesen Effekt.

Die Finanzanlage »Kunstwerk« weist heute aber auch gerade durch die Zirkulation und die Ausstellung ihre Authentizität und zugleich ihren simulativen Charakter nach. (Ebd.) Dies kann auch ein Kunstwerk leisten, das ganz auf die Simulation des Künstlers bezogen ist. Und das Kunstwerk kann zum Accessoire der globalen Celebrities mutieren, indem es an die Kunstwelt, die Mode und die Popmusik angeschlossen wird. Manche denken, dass das Kunstwerk eine rare und singuläre Ware sei, aber diese Ware fungiert längst wie ein Derivat, das zwar noch Kontakt mit dem Underlying, das heißt mit seinem eigenen Körper und dem des Künstlers unterhält, wobei das Underlying aber hinter die Simulation eines Multiversums von Bildern, inklusive dem des Künstlers als Popstar, zurückfällt. Warhol entdeckte, wie gerade die Simulation Herkunft erzeugt, und wie das Kunstwerk ähnlich einem Derivat fungieren kann, das in ein Portfolio von simulierten Werten integriert ist.

McKenzie Wark fragt: War vielleicht gerade die Dematerialisierung des Kunstwerks durch den Minimalismus, der das industrielle Modell in der Kunst zum Verschwinden gebracht und dem finanziellen Modell in der Kunst den Weg geebnet hat? (Ebd.) Wenn das Kunstwerk vom Produkt einer handwerklichen Arbeit zum finanziellen Instrument mutiert, dann benötigt es, um auf dem Kunstmarkt bestehen zu können, keine spezifischen Produktionsmittel zu seiner Herstellung mehr; in der Tat konkurrieren Kuratoren heute mit Künstlern um den monetären Einfluss wie die DJs es im Feld des Audios mit den Produzenten tun. Kuratoren und DJs sind eine Art Portfoliomanager des »Qualitativen«. Der nächste Schritt nach der Dematerialisierung des Kunstwerks mag die des Künstlers selbst sein, dessen Platz von algorithmischen Funktionen eingenommen werden könnte. Kommentatoren, Meinungsmacher und Wissenschaftsbetrieb unterstützen aktiv die ganze Bandbreite der Simulationen, die das Kunstwerk als Derivat seiner verschieden Arten von Zeichenwerten verankern.

In diesem Kontext werden jedoch Kopie und Original nicht ununterscheidbar. Aber ihre Beziehung wird zumindest reversibel, ja die Kopie kann dem Original sogar vorausgehen. Man sieht oder hört eine Reproduktion und will danach gerade deshalb das Ding sehen oder das Stück hören, von dem die Kopie gezogen wurde. Di doch e Kopie hat nun die Herkunft des Originals kreiert, nicht umgekehrt. Die Kopie kann dem Original nicht nur vorausgehen, sie kann es auch authentifizieren. Hier gilt es das Verhältnis zwischen Kunst als Rarität und der ubiquitären Information zu bedenken. Diese Ubiquität kann eine Art verteilter Herkunft sein, von der das Kunstwerk selbst das Abgeleitete ist. (Ebd.)

Kunstwerke sind heute also auf jeden Fall im monetären Sinn riskante Anlagen, und seit Black-Scholes lassen sich die Risiken im Finanzbereich repräsentieren, indem man sie auspreist. Somit können auch die Risiken der zeitgenössischen Kunst bis zu einem gewissen Maß gemanagt werden. Die Spekulation auf Kunst und Künstler bezieht sich heute weniger auf individuelle Urteile als auf die Benchmark, die in der Konkurrenz eines Sammlers mit anderen Sammlern gesetzt wird. Kunst mutiert damit zum Sub-Gebiet der modernen Portfoliotheorie, des Risikomanagements und der Strategien der Diversifikation. Theorie, Philosophie und Kritik zählen dann oft nur noch am Rand. (Vgl. Heidenreich 2016) Seit Museen sich nicht mehr vorrangig dem Erhalt ihrer eigenen Sammlungen widmen, sondern sich bemühen, möglichst „gegenwärtig“ oder „contemporary“ zu werden und wechselnde Ausstellungen zu kuratieren, verlieren sie die Macht, eine längere historische Dauerhaftigkeit der Kunstwerke zu verbürgen. Kunst muss sich deshalb nach anderen Garanten von Dauerhaftigkeit umsehen. Hier liegt dann noch die Funktion der Philosophie. Autoritäten aus der 2.500-jährigen Geschichte des Denkens aufzurufen erhöht das historische Gewicht eines Texts. Indem sich Kunstwerke mit dieser Geschichte des Denkens umgeben, färbt etwas davon auf sie ab. Ein Werk, das sich auf Hunderte von Jahren beruft, kann kaum in fünf Jahren nichts mehr wert sein, das ist die Hoffnung des Sammlers.

Wenn dem Risiko eine Bewirtschaftung der Zukunft inhäriert, dann bedarf es, um die Kapazität des Risikos auszupreisen, einer Machttechnologie wie die der Derivate (sie sind zudem spekulatives Kapital). An den Finanzmärkten findet die Kapitalisierung – die Diskontierung zukünftig zu erwartender Gewinnströme und der entsprechende Handel mit finanziellen Assets – als Prozess der kontinuierlichen Bewertung der Risiken qua Derivate statt. Da jeder zukünftige Renditestrom von Derivaten kontingent ist, kann ohne die Kalkulation, die darauf ausgerichtet ist, das Risiko hinsichtlich einer zukünftigen Generierung von Renditen zu bewerten, keine Kapitalisierung stattfinden. Kapitalisierung erfordert also einen bestimmten Modus der Identifizierung, der Kalkulation und der Bewertung von ökonomischen Ereignissen, die zuerst einmal klassifiziert und dann als Risiko-Ereignisse objektiviert werden müssen, um ihre zukünftige Profitabilität prognostizieren zu können.

Selbst wenn es noch keine Derivate auf Kunstwerke gibt, so wird ihr (simulierter) Wert doch in ähnlicher Art und Weise gemessen. Jedes Kunstwerk funktioniert ähnlich einem Derivat als kalkulierte Erwartung auf den zukünftigen Output des Künstlers und die darin enthaltenen Geldströme; Künstler werden gemäß ihrer impliziten Volatilität ausgepreist und sie verlieren mit dem Alter oft Wert. Kein Investor schaut auf den inneren Wert des Kunstwerks bzw. des Kunst-Assets, was immer dieser Wert auch sein mag, sondern er bezieht sich auf die Wahrscheinlichkeit, dass ein mit Rendite gesättigter Preis durch den Handel von Kunstwerken in der Zukunft realisiert wird. Finanzielle Potenz bedeutet Forderungen auf zukünftige Zahlungen zu besitzen. Liquidität spielt hier eine Rolle, die nicht in Beträgen, sondern in Strömen gemessen wird. (Ebd.) Kunstwerke sind reale Assets (Vermögenswerte), die zirkulieren, und ihr Preis steigt oder fällt in Relation zum Preis von anderen Assets wie Häusern oder Land. Ausgestellt, hier und dorthin verschifft, von Leuten konsumiert – all das ist Teil ihres Risikomanagements. Dabei wird die Differenz, zwischen dem Kunstwerk, das als Teil der Assetindustrie bewertet wird, und dem, das die handwerkliche Arbeit in der Kunst repräsentiert, permanent beobachtet.

Zur Musik. Es gibt eine Techno-Euphorie, die vom Glauben an die befreiende Macht der Technik angetrieben wird. Die Medienkunst war ein Versuch, einen technophilen Modernismus zu kreieren, der ohne technophobische Grenzen auskommt. Der unbeirrte Glaube der Medienkunst an die Technologie wurde jedoch vom Kunstmarkt absorbiert, dem es schnell gelang, selbst noch die Installationen auszupreisen. Die Aufbewahrungsorte der Kunst arbeiten heute gemäß den Marktgesetzen und sind deren Fluktuationen unterworfen. Dass manche Künstler sich der mechanischen Reproduktion nach wie vor widersetzen, macht die Techno-Phobie die singulären Kunstwerke als Finanzanlagen attraktiv, und die Massenmedien unterstützen dies, indem sie dem Authentischen einen Wert zusprechen, obgleich das Verhältnis von Kopie und Original längst reversibel geworden ist. Die Beziehung zwischen Modernismus und den originellen Repräsentationen des Massenmarktes ist die einer reziproken Stabilisierung, weniger die einer Identität oder eines Antagonismus. (Ebd.)

Der Markt für Kunst macht etwa fünf Prozent des Markts für Luxusgüter aus, dessen Umsätze bei einer Billion Dollar jährlich liegen. Gegenwartskunst nimmt davon etwa 13 Prozent ein. Es handelt sich um ein kleines, aber risikoreiches Marktsegment. Wer Kunst als Investition betrachtet, legt seine Sammlung nach den Regeln des Portfolio-Managements an. Positionen werden breit gestreut, Risiken gründlich bewertet. Interpretation, Kennerschaft, Geschmack oder Kritik haben in dieser Welt nichts mehr verloren. Sie gehören zu einer anderen Zeit. Kunst zu transportieren und öffentlich zu zeigen ist riskant. Versicherungskosten sind hoch, Einnahmen gering. Besser also, das Werk bleibt in der Kiste.

Derivate wie die oben genannten gibt es zwar für Kunstwerke oder Musik nicht, aber es gibt zumindest materiell-diskursive Konstruktionen, die in diese Richtung zielen. In der Techno-Musik werden diese Prozesse auf einem monetär meist niedrigen Level durch die praktisch gelebte Ideologie der Kreativität vorangetrieben. In einer Zeit, in der tendenziell alle Aspekte des Lebens quantifiziert, gemessen und spekulativ gehandelt werden, erlangt der nebulöse Term »Kreativität« eine überragende Aktualität; er ist Teil einer neuen diskursive Formation der Finanzialisierung. Die technoide Musikproduktion scheint ganz auf Innovation ausgerichtet zu sein, womit von den Akteuren dieser »Kreativwirtschaft« ständig Kreativität, die den Willen zum Wandel impliziert, eingefordert wird. Der Absatz der Musik-Waren soll gerade durch die kreative Erzeugung von Differenz im Wettbewerb gewährleistet werden, aber gerade der über den Wettbewerb sich durchsetzende ökonomische Zwang zur profitablen Produktion führt durch die Differenz hindurch zur Reproduktion bestimmter Mechanismen der Standardisierung (die standardisierten Muster der Techno-Tracks; Raves, Clubs und Galerien, die Kodwo Eshun als das Nervensystem des Techno bezeichnet, müssen bestimmte räumliche, zeitliche und ästhetische Kriterien erfüllen, um zu funktionieren), die den organisierten Trend, der das Neue als Markenzeichen setzt, konterkarieren, um wiederum die Kreativität als dominanten Trend anzuschieben. Adorno sähe hier das Identifikationsprinzip im Spiel, das Lebensformen, Produktionsformen, Moden und Dinge aufgrund der anhaltenden seriellen industriellen Produktion der Konvergenz unterstellt. (Vgl. Adorno 1966) Gerade die fortwährende Austauschbarkeit, Kommensurabilität und Quantifizierung von Waren (in Relation zum Geld), denen zudem das Parergon der Kreativität zugeschrieben wird, setzt die Immergleichheit des Zirkulationsprozesses fort, der selbst ein Resultat der Kapitalreproduktion ist. Adorno beachtet aber noch zu wenig, wie Konvergenz gerade durch Divergenz hergestellt wird. Hingegen ist Adorno darin wieder zuzustimmen, dass eine derart gelingende Integration den Antagonismus letztlich nicht eliminieren kann.

Die Finanzialisierung setzt einen Trieb, ja ein spekulatives Ethos für das »Neue« in Gang, einen Appetit für die Performance des »Neuen«. Um ihre Qualität für Investoren zu demonstrieren, müssen Künstler und Unternehmen heute nicht nur zukünftige Profitabilität versprechen, sondern auch die zukünftigen Innovationen beglaubigen, i. e. das konstante Revolutionieren ihrer Produktionsmittel, der Outputs, der Distribution und des Verkaufs; es entsteht eine Ökonomie, die geradezu pathologisch von der Performance des Kreativen getrieben wird. Das Konzept der Kreativität funktioniert hier ähnlich einem Asset, das als ein Instrument der Macht fungiert, welches über die Bewertung und den Vergleich der Outputs der Akteure diese permanent dazu auffordert, noch etwas kreativer zu sein als bisher, womit im Endeffekt keiner mehr kreativ genug ist. Kreativität operiert hier als ein flottierendes Signifikat, dessen Signifikanten sich endlos fortwälzen und reproduzieren, um das Signifikat zu beglaubigen. Dabei wird im Kunstbetrieb das einzelne Werk nicht nur in Bezug auf das Neue und die Kreativität, sondern immer auch in seinem Verhältnis zu anderen Werken bewertet, insbesondere auch zu anderen Werken, von denen es abstammen könnte und somit besitzt es selbst einen derivativen Status (der allerdings von dem des Derivats zu unterscheiden ist, da dieses gerade heute eine determinierende Kraft gewinnt und die sog. Realökonomie zum Abgeleiteten degradiert. In der Verwischung dieser beiden Bedeutungen scheint auch das Problem der Analyse von McKenzie Wark zu liegen). Für die Künstler wird damit die Bearbeitung der Unterscheidung zwischen kreativ und derivativ prekär, insofern andere Künstler, die Konsumenten und die Kommentatoren permanent als produktive Testinstanzen fungieren, die die Bewertung und Unterscheidung von kreativ und derivativ vornehmen, um andauernd neue Rankinglisten zu fabrizieren. Der Wert eines Assets hängt nun von dem eines anderen Assets ab. Warhol und später die digitalen Industrien haben die Unterscheidung zwischen kreativ und derivativ immer weiter verwischt, obgleich sie nach wie vor existiert. Jeff Koons und Damien Hirst haben den Kitsch, postindustrielle Techniken und das Leverage der Finance in ihre Arbeiten integriert. Sie handeln mit ihren Kunstwerken zwar keine Derivate, zumindest folgen sie aber deren Logik. Derivate sind extrem flexible und in-exakte Instrumente, um Risiken zu schneidern und zu bewerten, und sie sind selbst Waren oder Kapital; es geht darum, das Risiko zu managen und selbst kleine Investments (wie man sie eher im Techno vorfindet) zu hebeln, eine Logik der präventiven Zukunft zu entwickeln, um die zukünftige Unsicherheit in heutige Risikoinstrumente und Waren zu verwandeln, die man profitabel einsetzt, ohne dass die Unsicherheit eliminiert werden kann.

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Pierre Klossowski hat in seinem Buch Die lebende Münze die industrielle Produktion als das Prinzip einer Produktion-bis-um-äußersten, die einen Konsum-bis-um-äußersten erfordert, bezeichnet, nämlich die Produkte auf kurzfristigen Verschleiß hin und in Serie zu produzieren, um folgerichtig den Konsumenten, der diese Kurzfristigkeit aufgreifen muss, daran zu gewöhnen, die Idee eines haltbaren Gegenstandes ganz zu verlieren. Die Zerstörung der Haltbarkeit durch die maschinelle Innovation, mittels derer nicht nur die Maschinen, sondern die Konsumprodukte immer schneller durch andere abgelöst werden, ist also schon Teil der industriellen und seriellen Massenproduktion des Fordismus. Diese verstärkt die Flüchtigkeit des Objekts und soll potenziell jeden Gedanken an die Haltbarkeit der Objekte eliminieren, womit diese in ihrer Waren-Endlichkeit zu Quasi-Objekten mutieren, das heißt, sie sind kalkulierbar und quantifizierbar und kurzfristig austauschbar geworden und sind damit als Objekte nichtig. Die Objekte mutieren zu Nicht-Dingen. Sie sind nichts, oder, anders gesagt, jedes Objekt ist nun potenziell Müll, ja das Objekt ist Müll. (Nur der Preis hält das Objekt noch am Leben).

Für Klossowski ist damit, so muss man einfach folgern, der Müll keine unvermeidliche Nebenwirkung der industriellen Produktion, sondern ihr Hauptzweck, insofern die fabrizierten Industriewaren dem Wachstumszwang des Kapitals unterliegen, was ihre schnelle Untauglichkeit und Unbrauchbarkeit, ihren umgehenden Konsum und ihre Entsorgung unbedingt einfordert, sodass man eben zu dem weiteren Schluss kommen muss, dass der wirkliche Zweck der Waren nämlich nur darin besteht, Müll zu sein. Wenn das Marketing heute jedes Produkt mit dem Attribut neu versieht, ja als brandneu oder als eine noch nie dagewesene Sensation propagiert, dann fällt im optimalen Fall der Augenblick des Erscheinens des Produkts mit seinem Verschwinden zusammen, zumindest ist das Produkt einem schnellen Zerfallsprozess ausgesetzt, weil es – in Serie hergestellt – nur die Vorstufe eines noch neueren Produkts sein kann. Das Produkt trägt damit per se den Makel oder den Mangel des Überholten und Defizitären bereits in sich, seine Halbwertszeit tendiert gegen Null. Und Müll ist demnach nicht nur das, was auf den Mülldeponien der Welt vergammelt, sondern konsequenterweise auch das riesige Warenangebot in den Regalen der Supermärkte und in den Online-Shops von Amazon – Warenmüll ist das kommende Abjekt, das als solches gar nicht wahrgenommen wird. »Abfall ist das finstere, schändliche Geheimnis jeglicher Produktion. Es soll vorzugsweise ein Geheimnis bleiben.« (Zygmunt Bauman, 2005. 42)

Um heute die Effekte, die Potenziale und die Gefahren der digitalen Angebote (Meme) nachzuvollziehen, muss man die gefährliche Macht der Quasi-Objekte verstehen, die einzig und allein da sind, um mit steigender Geschwindigkeit zu zirkulieren und dann schnell zu verschwinden. Es geht hier um die rigorose Transsubstantiation des Seins in den Prozess und die Relation. Damit drohen selbst noch die alltäglichsten Dinge ob ihrer Kurzfristigkeit dem schnellen Verfall ausgesetzt zu sein, obgleich man weiterhin in den schlechtesten Gewohnheiten gefangen bleibt, weil man keine Zeit für Entscheidungen findet, wenn man dem Allerneuesten hinter her hechelt. In diesem sich beschleunigenden Kontinuum der Vermüllung durch die Zirkulation der Quasi-Objekte sollen die Phasen der Unterscheidungsfindung, der Unterbrechung und des Nachdenkens immer weiter reduziert werden, was einer zunehmenden Kontrolle und Vereinnahmung der gelebten Zeit entspricht. Horizontale Kommunikation und vertikale Kontrolle. Waren, die zwar produziert wurden und zirkulieren, aber nie konsumiert werden, nehmen zu. In den reichen Ländern wird heute ein Viertel der genießbaren Lebensmittel weggeworfen – nicht der der Rest des Produkts ist dann Müll, sondern die Ware selbst.

Fordert uns an dieser Stelle gerade die Sharing Economy nicht zum umdenken, werden viel fragen. Aber vielleicht sieht es auch hier ganz anders aus, denn mit der Sharing Economy gelingt es den Subalternen noch, beispielsweise aus einem Gästezimmer oder einem unbenutzten Raum in der Wohnung eine Einkommensquelle zu machen. Möglichst alles, selbst noch der recycelbare Müll, soll fortan als Einkommensquelle dienen, und dies bezieht sich sogar auf das, was bisher noch gar nicht produziert worden ist. Und oft genug zeigt sich gerade darin der nekrophile Zug des Kapitals und seiner Kulturindustrie: Erst wenn eine Sache längst tot ist, kommt sie so richtig in Mode und wird dann als eine zukunftsweisende zeitgenössische Singularität verkauft, womit sich anzeigt, dass die Retro-Industrie gerade in einem Zeitalter, das auf die Vermarktung der Waren mit Blick auf die Zukunft setzt, im kulturellen Bereich längst zum Standard geworden ist. Dabei wird auf der Suche nach dem Originellen und Einzigartigen der Unterschied zwischen Historischem und Zeitgenössischem permanent verwischt, sodass am Ende lediglich die schreckliche und geschmacklose Rekombination der Waren, Zeichen und Stile übrig bleibt. Wenn in diesem Sinne jede Ware Retro ist, ist nichts mehr Retro und die Zeit wird weiß. Und so poliert man selbst noch gewöhnliche Industrieprodukte wie Jeans mit schier nach Lebendigkeit ringenden Gebrauchsspuren, die das historisch Heroische der Arbeit ausstellen sollen, und irgendwelchen sonstigen historischen Details auf, und noch der industriell hergestellte Kuchen schmeckt angeblich wie der Kuchen zu Omas Zeiten. Die Zirkulation der hybriden Waren läuft heute insofern immer wieder auf dasselbe hinaus, insofern die ihnen hinzugefügte Erzählung, die von ihrer Authentizität oder Singularität labert, gerade das verschleiert, was die Waren in Wahrheit meistens sind, nämlich seriell gefertigte Wegwerfprodukte, gerade einmal dazu da, nach dem Kauf sofort wieder auf Ebay weiterverkauft oder gleich in den Müll geworfen zu werden. Es kann sich dabei durchaus auch um einzeln hergestellte Objekte und Accesoires handeln, die, werden sie mit einem fiktiven Wert versehen und beispielsweise in der Wohnung gesammelt, den Hauch des Atmosphärischen schaffen, eine leichte Wolke, die vorbeizieht und wieder im Nichts verschwindet.

Das 24/7-Modell eines panisch gewordenen Konsums im Sog einer »Verschwendung« von Waren, die hauptsächlich nur in ihrem Design ständig variiert werden, ohne dass es zur wirklichen Neuheit kommt, ein Modell, das zudem auch die individuelle Verausgabung rein zum Zwecke der Selbststeigerung (des Gleichen) setzt, ist die Karikatur einer Überschreitung und jener Verschwendung, die Bataille noch als ein allgemeines ökonomisches Modell gegen das (re)produktive Recycling-Kapital propagiert hat. Die Überraschung liegt nicht darin, dass die Ungewissheit, was als nächstes kommt, bei dieser Art der Warenproduktion präsent bleibt sondern, dass kaum einer erkennt, dass es sich letzten Endes um die aufdringliche Wiederholung des Gleichen mittels der minimalen Differenzierung handelt, sodass von Ausnahmen abgesehen, es immer wieder auch dieselben Unternehmen und Ketten sind, die einen großen Teil der zahlungsfähigen Nachfrage auf sich ziehen. Der Verlust der Haltbarkeit führt heute dazu, dass in der Tendenz auch die symbolischen und kulturellen Distinktionsmerkmale, die die Luxuswaren von den Billigwaren unterscheiden, verfallen. Daran ändert auch die für das Kapital heute konstitutive Spekulation, wie wir das an verschiedenen Stellen schon vorgeführt haben, nichts, sie findet verstärkt auf den Kunstmärkten statt, aber auch dort nicht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Kulturalisierung der Kunstobjekte, sondern ihrer eineindeutigen Monetarisierung, wobei auch die Sichtbarkeit auf der Strecke bleibt, wenn Milliardäre ihre gekauften Kunstobjekte dem Publikum gerade nicht zur Ansicht anbieten, sondern mit schwer geschützten Bunkern die Ansicht verwehren.

Es sind gerade die digitalen Geräte, die heute den Platz als ständige Begleiter des Menschen einnehmen, sie verlangen im Sinne des Überwachungskapitals geradezu begierig nach der permanenten Mensch-Maschinen-Kommunikation und sie sind deshalb wie etwa das Smartphone am besten direkt am Körper anzubringen oder als digitale Brillen vor die Augen zu kleben. So fordern die Geräte unentwegt danach auf bedient zu werden, und deswegen müssen sie eine Vielzahl von Optionen und Bedienungsmöglichkeiten bereitstellen, die das andauernde Navigieren im digitalen Space erforderlich, ja attraktiv und zugleich im positiven Sinne nervenaufreibend und unruhig machen. Allerdings führt diese Art der unruhigen Optionalität nicht zur Freiheit des Konsumenten, sondern zu dessen ständigen Versuchen, die Anpassungen und Adaptionen an die funktionalen Erfordernisse und Bedienungsanleitungen der technischen Geräte, die eine Diversifizierung der Abläufe anbieten, geradezu mit Furor zu leisten, was die Konsumenten zudem noch aktiv mit ihren Comments im Internet befördern, ohne aber im Geringsten zu spüren, dass sie selbst eine Anwendung des 24/7-Taktes und seiner Kontrollsysteme bleiben. So gesehen verlangt der Gebrauchswert der digitalen Geräte die modulare und effiziente Bedienung, die Navigation ihrer Funktionen und Zustände, die ja permanent weiter moduliert werden – der Konsument ist damit selbst so etwas wie die lebendig gewordene Bedienung. Es werden aber nicht nur ständig alte Produkte durch neue ersetzt, sondern der Konsum der neuen Produkte fordert die andauernde Beschäftigung mit ihnen geradezu heraus. Und im Konsum treten das Bedürfnis nach dem Besitz des Produkts und die Affirmation seiner Ersetzbarkeit ständig miteinander in Konflikt, und doch gilt es, die digitalen Anreize schnell zu erkennen, um sich in die Kette beständig heißer vorgegebener Verheißungen einzuklinken, die zumindest eine verbesserte Funktionalität in der Anwendung des Produkts versprechen, auch wenn sich letztendlich für den Nutzer beim Gebrauch der Geräte kein Nutzen einzustellen vermag. Das verlangt einen Konsumenten, dem die durchaus variable Konformität wie ein nach Maß geschneiderter Anzug passt, und der den Verhaltensvorhersagen von künstlichen Maschinen folgt, welche möglichst ein Verhalten des Konsumenten antizipieren, das zuverlässig zu den »gewünschten kommerziellen Ergebnissen führt« (Zuboff 2018: 235). Der Konsument ist damit definitiv die Ratte in der Skinner-Box, indem er einer Konsum-Konditionierung unterworfen wird, die nicht nur mit den Zyklen der technischen Produkte identisch sein, sondern vor allem Profite für das Überwachungskapital generieren soll. Dabei will man die Zeit der Entscheidungen der Konsumenten, wenn sie die digitalen Geräte bedienen, nicht nur verkürzen, sondern am besten gleich ganz automatisieren, sodass vergessen werden kann, dass jede eingeführte Neuheit Teil der nackten Wiederholung des 24/7-Taktes ist. Der Dauermodus des Als-ob, den beispielsweise das Smartphone bereitstellt, lässt die Verstandesfunktion mit ihrer regulativen Kapazität auf ein fatales Residuum implodieren und klebt sie als notwendiges Detail an die Daten-, die Bild- und Informationszirkulation der Geräte. Adorno hatte diesbezüglich schon eine böse Vorahnung: »Ausgegangen wird von der Gedächtnisschwäche der Konsumenten: keinem wird zugetraut, daß er sich an etwas erinnere, auf etwas anderes konzentriere, als was ihm im Augenblick geboten wird. Er wird auf die abstrakte Gegenwart reduziert. Je bornierter aber der Augenblick für sich selber einzustehen hat, um so weniger darf er mit Unglück geladen sein.« Nichts anderes bedeutet das Ende der Geschichte auf der Ebene des Subjekts.

Für die schamlos unzufriedenen und zugleich infantil-grotesk Genießenden erscheinen die digitalen Geräte inklusive ihrer Gadgets und Apps den auf Kurzfristigkeit angelegten Takt vorzugeben, handelt es sich doch um kurz-terminierte Wegwerfprodukte, die dem ständigen Austausch unterliegen, man denke an die heutige Hyper-Präsenz touchscreen-gesteuerter Geräte, die man aber wahrscheinlich bald durch Rechner, welche auf ein Winken, Blinzeln oder Räuspern reagieren, ersetzen wird, um den Nonstop-Betrieb des Konsums auf beschleunigte Weise fortzusetzen. Die Intelligenzmaschinen des Überwachungskapitals passen die unzähligen Apps (über 300 für Googles Android-Plattform) über das Wetter, Dating, Musik, Gesundheit etc. ständig an und infizieren sie zudem noch mit einer großen Anzahl von Trackern, um persönliche Daten zu extrahieren, algorithmisierte Profile zu erstellen und Geld mit zielgerichteter Werbung zu verdienen.

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